Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 12. August 2002
Aktenzeichen: 1 BvR 399/02

(BVerfG: Beschluss v. 12.08.2002, Az.: 1 BvR 399/02)

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Urteil des Bundesgerichtshofs, durch welches der Beschwerdeführer dem Grunde nach wegen Anwaltsverschuldens zum Schadensersatz verurteilt wurde.

1. Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, vertrat in einem Ehescheidungsverfahren den Kläger des Ausgangsverfahrens. Im Verhandlungstermin wurde in den - im Übrigen vorformulierten - Vergleichstext noch folgende Regelung aufgenommen:

"Im Falle einer wesentlichen Veränderung der derzeitigen Einkommensverhältnisse, insbesondere auch bei einem Wechsel der Steuerklasse des Ehemannes, soll eine Abänderung dieses Vergleichs möglich sein, wobei die Abänderung unabhängig von diesem Vergleich nach der dann gegebenen Sach- und Rechtslage erfolgen soll."

Trotz erfolgten Steuerklassenwechsels erreichte der Beschwerdeführer für den Kläger mit der Abänderungsklage nichts. Auch waren mehrere Anträge auf Einstellung der Zwangsvollstreckung erfolglos, da das Amtsgericht im Hinblick auf § 323 ZPO eine wesentliche Änderung für erforderlich, aber nicht dargelegt hielt. Die Abänderungsklage wurde vom Amtsgericht ebenfalls mit dieser Begründung abgewiesen. Das Urteil wurde rechtskräftig. Der Beschwerdeführer wies den Kläger zwar auf die Möglichkeit der Berufung hin, führte zu deren Erfolgsaussichten aber nichts aus.

2. Im Ausgangsverfahren nahm der Kläger den Beschwerdeführer mit der Behauptung, dieser habe einen unklaren gerichtlichen Vergleich abgeschlossen und ihn in dem späteren Abänderungsprozess unzulänglich beraten, auf Ersatz des entstandenen und künftigen Schadens in Form überhöhter Unterhaltsverpflichtungen in Anspruch.

Das Landgericht gab der Klage dem Grunde nach statt. Es wurde durch das angegriffene Urteil in der Revisionsinstanz bestätigt. Zur Begründung führte der Bundesgerichtshof aus, dass der Beschwerdeführer seine anwaltlichen Pflichten sowohl im Zusammenhang mit der Protokollierung des Unterhaltsvergleichs als auch im späteren Abänderungsprozess verletzt habe. Er sei für die unklare Formulierung des Vergleichs verantwortlich. Denn zwischen den Eheleuten habe Einigkeit bestanden, dass der bevorstehende Wechsel der Steuerklasse beim Kläger unabhängig von dem Ausmaß der dadurch bewirkten Minderung des Nettoeinkommens zu einer Neuberechnung der Unterhaltsleistungen hätte führen sollen. Das komme im Vergleich nicht deutlich genug zum Ausdruck. Allerdings habe das Familiengericht rechtsfehlerhaft die Zeugen nicht vernommen, die zum Beweis des von den Ehegatten wirklich Gewollten, also zur Behebung der Unklarheiten, benannt worden seien. Indessen habe es der Beschwerdeführer auch versäumt, das Gericht darauf hinzuweisen, dass nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung § 323 Abs. 1 bis 3 ZPO auf Prozessvergleiche nicht anwendbar sei. Mit einem solchen Hinweis hätte der Beschwerdeführer den Schadenseintritt ebenfalls vermeiden können. Ferner sei er verpflichtet gewesen, den Kläger auch über die Erfolgsaussichten einer Berufung zu belehren. Die Pflichtverletzungen des Beschwerdeführers seien für den Eintritt des Schadens ursächlich geworden. Bei unmissverständlicher Formulierung des Prozessvergleichs und dem Hinweis gegenüber dem Familiengericht auf die Unanwendbarkeit von § 323 Abs. 1 bis 3 ZPO hätte der Abänderungsklage stattgegeben werden müssen. Soweit es um die unterlassene Beratung über die Erfolgsaussichten einer Berufung gehe, sei nach dem Grundsatz des beratungsgemäßen Verhaltens davon auszugehen, dass der Kläger sich zur Rechtsmitteleinlegung entschlossen hätte.

3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem die Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 2 und 3 GG. Es sei willkürlich, ihm Fehler anzulasten, die allein vom Gericht zu vertreten seien. Der Bundesgerichtshof verschärfe die Anwaltshaftung und verlasse damit den Boden des Gesetzes. Von einem Rechtsanwalt könne nicht verlangt werden, dass er mehr Rechtskenntnisse besitze als der den Rechtsstreit entscheidende Richter. Auch sei er nicht verpflichtet gewesen, seinen Mandanten umfassend über die Aussichten eines Rechtsmittels zu beraten.

II.

Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde (§ 93 a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor.

1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG).

