Verwaltungsgericht Gießen:
Urteil vom 9. April 1999
Aktenzeichen: 8 E 1327/97 (1)

(VG Gießen: Urteil v. 09.04.1999, Az.: 8 E 1327/97 (1))

Tatbestand

Der Kläger ist Mitglied der beklagten Stadtverordnetenversammlung der Stadt N.. Am 29.04.1997 stand die Wahl für die Besetzung des Aufsichtsrats der (...) Wohnungsbaugesellschaft m.b.H. auf der Tagesordnung der Beklagten. Für diese Wahl waren dem Vorsitzenden der Beklagten insgesamt 3 Wahlvorschläge schriftlich unterbreitet worden, nämlich jeweils ein gemeinsamer Wahlvorschlag der CDU/UWG einerseits und der FDP/Bündnis 90, DIE GRÜNEN andererseits, sowie ein Wahlvorschlag der SPD.

Bei der Wahl entfielen auf den gemeinsamen Wahlvorschlag CDU/UWG 25, auf den gemeinsamen Wahlvorschlag FDP/Bündnis 90, DIE GRÜNEN 7 und auf den Wahlvorschlag SPD 13 der abgegebenen 45 gültigen Stimmen bei insgesamt 45 wahlberechtigten Stadtverordneten. Nach Auszählung der Stimmen stellte der Vorsitzende der Beklagten fest, daß auf den Wahlvorschlag CDU/UWG 4 Sitze und jeweils auf den Wahlvorschlag FDP/Bündnis 90, DIE GRÜNEN sowie den Wahlvorschlag der SPD ein Sitz entfallen seien. Sodann gab er die Namen der gewählten Mitglieder bekannt.

Der Kläger erhob gegen die in der Sitzung am 29.04.1997 durchgeführte Wahl am 28.05.1997 Widerspruch mit dem Argument, § 22 KWG sei nicht anzuwenden. Ohne Anwendung dieser Vorschrift hätte die SPD-Fraktion, der er angehöre, zwei Sitze erhalten.

Die beklagte Stadtverordnetenversammlung wies den Widerspruch durch Beschluß vom 19.06.1997 zurück und erließ am 24.07.1997 einen Widerspruchsbescheid. Zur Begründung führte sie u.a. aus, bei der Wahl der Mitglieder zu den Betriebskommissionen finde § 22 Abs. 4 KWG grundsätzlich dann Anwendung, wenn mehr als zwei Stellen zu besetzen seien. Dies gelte auch bei Vorliegen eines gemeinsamen Wahlvorschlags, der einen einheitlichen Wahlvorschlag darstelle und damit wie ein Wahlvorschlag einer einzelnen Fraktion zu behandeln sei.

Am 22.08.1997 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er unter Hinweis auf sein Widerspruchsvorbringen im wesentlichen geltend macht, § 22 KWG habe deshalb keine Anwendung finden dürfen, weil neben den aus der Stadtverordnetenversammlung vorgeschlagenen Mitgliedern im Aufsichtsrat der GmbH weitere, von der Stadtverordnetenversammlung zu wählende Personen aus dem Magistrat Sitz und Stimme hätten, bei denen § 22 KWG keine Anwendung finde und deshalb für die vorliegende Wahl zum Aufsichtsrat die vom Gesetzgeber des § 22 KWG gewollte Intention nicht greife, einen Ausgleich für die tendenzielle Benachteiligung der stärksten Partei bzw. der stärksten Listenverbindung zu schaffen, wenn diese die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten habe. Wie das Verwaltungsgericht Gießen durch Urteil vom 11.04.1990 entschieden habe, solle durch § 22 KWG sichergestellt werden, daß "diesem Vorschlag in dem Gremium mehr Sitze zugeteilt werden als allen übrigen zusammen." In einem Gremium aber, das nur zum Teil aus Personen bestehe, bei deren Wahl die Mehrheitsklausel des § 22 KWG Anwendung gefunden habe, könne diese Vorschrift ihre Funktion nicht mehr erreichen, jedenfalls dann nicht, wenn die Zahl der hinzuzutretenden Stimmen nicht mehr gering sei.

