Niedersächsisches Finanzgericht:
Urteil vom 9. März 2006
Aktenzeichen: 6 K 109/03

(Niedersächsisches FG: Urteil v. 09.03.2006, Az.: 6 K 109/03)

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob eine Organgesellschaft der Klägerin in ihrer Bilanz auf den 31. Dezember 2000 aufgrund der EG-Altfahrzeug-Richtlinie eine Rückstellung für die Rücknahme- und Verwertungsverpflichtungen für Altfahrzeuge bilden durfte.

Die Klägerin ist alleinige Gesellschafterin der A AG, deren Unternehmensgegenstand die Herstellung und der Vertrieb von Automobilen ist. Zwischen der Klägerin und ihrer Tochtergesellschaft A AG bestand (auch) im Streitjahr ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag nach § 291 Abs. 1 Aktiengesetz (AktG), wonach die A AG die Leitung ihrer Gesellschaft der Klägerin unterstellt und sich verpflichtet, ihren ganzen Gewinn an die Klägerin abzuführen. Demzufolge gehen beide Beteiligte davon aus, dass eine körperschaftsteuerliche Organschaft zwischen der Klägerin als Organträgerin und der A AG als Organgesellschaft besteht. Aufgrund dieser Organschaft wird das Einkommen der A AG steuerlich der Klägerin zugerechnet.

Am 18. September 2000 erließen das Europäische Parlament und der Rat die "Richtlinie 2000/53/EG über Altfahrzeuge" (EG-Altfahrzeug-Richtlinie). Die Richtlinie trat mit ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften am 21. Oktober 2000 in Kraft. Sie richtet sich an die Mitgliedstaaten (Art. 13) und verpflichtet diese, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit ein funktionierendes System zur Wiederverwendung oder sonstigen Verwertung von Altfahrzeugen errichtet wird. Insbesondere ist sicherzustellen, dass die Wirtschaftsbeteiligten (u.a. Hersteller und Vertreiber; Art. 2 Nr. 10) für alle Altfahrzeuge Rücknahmesysteme errichten und Rücknahmestellen im gesamten Hoheitsgebiet angemessen verfügbar sind (Art. 5 Abs. 1). Weiterhin haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die Ablieferung eines Fahrzeugs bei einer zugelassenen Verwertungsanlage für den Letzthalter und/oder Letzteigentümer ohne Kosten aufgrund des nicht vorhandenen oder negativen Marktwertes des Fahrzeugs erfolgt (Art. 5 Abs. 4). Dazu haben die Hersteller alle Kosten oder einen wesentlichen Teil der Kosten der Durchführung der genannten Maßnahmen zu tragen und/oder Altfahrzeuge kostenfrei zurückzunehmen. Dies gilt gem. Art. 12 Abs. 2 ab dem 1. Juli 2002 für ab diesem Zeitpunkt in Verkehr gebrachte Fahrzeuge und ab dem 1. Januar 2007 für Fahrzeuge, die vor dem 1. Juli 2002 in Verkehr gebracht wurden. Nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie setzen die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um der Richtlinie spätestens am 21. April 2002 nachzukommen.