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass die anwaltliche Berufsausübung durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnet ist, der einer staatlichen Kontrolle und Bevormundung grundsätzlich entgegensteht (vgl. BVerfGE 50, 16 <29>; 76, 171 <188>). Ferner sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung geklärt und ist entschieden, inwieweit Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts durch die Fachgerichte verfassungsrechtlich überprüft werden können (vgl. BVerfGE 85, 248 <257 f.>; 96, 375 <394>).

2. Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

a) Der Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 GG ist berührt, da das angegriffene Urteil dem Beschwerdeführer die Verletzung spezifischer beruflicher Verpflichtungen vorwirft, deren Umfang die Verfassungsbeschwerde mit verfassungsrechtlichen Argumenten bestreitet.

b) Gemessen an den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen zur Überprüfbarkeit fachgerichtlicher Entscheidungen (vgl. BVerfGE 85, 248 <257 f.>) verstößt das angegriffene Urteil weder gegen das Willkürverbot noch enthält es Auslegungsfehler, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Berufsausübungsfreiheit, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, beruhen. Es überschreitet auch nicht die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung.

aa) Verfassungsrechtlich bedenklich ist ist allerdings die Auffassung des Bundesgerichtshofs, dass rechtsfehlerhaftes Unterlassen eines Gerichts, das die Folgen eines anwaltlichen Fehlers perpetuiert, obwohl ihr Eintritt durch prozessordnungsgemäße Beweisaufnahme hätte verhindert werden können, haftungsrechtlich unbeachtlich ist. Vorliegend hätte sich dem Bundesgerichtshof die Frage aufdrängen müssen, ob in die Berufsausübungsfreiheit eines Rechtsanwalts eingegriffen wird, wenn er für eine missverständliche Formulierung haftbar gemacht wird, obwohl sie bei fehlerfreiem Verhalten des Gerichts nicht zum Schadenseintritt geführt hätte. Auch wenn eine Amtshaftung wegen des Richterprivilegs regelmäßig ausscheidet, legitimiert dies nicht die Haftungsverschiebung zu Lasten der Rechtsanwälte, ohne in Rechnung zu stellen, dass hierbei deren Grundrechte berührt werden. Auch als "Organe der Rechtspflege" (§ 1 BRAO) haften die Rechtsanwälte nicht ersatzweise für Fehler der Rechtsprechung, nur weil sie haftpflichtversichert (§ 51 BRAO) sind.

Das Gleiche gilt, soweit der Bundesgerichtshof dem Beschwerdeführer anlastet, es pflichtwidrig unterlassen zu haben, das Gericht auf dessen falsche Rechtsauffassung im Zusammenhang mit § 323 ZPO hinzuweisen. Auch in diesem Zusammenhang wird die Haftung zu Lasten des Rechtsanwalts verschoben, ohne den Grundrechtsbezug zu thematisieren. Rechtskenntnis und -anwendung sind vornehmlich Aufgabe der Gerichte. Fehler der Richter sind - soweit möglich - im Instanzenzug zu korrigieren. Soweit dies aus Gründen des Prozessrechts ausscheidet, greift grundsätzlich nicht im Sinne eines Auffangtatbestandes die Anwaltshaftung ein. Kein Rechtsanwalt könnte einem Mandanten mehr zur Anrufung der Gerichte raten, wenn er deren Fehler zu verantworten hätte. Nach der Zivilprozessordnung treffen die Gerichte Hinweis- und Belehrungspflichten. Die Parteien und ihre Anwälte vor dem erstinstanzlichen Familiengericht tragen im Wesentlichen Verantwortung hinsichtlich des unterbreiteten Sachverhalts und der Antragstellung oder - wie hier - bei der Formulierung von Vergleichsverträgen. Die Gerichte sind verfassungsrechtlich nicht legitimiert, den Rechtsanwälten auf dem Umweg über den Haftungsprozess auch die Verantwortung für die richtige Rechtsanwendung zu überbürden.

bb) Trotz dieser Bedenken ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die weitere Begründung des Bundesgerichtshofs, der Beschwerdeführer habe es pflichtwidrig unterlassen, den Kläger über die Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels zu belehren, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Zwar gehört die Beratung über die Erfolgsaussichten einer Berufung gebührenrechtlich nicht zu dem für die Vorinstanz erteilten Mandat. Es ist jedoch nachvollziehbar, dass ein Rechtsanwalt nicht nur auf die Rechtsmittelmöglichkeit und die einzuhaltende Frist hinweisen muss, wenn er eine durch Richterspruch verfestigte ungünstige Rechtsposition seines Mandanten mitverschuldet hat, eine Korrektur des Fehlers im vorgesehenen Instanzenzug aber noch zu erreichen ist. Damit liegt die Fortsetzung des Rechtsstreits auch im eigenen Interesse des Anwalts.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).






BVerfG:
Beschluss v. 12.08.2002
Az: 1 BvR 399/02


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