Bundespatentgericht:
Urteil vom 9. November 2004
Aktenzeichen: 3 Ni 18/03

(BPatG: Urteil v. 09.11.2004, Az.: 3 Ni 18/03)

Tenor

Das DD-Patent 279 687 wird im Umfang der Variante B) des Patentanspruchs 1 sowie der Unteransprüche 2 und 4, soweit diese auf die Variante B) des Anspruchs 1 rückbezogen sind, für nichtig erklärt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des durch Ausscheidung aus der unter Inanspruchnahme der Unionspriorität zweier Voranmeldungen in den Vereinigten Staaten von Amerika vom 3. Januar 1985 (Nr. 688 622) und vom 22. Januar 1985 (Nr. 693 258) am 6. Dezember 1985 beim damaligen Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR erfolgten Patentanmeldung 283 872 - 7 hervorgegangenen DD-Patents 279 687 A5 (Streitpatents), das ein "Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin" betrifft und fünf Patentansprüche mit folgendem Wortlaut umfasst:

"1. Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin, dadurch gekennzeichnet, dass A) Wirtszellen in einem entsprechenden Medium gezüchtet werden, die eine im wesentlichen in Abb. 3B dargestellte DNA-Sequenz enthalten, die wirksam an eine Expressions-Kontrollsequenz gebunden ist und das auf diese Weise von den Zellen und dem Medium produzierte Erythropoietin abgetrennt wirdoder B) eukaryontische Wirtszellen in einem entsprechenden Medium gezüchtet werden, die eine wie im wesentlichen in Abb. 4C dargestellte DNA-Sequenz enthalten, die wirksam an eine Expressions-Kontrollsequenz gebunden ist und das auf diese Weise von den Zellen und dem Medium produzierte Erythropoietin abgetrennt wird.

2. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Wirtszellen Säugerzellen sind.

3. Verfahren nach Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass die Säugerzellen 3T3-Zellen sind.

4. Verfahren nach Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass Säugerzellen Ovarienzellen des China-Hamsters (CHO) sind.

5. Verfahren nach Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass die betreffende DNA-Sequenz in einem Vektor beinhaltet ist, der auch die Rinder-Papilloma-Virus-DNA enthält."

Die Klägerin macht geltend, das Streitpatent sei nicht patentfähig, weil das Verfahren gemäß Patentanspruch 1 im Umfang der Variante B) sowie der Patentansprüche 2 und 4, soweit diese auf die Variante B) des Patentanspruches 1 rückbezogen sind, nicht neu sei und darüber hinaus nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Darüber hinaus seien die Prioritäten der amerikanischen Voranmeldungen zu Unrecht in Anspruch genommen. Auch sei das Streitpatent nicht patentfähig, weil es die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Schließlich fehle dem Streitpatent die Patentfähigkeit, weil sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgehe, in der sie bei dem damaligen Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR eingereicht worden ist. Zur Begründung beruft sie sich im wesentlichen auf folgende Unterlagen:

NK 1 DD 279 687 A5 NK 2 EP 0 205 564 B1 NK 3 EP 0 205 564 B2 NK 4 EP 0 411 678 B1 NK 5 EP 0 411 678 B2 NK 6 Lin et al, Proc Natl Acad Sci USA, November 1985, 82, S 7580 bis 7584 NK 7 Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA im Ein-

spruchsverfahren EP 0 205 564 vom 11. Oktober 1996 NK 8 Prioritätsdokument US 688 622 NK 9 Prioritätsdokument US 693 258 NK 10a,b Mitteilung des Deutschen Patent- und Markenamtes,Technisches Informationszentrum Berlin, DD-Patentverwaltung, vom 27. Januar 2003 bzw. 11. April 2003 NK 11 EP 0 148 605 A2 NK 12 DD 251 786 A5 NK 13 Prioritätsdokument US 655 841 NK 14 Prioritätsdokument US 675 298 NK 15 WO 86/03520 NK 16 Jacobs et al, Nature, Februar 1985 , 313, S 806 bis 810 NK 17 Anmeldungsunterlagen zur Stammanmeldung DD 251 788 des Streitpatentes NK 18 Mellon et al, Cell, 1981, 27, S 279 bis 288 NK 19 Punkt 9.4 des Protokolls zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtesin Sachen EP 02 05 564 NK 20 Miyake et al, J Biol Chem, 1977, 252, S 5558 bis 5564.

