Oberlandesgericht Köln:
Beschluss vom 13. Dezember 2002
Aktenzeichen: 2 Ws 634/02

(OLG Köln: Beschluss v. 13.12.2002, Az.: 2 Ws 634/02)

Tenor

Der angefochtene Beschluss und der Kostenfestsetzungsbe-schluss vom 25. März 2002 werden aufgehoben. Die Pflichtvertei-digergebühren des Rechtsanwalts F. werden gemäß dem Kos-tenfestsetzungsbeschluss vom 11. April 2001 - auf

3.622,47 EUR (in Worten: dreitausendsechshundertzweiundzwanzig 47/100 Euro) (7.084,94 DM) festgesetzt.

Die Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

In einem Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Aachen ist der frühere Angeklagte durch Urteil des Landgerichts Aachen vom 8. Februar 2001 vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen worden. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten sind der Staatskasse auferlegt worden.

Zu Verteidigern des damaligen Beschuldigten hatten sich - vor Anklageerhebung - mit Schriftsatz vom 29. März 2000 Rechtsanwältin M.-N. und - nach Anklageerhebung - mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2000 Rechtsanwalt F. bestellt.

Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung, mit Schriftsatz vom 16. November 2000 beantragte Rechtsanwalt F. seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, was die Vorsitzende der Strafkammer unter Hinweis auf das bestehende Wahlverteidigermandat von Rechtsanwältin M.-N. ablehnte. Auf einen zu Beginn der Hauptverhandlung von Rechtsanwältin M.-N. gestellten Antrag wurde diese, nach einer Klarstellung durch die Vorsitzende, dass nur ein Pflichtverteidiger bestellt werde, und nach einem klärenden Gespräch unter Beteiligung des Angeklagten, am 20. November 2000 zur Pflichtverteidigerin bestellt. Ab dem 2. Verhandlungstag nahm Rechtsanwalt F. gleichwohl regelmäßig an der Hauptverhandlung teil.

Am 28. Dezember 2000 wiederholte Rechtsanwalt F. den Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger unter Hinweis auf eine Verhinderung von Rechtsanwältin M.-N. an einzelnen künftigen Verhandlungstagen. Mit Beschluss vom 11. Januar 2001 wurde sodann Rechtsanwalt F. "als weiterer Pflichtverteidiger zur Sicherung der Hauptverhandlung" bestellt.

Nach dem Abschluss des Verfahrens machte Rechtsanwalt F. die Pflichtverteidigergebühren gemäß § 97 BRAGO geltend. Diese setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle mit Beschluss vom 11. April 2001 die Rechtsanwalt F. zustehenden Pflichtverteidigergebühren unter Zugrundelegung der Gebühren für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung an insgesamt 13 Hauptverhandlungstagen gemäß folgender Aufstellung auf 7.084, 94 DM fest:

Auf die Erinnerung des Vertreters der Landeskasse vom 25. März 2002 - und dieser abhelfend - setzte der Rechtspfleger die Rechtsanwalt F. aus der Staatskasse zu erstattenden Pflichtverteidigergebühren neu auf 1.986,85 DM = 1.015,86 Euro fest. Dabei legte er nur noch die Gebühren für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung an vier Hauptverhandlungstagen zugrunde, und zwar für die Termine vom 18. und 25. Januar 2001 sowie vom 1. und 8. Februar 2001. Begründet wurde dies damit, dass die Beiordnung von Rechtsanwalt F. als weiterem Pflichtverteidiger nur zur Wahrnehmung einzelner Hauptverhandlungstermine ab dem Zeitpunkt seiner Beiordnung durch den Beschluss vom 11. Januar 2001 erfolgt sei.

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Erinnerung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt F. vom 29. Oktober 2002 hat die Vorsitzende der Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluss vom 22. November 2002 zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich das von Rechtsanwalt F. mit Schreiben vom 29. November 2002 eingelegte und am 2. Dezember 2002 bei Gericht eingegangene "Rechtsmittel".

II.

Das eingelegte "Rechtsmittel" ist als Beschwerde gemäß § 98 Abs.3 BRAGO in Verbindung mit §§ 304 - 310, 311 a StPO zulässig und in der Sache begründet.

Rechtsanwalt F. hat gemäß §§ 83, 97 BRAGO Anspruch auf Pflichtverteidigergebühren auch für die Wahrnehmung der vor seiner Bestellung liegenden Hauptverhandlungstage, an denen er teilgenommen hat. Dies folgt aus § 97 Abs.3 BRAGO. Der Umstand, dass Rechtsanwalt F. erst am 11. Januar 2001 zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, führt nicht zu einer Beschränkung seiner Pflichtverteidigergebühren.

1.

Zwar wirkt die Bestellung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt der Bestellung, eine rückwirkende Bestellung ist nach allgemeiner Ansicht unzulässig Madert in: Gerold/Schmidt/v.Eicken/Madert, BRAGO, 15.Aufl., § 97 Rdn. 5 m. w. Nachw.).