Im Anschluss an die Veröffentlichung der Richtlinie fanden Gespräche zwischen der Bundesregierung und verschiedenen Verbänden der Automobilindustrie (z.B. Verband der Automobilhersteller e.V. -VDA- und dem Verband der Importeure von Kraftfahrzeugen e.V. -VDIK-) zur Umsetzung der Richtlinie statt. Im Rahmen dieser Gespräche wurde auch die handels- und steuerrechtliche Behandlung von Rückstellungen aufgrund der EG-Altfahrzeug-Richtlinie erörtert. Dabei teilten das Bundesministerium der Justiz und das Bundesministerium der Finanzen dem VDA und dem VDIK mit Schreiben vom 19. Dezember 2000 mit, dass ggf. eine gesetzliche Regelung zur Rückstellungsbildung mit dem nationalen Gesetz zur Umsetzung der EG-Altfahrzeug-Richtlinie erfolgen und diese frühestens 2001/2002 wirksam werden werde. Eine Rückstellungsbildung vor diesem Zeitpunkt werde für nicht sachgerecht gehalten. Zur Begründung wurde angeführt, dass die EG-Altfahrzeug-Richtlinie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Kostentragungspflicht Spielräume lasse. Diese würden zurzeit vom federführenden Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ausgelotet. Dabei kämen verschiedene Möglichkeiten für die Umsetzung der Richtlinie bis hin zu einer Fondslösung in Betracht, bei der je nach konkreter Ausgestaltung - etwa bei bestimmten Umlageverfahren - Rückstellungen schon dem Grunde nach unzulässig wären. Da derzeit nicht geklärt sei, welches Modell bei der Umsetzung der Richtlinie letztlich gewählt werde, hielten die Beteiligten Ressorts die künftigen Verbindlichkeiten einhellig für noch nicht hinreichend konkretisiert.

In Umsetzung der Richtlinie beschloss der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates am 21. Juni 2002 das Gesetz über die Entsorgung von Altfahrzeugen (AltfahrzeugG; Bundesgesetzblatt 2002 I S. 2199). Hierdurch wurde die Verordnung über die Überlassung, Rücknahme und umweltverträgliche Entsorgung von Altfahrzeugen (Altfahrzeugverordnung -AltfahrzeugV-) in wesentlichen Teilen geändert (BGBl 2002 I S. 2214). Nach § 3 Abs. 1 AltfahrzeugV sind Hersteller von Fahrzeugen nunmehr verpflichtet, alle Altfahrzeuge ihrer Marke vom Letzthalter zurückzunehmen. Sie müssen die bezeichneten Altfahrzeuge ab Überlassung an eine anerkannte Rücknahmestelle oder einen vom Hersteller hierzu bestimmten anerkannten Demontagebetrieb unentgeltlich zurücknehmen. Die Verordnung trat am 1. Juli 2002 in Kraft.

Weiterhin wurde mit dem AltfahrzeugG das Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch (EGHGB) dahingehend geändert, dass ein neuer Artikel 53 eingeführt wurde. Danach sind Rückstellungen für Verpflichtungen zur Rücknahme und Verwertung von Altfahrzeugen nach den §§ 3 - 5 der AltfahrzeugV erstmals im Jahresabschluss für das nach dem 26. April 2002 endende Geschäftsjahr zu bilden.

Die A AG bildete in ihrer Handelsbilanz auf den 31. Dezember 2000 eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten wegen ihrer Verpflichtung zur Rücknahme und Verwertung von Altfahrzeugen i.H.v. x Mio. DM. Aufgrund vorgenommener Abzinsungen wies die A AG in ihrer Steuerbilanz eine diesbezügliche Rückstellung i.H.v. y DM aus. Die Klägerin hat in ihrer Körperschaftsteuererklärung für 2000 ein um die Rückstellungsbildung der A AG gemindertes Einkommen angesetzt.