Die Klägerin beantragt, das DD-Patent 279 687 im Umfang der Variante B) des Patentanspruchs 1 sowie der Unteransprüche 2 und 4, soweit diese auf die Variante B) des Anspruchs 1 rückbezogen sind, für nichtig zu erklären.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise verteidigt sie das Streitpatent in der Fassung der Patentansprüche gemäß in der mündlichen Verhandlung überreichtem Hilfsantrag.

Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet wie folgt:

"1. Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin, dadurch gekennzeichnet, dass A) Wirtszellen in einem entsprechenden Medium gezüchtet werden, die eine im wesentlichen in Abb. 3B dargestellte DNA-Sequenz enthalten, die wirksam an eine Expressions-Kontrollsequenz gebunden ist und das auf diese Weise von den Zellen und dem Medium produzierte Erythropoietin abgetrennt wirdoder B) eukaryontische Wirtszellen in einem entsprechenden Medium gezüchtet werden, die eine wie im wesentlichen im Genom-Klon Lambda-HEPO 1 (ATCC 40154) hinterlegte DNA-Sequenz enthalten, die wirksam an eine Expressions-Kontrollsequenz gebunden ist und das auf diese Weise von den Zellen und dem Medium produzierte Erythropoietin abgetrennt wird."

Die mittelbar oder unmittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 5 entsprechen denen gemäß Hauptantrag.

Die Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und hält das Streitpatent in dem angegriffenen Umfang für patentfähig. Zur Stützung ihres Vorbringens verweist sie auf folgende Dokumente B1 Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA vom 11. Oktober 1996 in Sachen EP 0 205 564, Seite 18 B2 Erklärung von Dale D. Berkeley vom 4. Juni 1996 B3 MPEP, Section 103, Januar 1995, Seite 100-6 B4 Schreiben von Eric P. Schellin vom 20. Juli 1992 an das USPTO betr. Akteneinsicht B5 Schreiben des USPTO vom August 1992 über Gewährung der Akteneinsicht B6 Urteil des Korean Patent Court vom 14. Juli 2000 in Sachen der Nichtigkeitsklage gegen das koreanische Patent 101 875 B7A, B7B Kopien neuer Fotographien der Figur 4C der Prioritätsanmeldung US 688 622 B8 Analyse der Figur 4C des Prioritätsbeleges US 688 622 B9 Kopie der Hinterlegungsbescheinigung von ATCC für die genomischen Klone HEPO 1, HEPO 2, HEPO 3 und HEPO 6, datiert vom 10. Januar 1985, B10 Erklärung von Professor Bodo Rak von der Universität Freiburg vom 24. August 1999

Gründe

Die zulässige Klage erweist sich als begründet.

Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund führt zur Nichtigkeit des Streitpatents in dem im Tenor genannten Umfang, § 22 Abs 1 Abs 2 iVm § 21 Abs 1 Nr 1, Nr 2 und Nr 4; § 4 Abs. 1, § 5 ErstrG, § 5, § 6 des PatG der DDR vom 27. Oktober 1983.

I.

1. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin. Dabei handelt es sich um ein zirkulierendes Glykoprotein, das die Erythrozytenbildung in höheren Organismen stimuliert und als Arzneimittel u.a. zur Behandlung der Anämie verwendet wird, dessen Gebrauch in der praktischen Therapie aber auf Grund seiner geringen Verfügbarkeit bisher nicht geläufig war. Da die Lebenszeit menschlicher Erythrozyten ungefähr 120 Tage beträgt, müssen ständig Erythrozyten in relativ konstanter Anzahl neu produziert werden. Dies erfolgt bei der Reifung und Differenzierung der Erythroblasten im Knochenmark. Erythropoietin ist ein Faktor, der die Differenzierung weniger differenzierter Zellen zu Erythrozyten induziert. Mit Rücksicht auf eine mögliche Antigenwirkung ist es erwünscht, Erythropoietin für die Humantherapie aus Rohmaterial menschlichen Ursprungs herzustellen. Bisher erfolgte die Herstellung im allgemeinen durch Konzentrierung und Reinigung von Urin von Patienten mit hohem Erythropoietinspiegel, wie er beispielsweise bei aplastischer Anämie auftritt, der aber nur begrenzt verfügbar ist. Die Verwendung von Urin gesunder Menschen ist wegen des geringen Erythropoietingehalts und wegen des Vorhandenseins von Inhibierungsfaktoren problematisch, die eine gründliche Reinigung erforderlich machen. Die Gewinnung von Erythropoietin aus dem Blutplasma von Schafen kann beim Menschen Antigen-Wirkungen auslösen (Beschreibung Seite 1).

