Sozialgericht Köln:
Urteil vom 29. September 2011
Aktenzeichen: S 31 R 696/10

(SG Köln: Urteil v. 29.09.2011, Az.: S 31 R 696/10)

Tenor

Die Beklage wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.01.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2010 verurteilt, die Klägerin für ihre Beschäftigung bei der X-Versicherungs-AG von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Streitig ist die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die Klägerin wurde 1971 geboren. Im September 2000 legte sie das 2. juristische Staatsexamen ab. In der Folgezeit war sie bei Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsunternehmen in Düsseldorf, Essen und München tätig. Mit Bescheid vom 03.05.2005 befreite die Rechtsvorgängerin der Beklagten die Klägerin mit Wirkung ab dem 01.01.2005 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Nach einem Anstellungswechsel zur Wirtschafts- und Steuerberaterkanzlei X stellte die Klägerin im Mai 2007 erneut einen Befreiungsantrag bei der Beklagten, dem diese mit Bescheid vom 05.09.2007 nachkam. Am 25.07.2007 schloss die Klägerin mit der Beigeladenen zu 1) einen Arbeitsvertrag mit Wirkung zum 15.09.2007. Danach wurde die Klägerin bei der Beigeladenen 1) als Fachreferentin für Steuern in der Steuerabteilung innerhalb der Hauptabteilung Rechnungswesen/Steuern Konzern tätig. Die Klägerin wurde in die Gehaltsgruppe 6, 14. Berufsjahr, des Gehaltstarifsvertrages für das private Versicherungsgewerbe eingruppiert. Mit Schreiben vom 26.09.2007 teilte die Klägerin der Beklagten den Arbeitgeberwechsel mit und legte ihr Schreiben an die Rechtsanwaltskammer Köln vom 24.09.2007 vor, in welchem sie auf die Rechte aus der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtete und ihren Antrag auf anderweitige Zulassung vom 10.09.2007 gegenüber der Rechtsanwaltskammer Köln zurückziehe. Mit Bescheid vom 28.11.2007 hob die Beklagte die zuvor ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auf, da die Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung der Berufsgruppe der Klägerin zum 27.09.2007 beendet worden sei.

Am 12.11.2009 stellte die Klägerin bei der Beklagten erneut einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie legte u. a. ein Schreiben der Beigeladenen zu 1) vor, in welchem diese die Auffassung vertrat, dass die Tätigkeit der Klägerin als Referentin im Bereich Steuern Konzern Elemente der Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung beinhalte. Die Klägerin gab an, dass sie seit dem 09.11.2009 wieder Mitglied der Rechtsanwaltskammer Köln sei. Der Beigeladene zu 2) bescheinigte, dass ab diesem Zeitpunkt auch eine gesetzliche Mitgliedschaft bei ihm bestehe. Mit Bescheid vom 05.01.2010 lehnte die Beklagte die begehrte Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Klägerin sei bei der Beigeladenen zu 1) nicht anwaltlich beschäftigt. Von einer anwaltlichen Beschäftigung sei auszugehen, wenn die Aufgabenfelder Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung kumulativ wahrgenommen würden. Die Klägerin sei dem Abteilungsleiter der Steuerabteilung unterstellt. Es sei daher davon auszugehen, dass sie nicht rechtsentscheidend tätig sei. Außerdem gehe aus ihrem Arbeitsvertrag hervor, dass sie in Gehaltsstufe 6 eingruppiert werde. Dies spreche dafür, dass sie eine sachbearbeitende Tätigkeit ausübe, die gründliche und vielseitige Fachkenntnisse voraussetze. Eine anwaltliche Beschäftigung scheide hier aus, weil eine sachbearbeitende Tätigkeit nicht frei, sondern stets weisungsgebunden in einem begrenzten Bereich ausgeübt werde und insofern nicht dem in § 3 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) zugrunde gelegten Bild der freien Berufsausübung als Rechtsanwalt entspreche.