Der Beklagte (das Finanzamt -FA-) ist dieser Erklärung nicht gefolgt. In dem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Körperschaftsteuerbescheid für 2000 vom 27. Januar 2003 hat das FA die Körperschaftsteuer auf der Basis eines um y DM erhöhten Einkommens festgesetzt.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 24. Februar 2003 Sprungklage erhoben, die dem FA am 11. März zugestellt wurde und der das FA mit Schriftsatz vom 31. März 2003 zugestimmt hat. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die A AG in ihrer Bilanz zum 31. Dezember 2000 bereits eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten wegen der Verpflichtung zur Rücknahme von Altfahrzeugen bilden durfte, da das Entstehen einer Verbindlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits hinreichend wahrscheinlich gewesen sei, die wirtschaftliche Verursachung der Verbindlichkeit vor dem Bilanzstichtag gelegen habe und die A AG ernsthaft mit der Inanspruchnahme habe rechnen müssen. Insoweit habe bereits die Verabschiedung der EG-Altfahrzeug-Richtlinie im September 2000 zu einer Außenverpflichtung der A AG geführt. Diese Verpflichtung sei auch hinreichend konkretisiert. Die hohe Regelungsdichte der EG-Altfahrzeug-Richtlinie führe im Einzelfall dazu, dass der deutsche Gesetzgeber nur einen sehr begrenzten Umsetzungsspielraum gehabt habe. Insbesondere sei die Kostentragungspflicht der Hersteller bereits in der EG-Richtlinie normiert. Zumindest sei von einer faktischen Verpflichtung der A AG zur Rücknahme und Entsorgung von Bestandsaltfahrzeugen auszugehen.

Die Verbindlichkeit sei auch schon vor dem Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht, da die A AG als Hersteller mit dem In-den-Verkehr-bringen von Fahrzeugen bereits vor dem Bilanzstichtag den wesentlichen Tatbestand der Rücknahmeverpflichtung erfüllt habe. Schließlich sei die Inanspruchnahme der A AG nicht nur ernsthaft wahrscheinlich sondern sicher, da der Letzthalter ein Fahrzeug nur mit einem entsprechenden Verwertungsnachweis abmelden könne.

Dem Ausweis einer Rückstellung in der Handelsbilanz stehe auch der durch das AltfahrzeugG vom 21. Juni 2002 eingeführte Art. 53 EGHGB nicht entgegen. Diese Vorschrift könne verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass das Passivierungsverbot diejenigen Rückstellungen nicht erfasse, die bereits nach allgemeinen handelsrechtlichen Grundsätzen zu bilden seien. Bei anderer Auslegung verstoße Art. 53 Abs. 1 EGHGB gegen das durch das Rechtsstaatsprinzip i.S.d. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) normierte Rückwirkungsverbot und Art. 20 Abs. 1 der 4. EG-Bilanzrichtlinie.

Nach dem Grundsatz der Maßgeblichkeit müsse der Ansatz in der Handelsbilanz (abgezinst) auch in die Steuerbilanz übernommen werden.

Sollte eine Rückstellung dem Grunde nach nicht zu bilden sein, weil die besonderen Voraussetzungen bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllt seien, so seien dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 243 EGV Fragen zur Vorabentscheidung über die Auslegung des Art. 20 Abs. 1 und 31 der 4. EG-Bilanzrichtlinie und der EG-Altfahrzeug-Richtlinie vorzulegen. Dabei gehe es um die Frage, ob die Vorgabe der EG-Altfahrzeug-Richtlinie für die Rücknahme und Verwertung von Bestandsaltfahrzeugen so konkret sei, dass gem. Art. 20 Abs. 1 der 4. EG-Bilanzrichtlinie "ihrer Eigenarten nach genau umschriebene Verbindlichkeiten" auszuweisen sind, die am Bilanzstichtag wahrscheinlich oder sicher, aber hinsichtlich ihrer Höhe und dem Zeitpunkt ihres Eintritts unbestimmt sind.

Der angefochtene Bescheid wurde wegen hier nicht streitiger Punkte mit Bescheiden vom 18. September 2003 und vom 12. August 2004 geändert.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid für 2000 über Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und die Feststellung nach § 47 Abs. 2 KStG vom 27. Januar 2003 insofern aufzuheben, als die Rückstellung für die Rücknahme- und Verwertungsverpflichtung für Bestandsaltfahrzeuge der Organgesellschaft A AG nicht anerkannt worden ist.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass die A AG in ihrer Bilanz zum 31. Dezember 2000 keine Rückstellung für die Verpflichtung zur Rücknahme und Verwertung von Altfahrzeugen bilden durfte. Zum einen sei eine Rückstellungsbildung wegen der eindeutigen Regelung des Art. 53 EGHGB nicht möglich. Diese Vorschrift verstoße auch nicht gegen das Rückwirkungsverbot, da insoweit kein Vertrauensschutz der betroffenen Personen bestanden habe. Insoweit habe die Bundesregierung bereits unmittelbar nach dem Erlass der EG-Richtlinie deutlich gemacht, dass eine Rückstellungsbildung frühestens 2001/2002 in Betracht komme.