2. Nach den Angaben der Streitpatentschrift besteht die Aufgabe darin, ein Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin mit hohen Expressionsraten zur Verfügung zu stellen (vgl Streitpatentschrift Seite 1 Beschreibung Absatz 2 iVm Seite 2 Absatz 1 und 3).

3. Diese Aufgabe wird gelöst gemäß Patentanspruch 1 in der allein der Prüfung im Nichtigkeitsverfahren unterliegenden Alternative B) durch ein Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin durch die Schrittea. Züchten von eukaryontischen Wirtszellen in einem entsprechenden Medium, b. die Wirtszellen enthalten eine wie im wesentlichen in Abb. 4C dargestellte DNA-Sequenz, die wirksam an eine Expressionskontrollsequenz gebunden ist, c. das produzierte Erythropoietin wird von den Zellen und dem Medium abgetrennt, sowie gemäß Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag durch ein Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin durch die Schrittea. Züchten von eukaryontischen Wirtszellen in einem entsprechenden Medium, b. die Wirtszellen enthalten eine wie im wesentlichen im Genom-Klon Lambda-HEPO 1 (ATCC 40154) hinterlegte DNA-Sequenz, die wirksam an eine Expressionskontrollsequenz gebunden ist, c. das produzierte Erythropoietin wird von den Zellen und dem Medium abgetrennt.

II.

1.1. Der Patentanspruch 1 im angegriffenen Umfang der Verfahrensvariante B) gemäß Hauptantrag erweist sich als nicht bestandsfähig, weil sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie beim damaligen Amt für Erfindungs- und Patentwesen der Deutschen Demokratischen Republik ursprünglich eingereicht worden ist.

Nach der Variante B) des mit dem Patentanspruch 1 angegebenen Verfahrens zur Herstellung von Erythropoietin kommen eukaryontische Wirtszellen zum Einsatz, die eine wie im wesentlichen in Abb 4c dargestellte DNA-Sequenz enthalten. Mit den Anmeldungsunterlagen eingereicht worden ist jedoch - wie aus der Amtsakte AP 251 788 zu ersehen ist - als Abbildung 4c eine Darstellung der genomischen DNA-Sequenz, bei der die die Nukleotid-Abfolge angebenden Buchstaben in weiten Bereichen nicht identifizierbar sind (vgl. aaO Bl 14). Dies trifft nicht nur für die in Kleinbuchstaben wiedergegebenen Intron-Sequenzen und nicht kodierenden 3'- und 5'- Abschnitte zu, bei denen auf Grund des unklaren Schriftbildes insbesondere die Buchstaben "a", "c" und "t" nicht differenziert werden können. Es trifft in gleicher Weise auf die in Großbuchstaben angegebenen Exon-Bereiche zu. Selbst dann, wenn die Angabe einzelner Buchstaben zu erkennen ist, ist deren Identifizierbarkeit, vor allem im Hinblick auf die Buchstaben "C" und "G", nicht gegeben. Eine lesbare Fassung, die die eindeutige Identifizierung der in Rede stehenden DNA-Sequenz zulässt und sodann den erteilten und veröffentlichten Unterlagen zu Grunde lag, ist dagegen erst nach der Trennung eines Teils der Stammanmeldung in Folge einer amtsseitigen Aufforderung vom 24. Juli 1987 zur Akte der Ausscheidungsanmeldung AP 279 687, aus der das Streitpatent hervorgegangen ist, gelangt (vgl aaO Bl 78 und 132/133). Das Nachreichen von Strukturformeln - auch die Angabe von DNA-Sequenzen ist als solche anzusehen - ist aber nur zur Charakterisierung von Verfahrensprodukten und auch nur für den Fall zulässig, in dem die zur Gewinnung des Produktes anzuwendenden Verfahrensmaßnahmen, die auch hier alleine Gegenstand des Schutzes sind, nicht verändert werden (vgl BPatG GRUR 1973 313, 314 li Sp Abs 1 - Cycloalkene). Nachdem ferner keiner Stelle der maßgeblichen Unterlagen Angaben zu entnehmen sind, die es dem Fachmann, einem im Team arbeitenden Biochemiker oder Molekularbiologen mit mehrjähriger praktischer Erfahrung, erlauben könnten, unter deren Zugrundelegung auf die vollständige in Rede stehende genomische DNA-Sequenz zu schließen, wurde mit der Nachreichung der leserlichen Fassung der Abbildung 4C das ursprünglich vorliegende Anmeldungsbegehren erweitert. Erst mit dieser Änderung wurde dem Fachmann nämlich die entscheidende Information über die wahre Beschaffenheit der in Abbildung 4C dargestellten DNA-Sequenz vermittelt, die er so den ursprünglich vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen konnte (vgl Schulte PatG 6. Aufl § 2 Rdn 96, § 21 Rdn 53ff und § 38 Rdn 9).