Der Kläger beantragt,

die Feststellung des Ergebnisses der Wahl der Vertreter des Aufsichtsrates der Wohnungsbaugesellschaft mbH vom 29.04.1997 und den Widerspruchsbescheid insoweit aufzuheben, als danach auf den Wahlvorschlag CDU/UWG mehr als 3 Sitze entfallen sind.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt den Ausführungen des Klägers entgegen und trägt unter ausführlicher Begründung vor, die Berechnung der Sitzverteilung sei zu Recht gemäß 55 Abs. 4 HGO i.V.m. § 22 Abs. 4 KWG erfolgt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Die Verwaltungsvorgänge sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf sie wird ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist als sogenannte Wahlprüfungsklage zulässig. Gegen die Gültigkeit einer von der Gemeindevertretung durchgeführten Wahl kann jeder Gemeindevertreter Klage erheben (§ 55 Abs. 6 S. 3 Hessische Gemeindeordnung - HGO -), nachdem er - wie im vorliegenden Fall - zuvor gegen die Gültigkeit der Wahl innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegt und die Gemeindevertretung hierüber befunden hat (§ 55 Abs. 6 S. 2, 3 HGO).

Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, daß das Klagebegehren nicht auf die Feststellung der Ungültigkeit der Wahl als solcher, sondern wegen der vermeintlich unrichtigen Anwendung des § 22 Abs. 4 Hessisches Kommunalwahlgesetz - KWG - nur auf die Feststellung eines anderen Wahlergebnisses gerichtet ist. Denn der in § 55 Abs. 6 S. 1 HGO genannte Begriff "Gültigkeit von Wahlen" läßt prozessual auch eine teilweise Aufhebung objektiv abgrenzbarer Teile des Wahlvorgangs - zu denen die Feststellung eines anderen Wahlergebnisses zum Beispiel bei Rechenfehlern gehört - zu, mit der Folge, daß der Klageantrag prozessual statthaft entsprechend beschränkt werden kann (vgl. Hess.VGH, U.v. 27.05.1988 - 6 UE 3410/86 -, S. 7 f. des amtl. Umdrucks, insoweit in DVBl. 1989, 160 ff. nicht abgedruckt; VG Darmstadt, U.v. 07.05.1986 - V/2 E 1242/95 -, HessVGRspr. 1986, 71; Schneider/Dreßler/Lüll, HGO, Stand 1998, Anm. 5 zu § 55, S. 16f.).

Die sonach zulässigerweise auf das Ergebnis der Wahl beschränkte Klage ist aber unbegründet, denn die von der beklagten Stadtverordnetenversammlung durchgeführte Wahl ist hinsichtlich ihrer Ergebnisfeststellung rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Wahl richtet sich vorliegend nach § 55 Abs. 1 S. 1 HGO, da es um die Besetzung mehrerer gleichartiger unbesoldete Stellen geht und anderslautende Vorschriften nicht existieren. Damit gelten die Grundsätze der Verhältniswahl (vgl. OVG NW, NVwZ 1990, 188), wobei nach § 55 Abs. 4 S. 1 HGO die entsprechende Anwendung des Hessischen Kommunalwahlgesetzes vorgesehen ist mit der Maßgabe, daß § 22 Abs. 4 KWG dann keine Anwendung findet, wenn zwei Stellen zu besetzen sind. Entgegen der Ansicht des Klägers hat die Beklagte in vorliegendem Fall zu Recht von der in § 22 Abs. 4 KWG normierten Mehrheitsklausel Gebrauch gemacht und der zulässigen Listenverbindung "CDU/UWG" einen weiteren Sitz im Aufsichtsrat zugeteilt. Wie der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seiner die Wahl ehrenamtlicher Beigeordneter einer Gemeinde betreffenden Entscheidung vom 17.10.1991 ausgeführt hat, richtet sich die Feststellung des Wahlergebnisses und die Sitzverteilung mit Ausnahme der Besetzung nur zweier gleichartiger unbesoldeter Stellen auch bei von der Gemeindevertretung durchzuführenden mittelbaren Wahlen grundsätzlich nach § 22 Abs. 4 KWG (U. v. 17.10.1991 - 6 UE 2422/90 -, HSGZ 1992, 437). Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der jetzigen Fassung des § 55 Abs. 4 S. 1 HGO. Während nämlich die ursprüngliche Fassung des § 55 Abs. 4 S. 1 HGO vom 01.04.1981 (GVBl. I S. 66) eine "schrankenlose" Anwendung des KWG vorsah, wurde mit Wahlrechtsänderungsgesetz vom 16.06.1988 (GVBl. I S. 235) in § 55 Abs. 4 S. 1 HGO die Ausnahmeregelung aufgenommen, § 22 Abs. 4 KWG dann nicht anzuwenden, wenn (lediglich) zwei gleichartige unbesoldete Stellen zu besetzen sind. Der Landesgesetzgeber hat diese Regelung getroffen, nachdem der Hessische Verwaltungsgerichtshof zuvor mit seiner Entscheidung vom 27.05.1988 (DVBl. 1989, 160 ff.) § 22 Abs. 4 KWG ausdrücklich auch bei einer Wahl von zwei gleichartigen unbesoldeten Stellen zugrunde gelegt hatte und im übrigen die Forderung schon seit längerem bekannt war, § 22 Abs. 4 KWG gesetzestechnisch nur auf unmittelbare Wahlen zu beschränken (vgl. Borchmann, HSGZ 1981, 266 ff.). Wenn der Landesgesetzgeber sich mit Blick auf diese Rechtsprechung und der im Schrifttum genannten Bedenken für die jetzige Fassung des § 55 Abs. 4 S. 1 HGO bewußt entschieden hat, gibt er eindeutig zu erkennen, daß mit Ausnahme der Besetzung nur zweier gleichartiger unbesoldeter Stellen in allen übrigen Fällen des Verteilungsverfahrens der Sitze § 22 Abs. 4 KWG zugrunde gelegt werden soll.