Hiergegen legte die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben, der Beklagten zugegangen am 18.01.2010, Widerspruch ein. Zur Begründung ließ die Klägerin ausführen, sie sei keine Sachbearbeiterin, sondern sei als eigenverantwortliche Fachreferentin angestellt. Als solche bearbeite sie Aufgaben eigenständig. Sie sei zeichnungsbefugt, insbesondere gegenüber dem Finanzamt, dem Finanzgericht, der Betriebsprüfung sowie externen Kollegen. Es sei kein Unterschied erkennbar, zwischen der Tätigkeit der Klägerin und der Tätigkeit angestellter Rechtsanwälte in einer Rechtsanwalts-GmbH. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.05.2010 wies die Beklagte den Widerspruch als sachlich unbegründet zurück. Ergänzend zu den Ausführungen im angefochtenen Bescheid wies die Beklagte darauf hin, dass nach der Bestimmung in § 11 des Arbeitsvertrages der Klägerin eine Nebentätigkeit der vorherigen schriftlichen Zustimmung der Beigeladenen zu 1) bedürfe. Die Zustimmung werde nur erteilt, sofern nicht berechtigte Interessen der Gesellschaft entgegen stünden. Diese im Arbeitsvertrag vorgenommene Einschränkung schließe eine Tätigkeit als Rechtsanwalt aus, da sie mit den standesrechtlichen Vorschriften der Bundesrechtsanwaltsordnung unvereinbar sei. Danach sei ein Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege.

Hiergegen richtet sich die Klage.

Die Klägerin trägt vor, sie sei seit April 2010 in die Tarifgruppe 8 des Manteltarifvertrages für das private Versicherungsgewerbe vom 30.06.2008 eingeordnet. Hierbei handele es sich jedenfalls um keine qualifizierte Sachbearbeitung mehr, sondern um die Wahrnehmung von Führungsaufgaben. Dies ergebe sich auch aus den Kennzeichnungen des Manteltarifvertrages. Gruppe 7 sei gekennzeichnet als "Tätigkeiten, die hohe Anforderungen an das fachliche Können stellen und mit erweiteter Fach- oder Führungsverantwortung verbunden sind". Die Gruppe 8 gehe hierüber hinaus. Zudem habe die Beigeladene zu 1) der Klägerin mit Schreiben vom 27.05.2010 eine Tätigkeit als Rechtsanwältin genehmigt. Insofern sei die Klägerin auch nicht mehr verpflichtet, sich Nebentätigkeiten in ihrer Funktion als Rechtsanwältin genehmigen zu lassen. Anders als angestellte Rechtsanwälte in großen Anwaltsfirmen sei die Klägerin selbst zeichnungsbefugt. Zutreffend sei, dass die Klägerin als Mitarbeiterin in einem Versicherungsunternehmen der zuständigen Leitung unterstellt sei. Dies sei bei angestellten Rechtsanwälten in Anwaltsunternehmen jedoch ebenfalls so. Sie arbeite in all ihren täglichen Tätigkeitsbereichen ohne bestimmende Lösungsvorgaben durch die Geschäftsführung und insofern weisungsfrei.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

1. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05.01.2010 in Gestalt des des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2010 zu verurteilen, die Klägerin für ihre Tätigkeit bei der X-Versicherungs-AG von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien; 2. hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, sie gemäß der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden; 3. weiter hilfsweise festzustellen, dass sie nicht verpflichtet sei, während ihrer Zeit als Rechtsanwältin Pflichtbeiträge an die Beklagte zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, schon aus der Eingruppierung der Klägerin in das Tarifsystem ergebe sich, dass es sich bei ihrer Arbeit für die Beigeladene um eine sachbearbeitende Tätigkeit handele, die durch Weisungsgebundenheit geprägt sei. Die Weisungsgebundenheit der Klägerin gehe außerdem aus § 1 des Arbeitsvertrages vom 25.07.2007 hervor, wonach sie mit den Tätigkeiten einer Fachreferentin nach näherer Weisung durch ihre Vorgesetzten betraut sei. Auch sei die Klägerin als Mitarbeiterin der zuständigen Leitung des Bereiches unterstellt. Das Wesen der anwaltlichen Tätigkeit zeichne sich aber gerade durch eine im Kern weisungsfreie Ausübung aus, wie es in den vier Kriterien für die Bestimmung einer anwaltlichen Tätigkeit niedergelegt sei. Die Weisungsfreiheit sei insbesondere in den Feldern der Rechtsberatung, Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung unabdingbar. Desweiteren könne die Beschäftigung der Klägerin schon deshalb nicht als anwaltliche Tätigkeit qualifiziert werden, weil ihre Ausübung nicht die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verlange. Es sei bisher nicht dargelegt worden, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die Tätigkeit der Klägerin seit dem Zeitpunkt der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft im Jahr 2009 verändert habe.

Die Beigeladene zu 1) stellt keinen Antrag. In der Sache trägt sie vor, dass sich die Klägerin mittlerweile in der höchsten tarifvertraglichen Gehaltsgruppe (VIII, ab dem 14. Berufsjahr und mehr) befinde. Diese Eingruppierung setze die Ausübung von Tätigkeiten voraus, die in den Anforderungen an das fachliche Können und in der Fach- oder Führungsverantwortung über diejenigen der Gehaltsgruppe VII hinausgingen. Diese wiederum erwarte Tätigkeiten, die hohe Anforderungen an das fachliche Können stellten und mit erweiteter Fach- oder Führungsverantwortung verbunden seien. Die Steuerabteilung in ihrem Haus sei ähnlich wie eine Kanzlei organisiert. Die Klägerin treffe eigenständige Entscheidungen gegenüber Behörden und Gerichten und anderen Dritten. Auch im Unternehmen sei sie an Abstimmungen und Entscheidungsprozessen wesentlich beteiligt. Auch Mitarbeiter mit hoher Verantwortung seien in gewisser Art und Weise in die Strukturen der Beigeladenen eingebunden und somit weisungsgebunden. Dies dürfte jedoch in einer Anwaltskanzlei nicht anders sei. Die Klägerin sei auch während ihrer Anwesenheit an ihrem Hauptarbeitsplatz jederzeit telefonisch und per Telefax für Mandanten, gegnerische Anwälte und Gerichte erreichbar.

Der Beigeladene zu 2) stellt keinen Antrag und nimmt auch in der Sache nicht Stellung.

Das Gericht hat die Klägerin im Erörterungstermin am 26.05.2011 zu den Inhalten und den Bedingungen ihrer Tätigkeiten für die Beigeladene zu 1) angehört. Ferner hat es den Personalleiter der Beigeladenen zu 1), Herrn Dr. X, als Zeugen angehört. Wegen des Inhalts der Aussagen wird Bezug genommen auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 26.05.2011. Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, welche zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat.

Gründe

Die Klage ist zulässig und in der Sache begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 05.01.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für ihre Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1) zu.

Dieser Anspruch ergibt sich aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch 6. Buch € gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Nach dieser Vorschrift werden von der Versicherungspflicht befreit Beschäftigte für die Beschäftigung, in der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlichrechtlichen Versorgungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständischen Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn (a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 01. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, (b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Einrichtung zu zahlen sind und (c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist.

Bei der Tätigkeit der Klägerin für die Beigeladene zu 1) handelt es sich € wie zwischen den Beteiligten unstrittig ist € um eine Beschäftigung im Sinne des § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 4. Buch € gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV), die grundsätzlich versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist. Die Klägerin hat gegen die Beklagte jedoch den vorgenannten Befreiungsanspruch, weil sie wegen ihrer Tätigkeit für die Beigeladene zu 1) Pflichtmitglied in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung € dem Beigeladenen zu 2) - ist, zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied der Rechtsanwaltskammer Köln als berufsständischer Kammer ist und auch die übrigen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erfüllt sind.