Die Patentinhaberin trägt in diesem Zusammenhang vor, dass der Fachmann jedenfalls die Offenbarung der die Proteine kodierenden Abschnitte, dh der Exon-Bereiche, in den eindeutig lesbaren Figuren 3B, 7, 8, und 9 des Streitpatentes finden werde, welche die diese Abschnitte enthaltende cDNA-Sequenz vollständig wiedergäben. Nur diese Sequenz-Abschnitte seien es auch, die für den Erfolg des Verfahrens wesentlich seien, weshalb es auf die möglicherweise nicht identifizierbaren Introns und nicht kodierenden 3'- und 5'- Bereiche überhaupt nicht ankäme.

Dieser Argumentation kann sich der Senat jedoch nicht anschließen. Zum einen dient die Abbildung 4C der Darstellung der genomischen, dh alle kodierenden und nicht kodierenden Abschnitte umfassenden DNA-Sequenz (vgl auch Streitpatentschrift S 5/6 Beispiel 1), im Gegensatz zu den Abbildungen 3B, 7, 8 und 9, die nur die Sequenz der in der Verfahrensvariante A) des Patentanspruches 1 eingesetzten, keine Intron-Abschnitte aufweisenden cDNA angeben. Zum anderen enthalten die Intron-Abschnitte - wie die Klägerin, von der Streitpatentinhaberin unwidersprochen, vorgetragen hat - Elemente, wie Promotoren, Enhancer und Spleißsignale, die sehr wohl Einfluß auf den Verfahrensverlauf nehmen und damit zum Ergebnis des beanspruchten Verfahrens beitragen.

Auch der Hinweis der Beklagten, die DNA-Sequenz gemäß Abbildung 4C sei anhand des hinterlegten Klons -HEPO 1 direkt offenbart, kann zu keiner anderen Beurteilung der Sachlage führen. So wird mit der Hinterlegung der in der Streitpatentschrift genannten Genom-Klone, wie dem Klon -HEPO 1, zweifelsohne die in Rede stehende DNA-Sequenz insofern offenbart, als damit die Möglichkeit eröffnet wird, durch Rückgriff auf diese Klone von der DNA-Sequenz an sich in dem mit dem Patentanspruch 1 Variante B) angegebenen Verfahren Gebrauch zu machen, womit die Wiederholbarkeit des Verfahrens gegeben ist. Die DNA-Sequenz als Bestandteil des hinterlegten Klones ist jedoch damit im Hinblick auf ihre spezielle Nukleotidsequenz für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig erkennbar. Das Wissen um die Existenz und die Eigenschaften einer Substanz in einer gegebenen stofflichen Zusammensetzung oder in einem Organismus ist nicht mit einer impliziten Offenbarung der diesem Stoff eigenen Struktur verbunden. Vielmehr bedarf es im allgemeinen umfangreicher weiterer Untersuchungen, um solche Stoffe in die Hand zu bekommen und sodann deren Struktur aufzuklären. Daß dies zum maßgeblichen Zeitpunkt, nämlich dem Anmeldetag des Streitpatentes, auch auf die Analyse von DNA-Sequenzen zutraf, wird durch die Auswertung eines weiteren in dieser Zeit - dh im Jahr 1985 - veröffentlichten Sequenzprotokolls bestätigt, nach dem es den damit befassten Fachleuten nicht möglich war, die Gesamtheit der vorhandenen Basen zweifelsfrei zu bestimmen (vgl zB NK 11 S 43 Tabelle VI Z 6 bis 8 und S 47 Tabelle VI (Fortsetzung) vorletzte Zeile iVm S 48 Z 8 bis 11 und Z 29 bis 33). Daher handelt es sich bei der Aufklärung der Sequenz einer genomischen DNA zum maßgeblichen Zeitpunkt nach Überzeugung des Senates um einen Vorgang, der vom Fachmann nicht routinemäßig, ohne weitere Überlegungen und ohne den zumutbaren Aufwand zu überschreiten, durchgeführt werden konnte.