Allerdings enthält § 97 Abs.3 BRAGO für die Vertretung des Angeklagten im ersten Rechtszug einen (gebührenrechtlichen) Sonderfall der rückwirkenden Beiordnung: Nach dieser - durch das KostenrechtsänderungsG 1994 eingeführten - Regelung erhält der Rechtsanwalt die Vergütung auch für seine Tätigkeit als Verteidiger vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung. Damit sollten, so die Begründung für die Neufassung, "einheitlich die Verteidigertätigkeiten vor der Bestellung im Sinne der Gleichstellung mit dem System der Wahlverteidigergebühren dem Regime des § 97 BRAGO unterstellt werden" (BT-Drucksache 12/6962 v. 4.3.94, S.100; vgl. auch Madert, a.a.O., § 97 BRAGO, Anm.5, 15). Die die Ansprüche des Pflichtverteidigers regelnde Bestimmung des § 97 BRAO knüpft an die Bestellung zum Pflichtverteidiger das Entstehen des vollen Gebühren- und Auslagenanspruchs. Der bzw. die für die Pflichtverteidigerbestellung zuständige Vorsitzende ist daher nicht befugt, die sich allein aus dem Gesetz ergebenden Gebühren- und Auslagenansprüche einzuschränken (OLG Frankfurt/Main, NJW 1980,1704).

Damit hat die Bestellung von Rechtsanwalt F. die vollen sich aus dem Gesetz ergebenden Gebühren- und Auslagenansprüche entstehen lassen (vgl. SenatsE v. 10.2.1998 - 2 Ws 676/97 = StV 1998,621 [622] m.w.Nachw.).

2.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass Rechtsanwalt F. zum "zweiten" Pflichtverteidiger neben der den Angeklagten von Anfang an verteidigenden Rechtsanwältin M.-N. bestellt worden ist.

Zwar lässt sich dem Verfahrensgang entnehmen, dass die Vorsitzende tatsächlich allen Beteiligten gegenüber klargestellt hatte, dass die Notwendigkeit der - zuvor abgelehnten - Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers neben Rechtsanwältin M.-N. nur für die Zeit von deren Verhinderung gesehen wurde. Bedurfte es aber eines zweiten Pflichtverteidigers nicht für das gesamte Verfahren, so könnte - im Sinne der angefochtenen Entscheidung - erwogen werden, wenigstens seine Ansprüche auf den Zeitraum seiner notwendigen Inanspruchnahme zu beschränken.

§ 97 Abs.3 BRAGO enthält jedoch weder eine Einschränkung, die es gestatten würde, diesen Umstand zum Anlass für eine Kürzung seiner Ansprüche als Pflichtverteidiger zu nehmen, noch kann von einer Gesetzeslücke ausgegangen werden, die ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung zum Nachteil des "zweiten" Pflichtverteidigers gestatten würde.

Zwar sehen die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff StPO) einen zweiten Pflichtverteidiger nicht vor. Dessen Bestellung erfolgt daher "extra legem". Gleichwohl ist die Möglichkeit die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers in der gerichtlichen Praxis seit langem anerkannt, sofern dies durch ein unabwendbares Bedürfnis gerechtfertigt ist. Im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 1984 - 2 BvR 275/83 (NJW 1984,2403 = NStZ 1984, 561) - darf sogar als anerkannt geltend, dass - im Fall des Freispruchs eines Angeklagten - auch die strenge Regelung des § 91 Abs.2 Satz 3 ZPO unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Strafverfahrens der Erstattungsfähigkeit der Kosten eines zweiten Pflichtverteidigers im Strafprozess nicht entgegensteht (vgl. dazu: Senat a.a.O., ebenso OLG Düsseldorf, NStZ 1985, 235; OLG Rostock, StV 1997,33; vgl. ferner für den Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers neben einem Wahlverteidiger: HansOLG Hamburg, MDR 1986, 518, OLG München, NStZ 1981, 194). Sowohl die Praxis der Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers in Ausnahmefällen als auch diese Rechtsprechung waren dem Gesetzgeber bei der Neufassung des § 97 Abs.3 BRAGO bekannt, ohne dass eine Einschränkung in die Vorschrift aufgenommen worden wäre. Es besteht daher kein Raum, eine solche Einschränkung im Wege der Auslegung der Vorschrift vorzunehmen.

3.

Damit hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle im Kostenfestsetzungsbeschluss vom 11. April 2001 die Rechtsanwalt F. zustehenden Pflichtverteidigergebühren zu Recht unter Berücksichtigung auch der vor seiner Bestellung liegenden Hauptverhandlungstermine sowie der Terminsauslagen und der sonstigen Kosten festgesetzt.

Diese betragen 7.084,94 DM = 3.622,47 Euro.

Wegen der Einzelheiten der Festsetzung kann auf den Beschluss vom 11. April 2001 Bezug genommen werden.

III.

Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 98 Abs.4 BRAGO).






OLG Köln:
Beschluss v. 13.12.2002
Az: 2 Ws 634/02


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