Pflichtmitglied des Beigeladenen zu 2) sind gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltsversorgung in Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit § 10 der Satzung des Beigeladenen alle Mitglieder einer der Aufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen unterstehenden Rechtsanwaltskammer. Die Klägerin ist seit dem 09.11.2009 Mitglied der Rechtsanwaltskammer Köln und somit einer Rechtsanwaltskammer im vorgenannten Sinne. Voraussetzung für einen Befreiungsanspruch gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist, dass nicht nur die Mitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung, sondern auch die Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer gesetzlich verpflichtend ist. Die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer ist für alle Rechtsanwälte verpflichtend, da gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 BRAO Mitglieder der Rechtsanwaltskammer u. a. diejenigen Rechtsanwälte sind, die von der jeweiligen Rechtsanwaltskammer zugelassen oder aufgenommen worden sind und eine anwaltliche Tätigkeit gemäß § 12 Abs. 1 BRAO die vorherige Zulassung durch die Rechtsanwaltskammer voraussetzt. Desweiteren muss für einen Befreiungsanspruch gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI die Pflichtmitgliedschaft gerade wegen der jeweiligen abhängigen Beschäftigung bestehen. Hieraus folgt, dass es sich bei den in abhängiger Beschäftigung ausgeübten Tätigkeiten gerade um solche handeln muss, die typischerweise nur von Rechtsanwälten ausgeübt werden und daher dem Berufsbild des Rechtsanwaltes zuzuordnen sind. Wann Tätigkeiten anwaltlich im vorgenannten Sinne sind, ist weder in der Bundesrechtsanwaltsordnung noch an anderer Stelle gesetzlich definiert.

Zunächst ist eine anwaltliche Tätigkeit im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses nicht per se allein deshalb ausgeschlossen, weil § 3 Abs. 1 BRAO den Rechtsanwalt als unabhängigen Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten definiert. Wollte man dies annehmen, so würde ein zugelassener Rechtsanwalt, der sich zugleich in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis befindet, in der Sache zwei Berufe ausüben: Zum einen eine nichtanwaltliche Tätigkeit im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses, zum anderen eine anwaltliche Tätigkeit außerhalb dieses Beschäftigungsverhältnisses für andere Auftraggeber (so Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.03.2004, Az.: L 4 RA 12/03, Rn 39 bei JURIS unter Bezugnahme auf die berufsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes). Diese sogenannte Doppelberufstheorie ist jedoch nach Auffassung der Kammer mit dem Wortlaut des § 46 Abs. 1 BRAO nicht vereinbar. Nach dieser Bestimmung darf der Rechtsanwalt für einen Auftraggeber, dem er aufgrund eines ständigen Dienst- oder ähnlichen Beschäftigungsverhältnisses seine Arbeitszeit und €kraft zur Verfügung stellen muss, vor Gerichten oder Schiedsgerichten nicht in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt tätig werden. Die gesetzliche Formulierung dieses Vertretungsverbotes verdeutlicht jedoch, dass der Rechtsanwalt auch im Rahmen seiner Tätigkeit für seinen Arbeitgeber grundsätzlich Rechtsanwalt im gesetzlichen Sinne ist. Denn andernfalls wäre ein Vertretungsverbot, wie es in § 46 Abs. 1 BRAO geregelt ist, überflüssig und es genügte die Feststellung, dass die betreffende Person im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Arbeitgeber keine Anwaltseigenschaft hat und demzufolge weder den berufstypischen Pflichten unterliegt noch die mit dem Beruf des Rechtsanwaltes verbundenen Rechten ausüben kann. Unter Berücksichtigung des Zusammenspiels des § 3 Abs. 1 BRAO einerseits und des § 46 Abs. 1 BRAO andererseits kann das Kriterium der Unabhängigkeit im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses des Rechtsanwaltes deshalb allein einschränkend dahingehend ausgelegt werden, dass hiermit eine Unabhängigkeit von Weisungen in der Beurteilung von Rechtsfragen gemeint ist.