1.2. Bezüglich der sich anschließenden und im Umfang der Variante B) des Patentanspruches 1 angegriffenen Patentansprüche 2 und 4, hat die Beklagte nicht vorgetragen, dass ihnen ein eigenständig patentfähiger Gehalt zukäme. Dies ist auch für den Senat nicht ersichtlich.

Sie erweisen sich im angegriffenen Umfang gleichfalls als nicht bestandsfähig, weil ihr Gegenstand auf Grund ihres Rückbezuges auf den Patentanspruch 1 ebenfalls über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung hinausgeht.

2. Die von der Beklagten hilfsweise verteidigte Fassung des Patentanspruches 1 Variante B) gemäß Hilfsantrag erweist sich ebenfalls als nicht bestandsfähig.

2.1. Der neue Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag im Umfang der Variante B) basiert auf dem erteilten Patentanspruch 1 iVm der Beschreibung S 6 Z 35 bis 41 und S 7 Z 15 bis 18. Das Patentbegehren hält sich im Umfang der ursprünglichen Offenbarung. Weder der Patentgegenstand noch der Schutzbereich des Streitpatentes sind hierdurch erweitert worden. Der Ersatz der im erteilten Patentanspruch 1 Variante B) angegebenen Formulierung "in Abb. 4C dargestellte" durch den Passus "im Genom-Klon -HEPO 1 (ATCC 40154) hinterlegte" ist zulässig.

Wie von beiden Parteien übereinstimmend vorgetragen worden ist, war die Fachwelt am Anmeldetag nicht in der Lage, eine genomische DNA-Sequenz, wie sie mit der Abbildung 4C dargestellt wird, auf synthetischem Wege herzustellen. Wollte der Fachmann daher das mit dem Patentanspruchs 1 Variante B) angegebene Verfahren durchführen, so musste er unabhängig von dieser Abbildung immer die in den Beispielen 1, 4 und 7 enthaltenen Angaben zur Auslegung heranziehen. Er musste nämlich in jedem Fall auf die mit diesen Beispielen offenbarten Ausführungsformen, dh auf die hinterlegten Genom-Klone -HEPO 1, -HEPO 2, -HEPO 3 und -HEPO 6 als Quellen der in Rede stehenden DNA-Sequenz zurückgreifen. Damit erkannte der Fachmann aber die Klone als zur Erfindung gehörig, weil nur sie ihm den Zugriff auf die spezielle DNA-Sequenz gestatteten, dh ihm nur mit diesen die in Rede stehende DNA-Sequenz an sich offenbart worden ist, und er nur so in der Lage war, das beanspruchte Verfahren auszuführen. Der nunmehr mit dem Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag vorgenommene Austausch eines Merkmals - die Abbildung 4C - gegen ein gleich wirkendes Merkmals - die Angabe der DNA-Sequenz-Quelle in Form des hinterlegten Klones -HEPO 1 - stellt demnach eine Beschränkung auf das im Beispiel 1 Offenbarte und damit das mit dem Patentanspruchs 1 Erteilte dar. Die vorgenommene Änderung ist daher zulässig und stellt keine - wie die Klägerin vortrug - neue Kombination von Merkmalen in Form eines Aliuds dar (vgl auch Busse PatG 6. Aufl § 38 Rdn 41 iVm Rdn 33 und 34).

2.3. Das Verfahren gemäß Patentanspruch 1 im Umfang der Variante B) erweist sich aber gegenüber der Vorveröffentlichung von Lin et al in Proc Natl Acad Sci USA vom November 1985 (NK 6) als nicht mehr neu, weil das Streitpatent die Unionspriorität der US-Anmeldungen 688 622 (NK 8) und 693 258 (NK 9) vom 3. Januar 1985 und 22. Januar 1985 nicht in Anspruch nehmen kann.

