Bundespatentgericht:
Urteil vom 12. Mai 2010
Aktenzeichen: 4 Ni 21/09, 4 Ni 15/09

(BPatG: Urteil v. 12.05.2010, Az.: 4 Ni 21/09, 4 Ni 15/09)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist im Register eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 824 731 (Streitpatent), das am 22. April 1996 unter Inanspruchnahme einer US-Priorität vom 9. Mai 1995 angemeldet wurde und in Kraft ist. Das Patent betrifft ein Verfahren und Gerät zum Bestimmen der Fahrzeugsteuer und umfasst 25 Ansprüche, von denen die Ansprüche 9, 11, 12 und 16 angegriffen sind. Wegen des Wortlauts dieser Ansprüche wird auf die Streitpatentschrift EP 0 824 731 B1 verwiesen.

Die Erteilung des Streitpatents wurde am 15. November 2006 veröffentlicht. Gegen das Patent wurden mehrere Einsprüche eingelegt; die Klägerin, die von der Beklagten vor dem Landgericht Düsseldorf wegen behaupteter Verletzung der Ansprüche 9, 11, 12 und 16 des Streitpatents verklagt wurde, ist dem Einspruchsverfahren beigetreten. Das Einspruchsverfahren ist in erster Instanz vor dem Europäischen Patentamt anhängig.

Die Klägerin macht geltend, der Gegenstand der angegriffenen Patentansprüche sei nicht patentfähig, nämlich nicht neu gegenüber dem Gegenstand der deutschen Offenlegungsschrift DE 44 27 392 A1. Anmeldetag der dieser Offenlegungsschrift zu Grunde liegenden Patentanmeldung ist der 3. August 1994, Offenlegungstag ist der 8. Februar 1996.

Die Klägerin ist der Ansicht, die Nichtigkeitsklage sei trotz des anhängigen Einspruchsverfahrens zulässig, weil die vorgenannte Offenlegungsschrift, auf die sie den Nichtigkeitsgrund der fehlenden Neuheit stützt, im europäischen Verfahren kein relevanter Stand der Technik gem. Art. 54 Abs. 3 EPÜ sei und folglich im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt nicht herangezogen werden könne. Die Nichtigkeitsklage könne deshalb trotz des laufenden Einspruchsverfahrens ungeachtet der Vorschrift des § 81 Abs. 2 S. 1 PatG zulässig erhoben werden. Die Klägerin beruft sich insoweit auf die Entscheidung "Schlauchbeutel" des Bundespatentgerichts (GRUR 2002, 1045 f.).

Hilfsweise komme die Aussetzung des Nichtigkeitsverfahrens bis zum Abschluss des europäischen Einspruchsverfahrens in Betracht, wie dies der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung "Strahlungssteuerung" (GRUR 2005, 967 ff.) angeregt habe.

Die Klägerin beantragt, das europäische Patent 0 824 731 mit Wirkung für Deutschland im Umfang der Ansprüche 9, 11, 12 und 16 für nichtig zu erklären, hilfsweise, das Verfahren bis zum Abschluss des europäischen Einspruchsverfahrens auszusetzen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass die Klage wegen des derzeit anhängigen Einspruchsverfahrens unzulässig sei, und trägt vor, es werde voraussichtlich noch mehrere Jahre dauern, bis das Einspruchsverfahren abgeschlossen sei. Ausnahmen vom in § 81 Abs. 2 S. 1 PatG normierten Subsidiaritätsprinzip seien nach dem Gesetz nicht vorgesehen; darüber hinaus könne auch eine Auslegung dieser Vorschrift nach Sinn und Zweck nicht zur Zulässigkeit der vorliegenden Nichtigkeitsklage führen. Denn die Subsidiarität des Nichtigkeitsverfahrens gegenüber dem Einspruchsverfahren solle sich widersprechende Entscheidungen vermeiden. Es sei noch nicht bekannt, ob und mit welchem Inhalt das Streitpatent im Einspruchsverfahren aufrecht erhalten bleibe; die Durchführung eines Nichtigkeitsverfahrens in einer solchen Schwebesituation solle gerade vermieden werden. Dies habe das Bundespatentgericht auch in seiner Entscheidung "Torasemid" (GRUR 2007, 261 ff.) bestätigt. Die von der Klägerin zitierte Entscheidung "Schlauchbeutel" des Bundespatentgerichts (a. a. O.) betreffe einen hier nicht gegebenen Sonderfall.

Gründe

Die Klage war abzuweisen, weil sie wegen des anhängigen europäischen Einspruchsverfahrens gemäß § 81 Abs. 2 S. 1 PatG derzeit unzulässig ist.

1. Nach § 81 Abs. 2 S. 1 PatG kann Nichtigkeitsklage nicht erhoben werden, solange ein Einspruchsverfahren anhängig ist. Das Streitpatent ist Gegenstand eines derzeit vor dem Europäischen Patentamt anhängigen Einspruchsverfahrens.