Dies vorangestellt kann zur Ermittlung der Frage, ob eine Tätigkeit anwaltlicher Natur ist, grundsätzlich auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die die Deutsche Rentenversicherung Bund im Jahr 2005 zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft der berufsständischen Versorgungseinrichtung erarbeitet und in einem Merkblatt niedergelegt hat. Danach ist eine Tätigkeit eines Rechtsanwaltes bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber dann eine berufsspezifisch anwaltliche, wenn sie (1.) rechtsberatend; (2.) rechtsentscheidend, (3.) rechtsgestaltend und (4.) rechtsvermittelnd ist. Die vorgenannten Kriterien sind nicht abschließend und können durch die besonderen Umstände des Einzelfalles ergänzt und gegebenenfalls auch aufgehoben werden. Für den Regelfall bieten die vorgenannten Kriterien jedoch nach Auffassung der Kammer eine schlüssige und praktikable Entscheidungsgrundlage.

Die Tätigkeit der Klägerin für die Beigeladene zu 1) erfüllt die vorgenannten Voraussetzungen. Die Klägerin ist unter Zugrundelegung ihrer glaubhaften Einlassungen im Erörterungstermin vom 26.05.2011 rechtsberatend für die Beigeladene zu 1) tätig. Die Rechtsberatung umfasst die unabhängige Analyse von betriebsrelevanten, konkreten Rechtsfragen, die selbständige Herausarbeitung und Darstellung von Lösungswegen und Lösungsmöglichkeiten vor dem spezifischen betrieblichen Hintergrund und das unabhängige Bewerten der Lösungsmöglichkeiten (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.10.2009, Az.: L 8 KR 189/08, Rn 42 bei juris). Die Klägerin ist in der Steuerabteilung der Beigeladenen zu 1) tätig. Sie berät die Tochtergesellschaften der Beigeladenen in steuerrechtlichen Fragen. Ihre Zuständigkeit umfasst dabei insbesondere Fragen des Umsatzsteuerrechts. Sie begleitet die Tochtergesellschaften im Rahmen von Betriebsprüfungen der Steuerbehörden und führt für die Konzerngesellschaften Verfahren vor dem Finanzgericht. Als Beispiel für einen Anlass einer von ihr durchzuführenden steuerrechtlichen Beratung hat die Klägerin den Fall des Immobilienerwerbs durch die Beigeladene und ihre Tochtergesellschaften genannt, in welchem sie die Geschäfte aus steuerlicher Sicht prüft und bewertet und ihre Empfehlung relevante Grundlagen des von mehrereren Fachbereichen zu tragenden Entscheidungsprozesses ist. Die Klägerin ist darüber hinaus auch (2.) rechtsentscheidend tätig. Rechtsentscheidung ist das nach außen wirksame Auftreten mit eigenständiger Entscheidungskompetenz (Landessozialgericht Hessen, a.a.O.). Die Klägerin hat dargelegt, dass sie sowohl im Rahmen der Gespräche mit Betriebsprüfern als auch in gerichtlichen Verfahren nach außen hin eigenständig über das weitere Vorgehen der Beigeladenen zu 1) entscheidet, ohne insoweit generell oder ab einer bestimmten wirtschaftlichen Relevanz von Vorgaben vorgesetzter Mitarbeiter, insbesondere des Abteilungsleiters Steuern, abhängig zu sein. Der von der Kammer als Zeuge gehörte Personalleiter Dr. X hat diese Ausführungen zur Frage der Rechtsentscheidung bestätigt und ergänzt, dass ein entsprechendes eigenständiges und eigenverantwortliches Vorgehen von der Klägerin unter Berücksichtigung ihrer Gehaltshöhe auch erwartet werde.