Im Übrigen lägen auch die Voraussetzungen für eine Rückstellungsbildung nach § 249 HGB nicht vor. Insbesondere sei die Verpflichtung vor dem Bilanzstichtag nicht wirtschaftlich verursacht. Die EG-Altfahrzeug-Richtlinie entfalte gegenüber der A AG als Fahrzeughersteller keine Rechtswirkung. Da der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie einen Gestaltungsspielraum gehabt habe, komme es für die Frage der wirtschaftlichen Verursachung auf den Zeitpunkt der Umsetzung im Jahr 2002 an.

Gründe

I. Die Klage ist als Sprungklage nach § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO zulässig, da das FA innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift dem Gericht gegenüber zugestimmt hat. Die Klägerin ist auch als Organträgerin hinsichtlich des ihr zuzurechnenden Einkommens ihrer Organgesellschaft klagebefugt (Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 22. April 2004 6 K 303/00, EFG 2004, 1662 m.w.N.).

II. Da eine teilweise Aufhebung des angefochtenen Bescheids nicht möglich ist, ist der Klageantrag dahingehend auszulegen, dass die Klägerin begehrt, den Bescheid für 2000 über Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und die Feststellung nach § 47 Abs. 2 KStG vom 27. Januar 2003 i.d.F. des Änderungsbescheides vom 12. August 2004 dahingehend zu ändern, dass die Steuer aufgrund eines um y DM verminderten Einkommens festgesetzt wird.

III. Die Klage ist unbegründet. Das FA hat die von der Tochtergesellschaft der Klägerin gebildete Rückstellung bei der Einkommensermittlung zu Recht nicht berücksichtigt.

1. Gem. § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) hat die Organgesellschaft der Klägerin als AG in ihren Bilanzen das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) auszuweisen ist. Diese ergeben sich unter anderem aus § 249 Abs. 1 Satz 1 Handelsgesetzbuch (HGB). Danach sind für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Ungewisse Verbindlichkeiten in diesem Sinne sind einerseits Verbindlichkeiten, die dem Grunde nach bestehen, deren Höhe aber noch ungewiss ist, andererseits Verbindlichkeiten, deren künftiges Entstehen, ggf. zusätzlich auch deren Höhe, noch ungewiss ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 27. Juni 2001 I R 45/97, BFHE 196, 216, BStBl II 2003, 121). Dabei ist für eine dem Grunde nach ungewisse Verbindlichkeit nach den GoB eine Rückstellung zu bilden, wenn sie erstens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entstehen und der Steuerpflichtige daraus in Anspruch genommen wird und wenn sie zweitens ihre wirtschaftliche Verursachung im Zeitraum vor dem Bilanzstichtag findet (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 8. November 2000 I R 10/98 BFHE 193, 406, BStBl II 2001, 349.)

Die erforderliche hinreichende Wahrscheinlichkeit wird in der Rechtsprechung mit der Formel umschrieben, dass mehr Gründe für als gegen das Entstehen der in Rede stehenden Verbindlichkeit und die künftige Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen sprechen (BFH-Urteil vom 30. November 2005 I R 110/04 m.w.N.). Die wirtschaftliche Verursachung einer Verpflichtung vor dem maßgebenden Bilanzstichtag setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale für das Entstehen der Verbindlichkeit bereits am Bilanzstichtag erfüllt sind und das rechtliche Entstehen der Verbindlichkeit nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Tatbestandsmerkmalen abhängt (vgl. BFH-Urteil vom 16. Januar 1995 I R 44/94, BStBl II 1995, 742). Maßgeblich ist dabei die wirtschaftliche Wertung des Einzelfalls vor dem Hintergrund der rechtlichen Struktur des Tatbestands, mit dessen Erfüllung die Verbindlichkeit entsteht (BFH-Urteil vom 19. Mai 1987 VIII R 327/83, BStBl II 1987, 848).