Prioritätsbegründend kann eine frühere Anmeldung nur dann sein, wenn sie alle wesentlichen Merkmale der Erfindung in der Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen deutlich offenbart, dh, wenn die Voranmeldung dieselbe Erfindung betrifft wie die Nachanmeldung. Zur Überprüfung wird dabei nach den gleichen Grundsätzen vorgegangen wie bei der Prüfung der ursprünglichen Offenbarung. Diese ist dann gegeben, wenn der Fachmann den Gegenstand der Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann, wobei auch all jenes dazu zählt, was für den Fachmann als selbstverständlich oder nahezu unerlässlich zu ergänzen ist und was er bei aufmerksamer Lektüre der früheren Anmeldung ohne weiteres erkennt und in Gedanken mitliest. Eine Lehre geht aber über den Inhalt der prioritätsbegründenden Anmeldung hinaus, wenn die Gesamtheit dieser Unterlagen nicht erkennen lässt, dass sie als Gegenstand von dem mit der prioritätsbegründenden Anmeldung verfolgten Schutzbegehren umfasst sein soll (vgl Busse PatG 6. Aufl § 41 Rdn 18, 22 und 29 iVm § 34 Rdn 235, 242 und 244 sowie § 41 Rdn 30 und 32; BGH GRUR 2002 146, 148 li Sp - Luftverteiler sowie BGH GRUR 2004 133, 135 re Sp - Elektronische Funktionseinheit).

Dieses trifft im vorliegenden Fall zu. Die Nachanmeldung weist gegenüber den prioritätsbegründenden Anmeldungen NK8 und NK9 einen Überschuß auf, weil das Merkmal "eine wie im wesentlichen im Genom-Klon -HEPO 1 (ATCC 40 154) hinterlegte DNA-Sequenz" so im Zusammenhang diesen Unterlagen nicht zu entnehmen ist.

Die Dokumente NK8 und NK9 geben übereinstimmend jeweils - wie auch das Streitpatent - ein Verfahren zur Herstellung von Erythropoietin unter Verwendung eukaryontischer Wirtszellen an, die eine mit dem Genom-Klon -HEPO 1 hinterlegte DNA-Sequenz enthalten (vgl NK8, NK9 jeweils Patentansprüche 20 und 41 bis 45 iVm Beispiel 12). Wie den Beispielen und der Beschreibung weiter zu entnehmen ist, weist die aus diesem Genom-Klon -HEPO 1 isolierte, für Erythropoietin kodierende DNA-Sequenz die in der Abbildung 4C dargestellte Basen-Abfolge auf (vgl jeweils Beispiel 1 iVm Beschreibung S 10/11 übergreifender Absatz). Auf diese Abbildung 4C als Darstellung der kompletten Nukleotidsequenz wird gemäß NK8 und NK9 aber auch im Zusammenhang mit den Erythropoietin kodierenden DNA-Sequenzen der dort im weiteren angegebenen, von einander unabhängigen, hinterlegten Genom-Klone -HEPO 2, -HEPO 3 und -HEPO 6 verwiesen (vgl jeweils Beispiel 4 iVm Beschreibung S 10/11 übergreifender Absatz). Es wird sogar dann auf die Abbildung 4C Bezug genommen, wenn die Erythropoietin kodierende Nukleotidsequenz eines nicht weiter charakterisierten genomischen DNA-Klons - dh in dessen allgemeinster beschreibbaren Form - definiert wird (vgl jeweils Patentansprüche 24 und 25). Somit wird in den prioritätsbegründenden Unterlagen im Zusammenhang mit der Erythropoietin kodierenden genomischen DNA-Sequenz stets nur von einer speziellen Nukleotidsequenz berichtet. Damit wird dem Fachmann mit den US-Anmeldungen NK8 und NK9 explizit nur eine Erythropoietin kodierende genomische DNA-Sequenz offenbart. Auch allgemeine Hinweise, die den Fachmann zum Anmeldetag des Streitpatentes hätten veranlassen können, neben dieser explizit genannten DNA-Sequenz weitere, dieser im wesentlichen entsprechende DNA-Sequenzen in Erwägung zu ziehen, sind - entgegen der Auffassung der Streitpatentinhaberin - weder den Ansprüchen noch der Beschreibung zu entnehmen. So wird sogar im Zusammenhang mit in der Beschreibung enthaltenen verallgemeinernden Ausführungen ausdrücklich auf die Patentansprüche verwiesen, mit denen zwar nicht näher charakterisierte genomische DNA-Klone beansprucht werden, diese aber alle übereinstimmend eine spezielle Nukleotidsequenz, wie in Abbildung 4C dargestellt, enthalten (vgl Beschreibung S 44 Abs 2 iVm Patentansprüchen 24 und 25). Der Fachmann ergänzt den Einsatz genomischer DNA-Sequenzen, die eine von der einzigen explizit offenbarten genomische DNA-Sequenz abweichende Basen-Abfolge aufweisen, auch deshalb nicht als selbstverständlich oder nahezu unerlässlich, weil von allelomorphischen Variationen lediglich im Zusammenhang mit der EPO-cDNA nicht nur allgemein berichtet wird, sondern dieses auch ausschließlich in Verbindung mit den die cDNA betreffenden Beispielen 10, 11, 13 und 14, nicht aber mit den die genomische DNA-Sequenz betreffenden Beispielen 1, 4 oder 12 (vgl jeweils Beschreibung S 11 Abs 2 iVm S 15 Abs 2 und S 17 Abs 3).