Demgegenüber vermag sich der Kläger unter Hinweis auf die Entscheidung des VG Gießen vom 11.04.1990 (HSGZ 1990, 491 ff.) nicht darauf zu berufen, § 22 Abs. 4 KWG sei deswegen unanwendbar, weil der Aufsichtsrat nur zum Teil gewählt werde, im übrigen aber aus weiteren Mitgliedern bestehe. Allerdings verweist der Kläger mit Recht darauf, daß in der Entscheidung des VG Gießen vom 11.04.1990 eine Nichtanwendung des § 22 Abs. 4 KWG für den Fall, daß die Mehrheitsklausel ihre Funktion nicht mehr zu erreichen vermag, erörtert wird. Nachdem der Gesetzgeber aber in der jetzigen Fassung des § 55 Abs. 4 S. 1 HGO ausdrücklich einen Sonderfall konstituiert hat, für den die Mehrheitsklausel nicht gilt, kann die in § 55 Abs. 4 S. 1 HGO genannte "entsprechende" Anwendung des § 22 Abs. 4 KWG nur so begriffen werden, daß in allen übrigen Sachverhalten - außer in dem in § 55 Abs. 4 S. 1 HGO genannten Ausnahmefall - § 22 Abs. 4 KWG Geltung beansprucht. In diesem Sinne versteht nunmehr auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof nach der Gesetzesänderung ausdrücklich die Vorschrift des 55 Abs. 4 S. 1 HGO, wie dem Leitsatz 2 und auch den Entscheidungsgründen des Urteils vom 17.10.1991 eindeutig zu entnehmen ist (Hess.VGH, U. v. 17.10.1991 - 6 UE 2422/90 -, HSGZ 1992, 437, 438). Abgesehen davon vermag die Kammer nicht zu erkennen, daß die Anwendung der Mehrheitsklausel in einem unterschiedlich besetzten Gremium wie hier dem Aufsichtsrat Betriebskommission, nicht "funktionsgerecht" ist, wie der Kläger meint. Denn ein nach § 22 Abs. 4 KWG zusätzlich vergebener Sitz gibt dem entsprechenden Wahlvorschlag bei Abstimmungen in diesem Gremium ein größeres Gewicht oder insgesamt eine verstärkte Repräsentanz. Auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, daß die Zubilligung eines größeres Gewichtes bei Abstimmungen oder die verstärkte Repräsentanz Gesichtspunkte sind, die eine entsprechende Anwendung des § 22 Abs. 4 KWG zu rechtfertigen vermögen (vgl. Hess.VGH, U.v. 27.05.1988 - 6 UE 8410/86 -, DVBl. 1989, 160, 161).

Hat die Beklagte mithin § 22 Abs. 4 KWG zu Recht angewandt, gilt für die gem. § 22 Abs. 3 KWG vorzunehmende Sitzverteilung, daß auf den Wahlvorschlag CDU/UWG bei 55% der gesamten Stimmen ein Sitz mehr entfällt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in § 167 Abs. 1 i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.






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