Für Verpflichtungen aus öffentlichem Recht kommt hinzu, dass die öffentlich-rechtliche Verpflichtung hinreichend konkretisiert ist (BFH-Urteil vom 19. August 2002 VIII R 30/01, BStBl II 2003, 131 m.w.N.). Die Verpflichtung muss auf ein bestimmtes Handeln innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zielen. Dies ist regelmäßig bei Erlass einer behördlichen Verfügung oder bei Abschluss einer entsprechenden verwaltungsrechtlichen Vereinbarung der Fall. Bei einem entsprechend konkreten Gesetzesbefehl kann sich auch allein aus dem Gesetz eine Verpflichtung ergeben, die zur Bildung einer Rückstellung führt (BFH-Urteil vom 21. September 2005 X R 29/03, BFH/NV 2006, 515 m.w.N.). Weiter ist erforderlich, dass an die Verletzung der Verpflichtung Sanktionen geknüpft sind, so dass sich der Steuerpflichtige der Erfüllung der Verpflichtung im Ergebnis nicht entziehen kann (BFH-Urteile vom 8. November 2000 I R 6/96, BFHE 193, 399, BStBl II 2001, 570; vom 19. August 2002 VIII R 30/01, BFHE 199, 561, BStBl II 2003, 131; vom 19. November 2003 I R 77/01, BFHE 204, 135, und vom 25. März 2004 IV R 35/02, BFHE 206, 25).

2. Nach diesen Grundsätzen durfte die Organgesellschaft der Klägerin in ihrer Bilanz auf den 31. Dezember 2000 keine Rückstellung für die Rücknahme- und Verwertungsverpflichtung für Bestandsaltfahrzeuge bilden.

a) Die A AG hat sich zur kostenfreien Rücknahme der von ihr in Verkehr gebrachten Kfz nicht privat-rechtlich verpflichtet. Die Verpflichtung zur kostenfreien Rücknahme und Verwertung von Altfahrzeugen folgt ausschließlich aus § 3 Abs. 1 AltfahrzeugV in der ab Juli 2002 geltenden Fassung. Damit handelt es sich um eine öffentlich rechtliche Verpflichtung der A AG.

b) Diese Verpflichtung war jedoch zum 31. Dezember 2000 noch nicht hinreichend konkretisiert. Zum Bilanzstichtag lag weder eine Verfügung der zuständigen Behörde noch eine Vereinbarung zwischen der A AG und einer Behörde vor, die die A AG zur Rücknahme von Altfahrzeugen verpflichtet hätte. Dementsprechend hätte die Rückstellung nur gebildet werden können, wenn zu diesem Zeitpunkt ein konkreter Gesetzesbefehl vorgelegen hätte. Da die entsprechenden Verpflichtungen erst durch die Änderungen des Altfahrzeuges und der AltfahrzeugV erst im Juni 2002 durch den Bundestag beschlossen wurden, lag ein derartiger Gesetzesbefehl zum 31. Dezember 2000 noch nicht vor.