Auch die Einbeziehung des allgemeinen Fachwissens kann zu keiner anderen Beurteilung führen. Selbst dann, wenn nur die Modifikationen der genomischen DNA-Sequenz in den nicht kodierenden Abschnitten, dh in den nicht wesentlichen Intron- und den 3'- und 5'-Bereichen, in Betracht gezogen werden, so handelt es sich doch auch hier um die Schaffung neuer, selbständiger Nukleotidsequenzen. Zudem können Änderungen in den nicht kodierenden Bereichen mit Veränderungen im Verfahrensablauf - und Gegenstand des Patentanspruches 1 ist ein Verfahren - einhergehen, weil sie Sitz der die Transkription regulierenden Promotor- und Enhancer-Elemente sowie der Spleißstellen sind. Angesichts der für die in Rede stehende genomische DNA-Sequenz angegebenen Basenzahl von 3400 (vgl Streitpatentschrift Abb 4C), war es für den Fachmann zum maßgeblichen Zeitpunkt, dh im Jahr 1985, jedoch nicht ohne weiteres erkennbar, welche Modifikationen der Nukleotidsequenz zu einer wie im wesentlichen im Genom-Klon -HEPO 1 (ATCC 40 154) hinterlegten, aber hiervon unterschiedlichen DNA-Sequenz führen könnten. Vielmehr bedurfte es zu deren Bereitstellung und Identifizierung vorausgehender umfangreicher Nachforschungen.

Nukleotid-Sequenzen, die nicht exakt, aber doch noch im wesentlichen der mit dem Klon -HEPO 1 hinterlegten DNA-Sequenz entsprechen und als Erythropoietin kodierende DNA-Sequenz im mit dem Patentanspruch 1 angegebenem Verfahren eingesetzt werden können, werden daher von den US-Anmeldungen 688 622 (NK8) und 693 258 (NK9) weder explizit mitumfasst noch sind sie für den Fachmann diesen Unterlagen unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, weshalb sie dort auch nicht als zur Erfindung gehörend offenbart sind. Die Priorität dieser früheren Anmeldungen kann daher für das Streitpatent insoweit nicht in Anspruch genommen werden.

2.3.2. Die von der Klägerin entgegengehaltene wissenschaftliche Veröffentlichung von Lin et al in Proc Natl Acad Sci USA vom November 1985 (NK6) ist daher bei der Neuheitsprüfung zu berücksichtigen.