Ferner wird die Klägerin (3.) rechtsgestaltend tätig. Rechtsgestaltung ist das eigenständige Führen von Vertrags- und Einigungsverhandlungen. Jedenfalls in der eigenständigen Betreuung der Betriebsprüfungsangelegenheiten durch die Klägerin kann ein entsprechendes eigenständiges Vorgehen der Klägerin nach außen hingesehen werden.

Schließlich wird die Klägerin rechtsvermittelnd (4.) tätig, in dem sie die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Tochtergesellschaften der Beigeladenen zu 1) über rechtliche Änderungen, insbesondere im Bereich des Umsatzsteuerrechts, informiert und insoweit unabhängig von der anlassbezogenen Rechtsberatung im Einzelfall didaktisch tätig wird.

Jenseits der vorgenannten Kriterien spricht gegen eine anwaltliche Tätigkeit der Klägerin für die Beigeladene zu 1) auch nicht der Umstand, dass die Klägerin vom Beginn ihrer Tätigkeit für die Beigeladene zu 1) am 15.09.2007 bis zum 09.11.2009 nicht als Rechtsanwältin zugelassen war, obwohl eine wesentliche Änderung in ihrem Tätigkeitsfeld zum 09.11.2009 nicht erkennbar ist. Zwar ist die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer tatbestandliche Voraussetzung für eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI. Eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht kommt deshalb frühestens ab dem Zeitpunkt in Betracht, in welchem die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer beginnt. Für die Frage, ob eine Tätigkeit der Sache nach anwaltlicher Natur ist, hat die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer jedoch allenfalls eine Indizwirkung. Weder hat die Entscheidung der Rechtsanwaltskammer über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft Tatbestandswirkung im Rahmen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in dem Sinne, dass hiermit feststünde, dass es sich bei der in abhängiger Beschäftigung ausgeübten Tätigkeit auch inhaltlich um eine solche anwaltlicher Natur handelt, noch ist umgekehrt eine anwaltliche Tätigkeit immer dann zu verneinen, wenn die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft fehlt, obwohl eine solche wegen des Inhalts der Tätigkeit hätte beantragt werden müssen. Auch aus der Funktionsbezeichnung der Klägerin im Arbeitsvertrag und ihrer tariflichen Eingruppierung vermag das Gericht vorliegend kein anderes Ergebnis abzuleiten. Die Klägerin ist nach dem Arbeitsvertrag als Fachreferentin Steuern eingestellt worden. Schon die Bezeichnung als Referentin zeigt, dass es sich um eine über die bloße Sachbearbeitung hinausgehende, eigenverantwortliche Tätigkeit handelt. Auf die Frage, ob die Klägerin von Anfang an einer ihrer Tätigkeit entsprechenden Tarifgruppe zugeordnet wurde, kommt es deshalb nicht entscheidend an.

Die Beklagte war daher zu verurteilen, die Klägerin für ihre Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1) von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien. Die Befreiung wirkt gemäß § 6 Abs. 4 SGB VI vom 09.11.2009 an. § 6 Abs. 4 SGB VI bestimmt insoweit, dass die Befreiung vom Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen an wirkt, wenn sie innerhalb von drei Monaten beantragt wird, sonst vom Eingang des Antrags an. Die Klägerin ist am 09.11.2009 Mitglied sowohl des Beigeladenen zu 2) als auch der Rechtsanwaltskammer Köln geworden. Erst zu diesem Zeitpunkt erfüllte sie sämtliche tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI. Da ihr Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung am 12.01.2009 und somit binnen drei Monaten nach Vorliegen sämtlicher Befreiungsvoraussetzungen eingegangen ist, ist die Befreiung mit Wirkung zum 09.11.2009 auszusprechen.

Da die Klage schon im Hauptantrag in vollem Umfang erfolgreich war, hatte die Kammer über die hilfsweise gestellten Anträge nicht mehr zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.






SG Köln:
Urteil v. 29.09.2011
Az: S 31 R 696/10


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