28c) Die im September 2000 erlassene EG-Altfahrzeug-Richtlinie stellt allein keinen hinreichend konkreten Gesetzesbefehl für die A AG dar. Dies folgt zunächst daraus, dass die EG-Richtlinie ihrer Rechtsnatur nach - anders als EG-Verordnungen - kein unmittelbar in den Mitgliedsstaaten geltendes Recht statuiert. Adressat der Richtlinie sind vielmehr die Mitgliedsstaaten, die den vorgegebenen Regelungsgehalt in innerstaatliches Recht umsetzen müssen. Vor einer derartigen Transformation in innerstaatliches Recht entstehen für die einzelnen Rechtssubjekte - abgesehen von der hier nicht vorliegenden Ausnahme der nicht rechtzeitigen Umsetzung - keinerlei Rechte und Pflichten.

29Die mittelbare Ausstrahlungswirkung der Richtlinie auf die A AG reicht für die erforderliche Konkretisierung der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung nicht aus. Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass die Regelungsdichte der EG-Altfahrzeug-Richtlinie recht hoch ist; insbesondere bezüglich der materiell-rechtlichen Regelungen verbleibt den Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung nur ein geringer Spielraum. Ein gewisser Spielraum der Mitgliedsstaaten besteht jedoch bei der Regelung der Kostenlast. Dass ein derartiger Spielraum auch von der Bundesregierung gesehen wurde, ergibt sich aus den im Herbst 2000 stattgefundenen Gesprächen zwischen der Bundesregierung und verschiedenen Verbänden der Automobilindustrie. Insbesondere aus dem Schreiben des Bundesministeriums der Justiz und der Finanzen an den VDA und den VDIK vom 19. Dezember 2000 geht hervor, dass die Bundesregierung entsprechende Spielräume bei der Transformation auslotete und dass verschiedene Möglichkeiten für die Umsetzung der Richtlinie in Betracht gezogen wurden. Dabei waren auch Modelle in der Diskussion, bei deren Umsetzungen Rückstellungen schon dem Grunde nach unzulässig gewesen wären (sog. Fondslösung mit Umlageverfahren). Diese Gestaltungsspielräume führen dazu, dass eine hinreichend konkrete Verpflichtung für die Tochtergesellschaft der Klägerin erst mit der Umsetzung der EG-Altfahrzeug-Richtlinie in innerstaatliches Recht durch die Änderung des AltfahrzeugG und der AltfahrzeugV im Juni 2002 gegeben waren. Dementsprechend kommt eine Rückstellungsbildung für die Verpflichtung zur Entgegennahme und Verwertung von Altfahrzeugen erst für Wirtschaftsjahre in Betracht, die nach dem 26. April 2002 enden.

3. Aufgrund der vorstehenden rechtlichen Beurteilung des Streitfalls kommt es auf die von den Beteiligten problematisierte Auslegung des Art. 53 EGHGB nicht mehr an. Ebenso kann offen bleiben, ob diese Norm deklaratorischen oder konstitutiven Charakter hat bzw. ob sie gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 20 GG verstößt oder ob eine unzutreffende Umsetzung von Art. 20 Abs. 1 der 4. Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen 78/660/EWG (Bilanzrichtlinie, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 222/11) vorliegt.

4. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) mit dem Ziel einer Vorabentscheidung über die Auslegung der Bilanzrichtlinie, kommt nicht in Betracht.

a) Der EuGH entscheidet im Wege einer Vorabentscheidung u.a. über die Gültigkeit und die Auslegung von Handlungen der Organe der Gemeinschaft (Art. 234 Abs. 1 Buchst. b --vormals Art. 177 Abs. 1 Buchst. b- des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft -EGV-). Dies beinhaltet die Auslegung und Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (EuGH-Urteil vom 17. Juli 1997 Rs. C-28/95 Leur-Bloem, EuGHE 1997, I-4161, Der Betrieb -DB- 1997, 1851). Dazu gehören die vom Rat erlassenen Richtlinien, somit auch die Bilanzrichtlinie. Gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV besteht eine Möglichkeit zur Vorlage, wenn eine von den Gerichten im Einzelfall zu treffende Entscheidung von der Gültigkeit und/ oder der Auslegung der Richtlinie abhängt.