Dieses Dokument beschreibt ein Verfahren zur Herstellung von humanem Erythropoietin unter Verwendung von eukaryontischen Wirtszellen. Dazu wird zunächst das menschliche EPO aus dem Urin von Patienten mit aplastischer Anämie isoliert und einer Trypsin-Verdauung unterzogen. Aus diesen so erhaltenen Fragmenten werden sodann nach Auftrennung und Isolierung zwei Aminosäuresequenzen EpV und EpQ erhalten, von denen das Heptapeptid EpV = Val-Asn-Phe-Tyr-Ala-Trp-Lys für das Screening einer menschlichen Genom-Bibliothek im Charon 4A-Bakteriophagen-Lambda nach Lawn et al verwendet wird (vgl S 7580 li Sp Abs 4, re Sp insbes Abs 1 und 3, S 7581 li/re Sp übergreifender Abs und S 7582 re Sp Abs 3). Die Expression des auf diese Weise und über weitere dem Fachmann bekannte Verfahrensschritte erhaltenen genomischen EPO-Gens erfolgt sodann über CHO-Zellen, dh über eukaryontische Wirtszellen, wobei in Folge ein humanes Erythropoietin hergestellt wird, das die volle bioligische Aktivität aufweist (vgl S 7581 li Sp Abs 2, S 7582 li Sp Abs 7 bis re Sp Abs 2 und S 7583 re/li Sp übergreifender Abs).

Diese Maßnahmen entsprechen aber genau jenen, die auch gemäß Streitpatent ergriffen werden, um unter Verwendung der genomischen DNA-Seqenz in eukaryontischen Wirtszellen Erythropoietin herzustellen (vgl S 3 Abs 4 bis 6 iVm S 5/6 Beispiel 1 und S 10 Beispiel 12).

Eine chemische Verbindung - auch eine Nukleotidsequenz ist unter diese Bezeichnung zu subsumieren - steht jedoch bereits dann dem Fachmann zur Verfügung, wenn er aufgrund der Angaben in einer vorveröffentlichten Druckschrift ohne weiteres in die Lage versetzt wird, die diese chemische Verbindung betreffende Erfindung auszuführen, dh den betreffenden Stoff in die Hand zu bekommen (vgl BGH GRUR 1988 447, 449 li/re Sp a), b) - Fluoran).

Nachdem daher - wie vorstehend ausgeführt - die Isolierung der Erythopoietin kodierenden genomischen DNA-Sequenz gemäß NK6 unter Anwendung der gleichen Verfahrensmaßnahmen durchgeführt wird, wie im Streitpatent, ist davon auszugehen, dass bereits gemäß Dokument NK6 eine genomische DNA-Sequenz zur Verfügung stand, die im wesentlichen der im Genom-Klon -HEPO 1 hinterlegten DNA-Sequenz entspricht. Nachdem diese DNA-Sequenz ferner ebenfalls wirksam an eine Expressions-Kontrollsequenz gebunden ist, in einer in einem entsprechenden Medium gezüchteten eukaryontischen Wirtszelle exprimiert wird und das auf diese Weise von den Zellen und dem Medium produzierte Erythropoietin abgetrennt wird (vgl S 7582 li Sp Abs 7 bis re Sp Abs 2), ist die Neuheit der mit Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag angegebenen Verfahrens Variante B) gegenüber der Veröffentlichung Nk6 nicht gegeben.

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag im Umfang der angegriffenen Variante B) kann somit mangels Neuheit keinen Bestand haben.

2.3.3. Bezüglich der sich anschließenden Patentansprüche 2 und 4 im Umfang der Variante B) des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag hat die Beklagte nicht vorgetragen, dass ihnen ein eigenständiger Gehalt zukäme. Dies ist für den Senat auch nicht ersichtlich, nachdem gemäß NK6 als Wirtszellen gleichfalls Säugetierzellen, und zwar Ovarienzellen des China-Hamsters (CHO), eingesetzt werden (vgl S 7580 li Sp "Abstract" und S 7582 li Sp Abs 7).

Diese Patentansprüche fallen daher im Umfang der Variante B) gemäß Patentanspruch 1 ebenfalls der Nichtigkeit anheim.

Bei diesem Ergebnis kommt es auf den Vortrag in dem nach Schluß der mündlichen Verhandlung eingegangenen - und damit nicht zu berücksichtigenden - Schriftsatz der Klägerin vom 30. November 2004 auch inhaltlich nicht an.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG ivm § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.

Hellebrand Dr. Wagner Brandt Dr. Proksch-Ledig Dr. Gerster Na






BPatG:
Urteil v. 09.11.2004
Az: 3 Ni 18/03


Link zum Urteil:
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