Nicht hingegen ist der EuGH zuständig für die Anwendung von Gemeinschaftsrecht auf den jeweiligen Sachverhalt (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 28. März 1979 Rs. 222/78 -ICAP-, EuGHE 1979, 1163 , Rn. 10-12; vom 18. Oktober 1990 Rs. C-297/88 , C-197/89 -Dzodi-, EuGHE 1990, I-3763 Rn. 38; Geiger, EG-Vertrag, 1995, Art. 177 Anm. 5; Wegener in Callies/Ruffert -Hrsg.-, EUV/EGV, 1999, Art. 234 Anm. 3; Borchardt in Lenz -Hrsg.-, EGV, Art. 234 Anm. 11). Umso mehr ist die Anwendung nationalen Rechts ausschließlich Sache der nationalen Gerichte (vgl. Geiger, a.a.O.). Beruht anzuwendendes nationales Recht -wie vorliegend § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB- auf der Umsetzung von oder der Verweisung auf Gemeinschaftsrecht, ist eine Vorlage an den EuGH daher nur erforderlich, wenn an der zutreffenden Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung in das nationale Recht oder ihrer Auslegung darüber hinaus Zweifel bestehen. Die Erforderlichkeit einer Vorlage sowie die Erheblichkeit der vorzulegenden Fragen haben die nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung tragen, im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalles zu beurteilen (vgl. EuGH-Urteile in EuGHE 1990, I-3763 Rn. 34; in EuGHE 1997, I-4161, DB 1997, 1851 Rn. 24; vgl. dazu auch Borchardt in Lenz -Hrsg.-, a.a.O.).

b) Für den Senat bestehen keine Zweifel, dass die Vorschriften der Bilanzrichtlinie jedenfalls insoweit zutreffend in nationales Recht umgesetzt worden sind, als sie die im Streitfall zu entscheidenden Fragen betreffen.

Gemäß Art. 20 Abs. 1 der Bilanzrichtlinie sind u.a. ihrer Eigenart nach genau umschriebene Verbindlichkeiten auszuweisen, die am Bilanzstichtag wahrscheinlich oder sicher, aber hinsichtlich ihrer Höhe oder dem Zeitpunkt ihres Eintritts unbestimmt sind. Wie sich aus dieser Bestimmung und der Abgrenzung zu den in Art. 20 Abs. 2 der Bilanzrichtlinie geregelten Aufwandsrückstellungen ergibt, wird damit u.a. eine hinreichend konkretisierte Verbindlichkeit gefordert.

Art. 20 der Bilanzrichtlinie ist in Art. 1 des Gesetzes zur Durchführung der Vierten, Siebten und Achten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts (Bilanzrichtlinien-Gesetz -BiRiLiG- vom 19. Dezember 1985, BGBl I, 2355) in nationales Recht (§ 249 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 HGB) umgesetzt worden (vgl. auch BTDrucks 10/4268). Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind u.a. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Gemäß § 249 Abs. 2 HGB dürfen außerdem für dem Geschäftsjahr oder einem früheren Geschäftsjahr zuzuordnende Aufwendungen Rückstellungen gebildet werden. Diese Bestimmungen lassen eine zutreffende Umsetzung der Richtlinie jedenfalls hinsichtlich der Frage der hinreichenden Konkretisierung der Verbindlichkeiten erkennen (vgl. BFH-Urteil vom 8. November 2000 I R 6/96, BFHE 193, 399, BStBl II 2001, 570 zur Aufwandsrückstellung).

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Frage, ob EG-Richtlinien bei entsprechender Regelungsdichte bereits hinreichend konkrete Verpflichtungen einzelner Rechtssubjekte begründen können, die eine Rückstellung nach § 249 HGB rechtfertigen, hat grundsätzliche Bedeutung.






Niedersächsisches FG:
Urteil v. 09.03.2006
Az: 6 K 109/03


Link zum Urteil:
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