Die Vorschrift des § 81 Abs. 2 S. 1 PatG ist grundsätzlich auf das europäische Einspruchsverfahren anzuwenden, vgl. BGH GRUR 2005, 967 f. -Strahlungssteuerung. Abgesehen davon, dass § 81 Abs. 2 S. 1 PatG nicht zwischen Einspruchsverfahren vor dem Deutschen Patentund Markenamt und dem Europäischen Patentamt differenziert, ist auch die Interessenlage dieselbe: es sollen einander widersprechende Entscheidungen vermieden werden. Vor Abschluss des Einspruchsverfahrens -gleich ob dieses vor dem Deutschen Patentund Markenamt oder vor dem Europäischen Patentamt geführt wird -steht nicht fest, mit welchem Inhalt das Patent letztlich Bestand haben wird. Es ist insbesondere nicht auszuschließen, dass ein Patent im Einspruchsverfahren einen Inhalt erhält, dem der in einem parallelen Nichtigkeitsverfahren geltend gemachte Stand der Technik nicht entgegensteht, obwohl er in einem vor Abschluss des Einspruchsverfahrens durchgeführten Nichtigkeitsverfahren zur Nichtigerklärung des Patents in seiner ursprünglich erteilten Fassung führen könnte (BGH a. a. O. -Strahlungssteuerungm. w. N.). Dies gilt auch im vorliegenden Verfahren: erst nach Abschluss des europäischen Einspruchsverfahrens wird feststehen, welchen Inhalt die angegriffenen Ansprüche des Streitpatents haben werden und ob ihnen dann die DE 44 27 392 A1 neuheitsschädlich entgegen steht.

Es kann dahinstehen, ob in Ausnahmefällen ein Abweichen von § 81 Abs. 2 S. 1 PatG zugelassen werden kann (vgl. hierzu Benkard/Rogge, Patentgesetz, 10. Auflage, Rdnr. 21 zu § 81 PatG, m. w. N.; Keukenschrijver, Patentnichtigkeitsverfahren 3. Auflage, Rdnr. 64). Abweichend von § 81 Abs. 2 S. 1 PatG hat das Bundespatentgericht in der von der Klägerin zitierten Entscheidung "Schlauchbeutel" (GRUR 2002, 1045 f.) die Nichtigkeitsklage trotz vor dem Europäischen Patentamt anhängigen Einspruchsverfahrens in einem Fall für zulässig erachtet, in dem die Nichtigkeit -wie vorliegend -mit einer neuheitsschädlichen nachveröffentlichten nationalen Anmeldung begründet wurde, die im europäischen Einspruchsverfahren nicht als Stand der Technik geltend gemacht werden kann. Anders als im vorliegenden Fall waren jedoch zudem die jüngere europäische und die ältere nationale Anmeldung identisch (BPatG Schlauchbeutel, a. a. O.), so dass die dem angegriffenen europäischen Patent zugrunde liegende Anmeldung keinen im Vergleich zur älteren nationalen Anmeldung zusätzlichen Offenbarungsgehalt aufwies, mit dem ein angegriffener Anspruch hätte beschränkt werden können, ohne dass dieser Inhalt auch in der älteren nationalen Schrift neuheitsschädlich offenbart gewesen wäre. Mit anderen Worten: bei identischen Anmeldungen hat der Patentinhaber keine Möglichkeit, durch eine Beschränkung seines Patents mit zusätzlichen in der Patentschrift offenbarten Merkmalen die fehlende Neuheit gegenüber der identischen -und damit die identischen Merkmale offenbarenden älteren Anmeldung zu "reparieren".

Unabhängig davon, ob man dieser Entscheidung folgt (sie wurde durchaus kontrovers diskutiert, vgl. Benkard/Rogge, a. a. O.), ist der ihr zugrunde liegende Sonderfall, dass die nachveröffentlichte, aber prioritätsältere nationale Anmeldung identisch mit der des Streitpatents ist, im vorliegenden Nichtigkeitsverfahren nicht gegeben, denn ganz offensichtlich sind die Streitpatentschrift (bzw. die zugehörige Anmeldung) und die DE 44 27 392 A1 nicht identisch, und auch der Offenbarungsgehalt des Streitpatents einerseits ist mit dem der DE 44 27 392 A1 andererseits nicht identisch. Mithin hat es die Beklagte in der Hand, ggf. das Patent im Einspruchsverfahren beschränkt zu verteidigen und sich hierbei -falls erforderlich -von der DE 44 27 392 A1 abzugrenzen. Es steht somit heute noch nicht fest, welchen Inhalt das Streitpatent am Ende des Einspruchsverfahrens haben wird. Dementsprechend ist auch nicht auszuschließen, dass die angegriffenen Patentansprüche im Einspruchsverfahren einen Inhalt erhalten, dem der nunmehr geltend gemachte Stand der Technik nicht entgegensteht, selbst wenn -was offen ist und worauf es vorliegend auch nicht ankommt -der Vortrag der Klägerin zutreffen sollte und die DE 44 27 392 A1 die angegriffenen Ansprüche in ihrer erteilten Fassung vorweg nimmt. § 81 Abs. 2 S. 1 PatG soll gerade ausschließen, dass in einer solchen Situation der Patentinhaber sein Patent oder Teile davon verliert.

Folge ist, dass die Nichtigkeitsklage als (derzeit) unzulässig abzuweisen war, weil die Zulässigkeitsvoraussetzung der Nichtanhängigkeit eines Einspruchsverfahrens bei Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen hat.

2. Das Verfahren war auch nicht auszusetzen.

Ob eine Aussetzung des Verfahrens gem. § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 148 ZPO im Anwendungsbereich des § 81 Abs. 2 S. 1 PatG überhaupt möglich ist, kann zweifelhaft sein. Denn man kann durchaus § 81 Abs. 2 PatG als lex specialis gegenüber § 148 ZPO ansehen. So führt der Bundesgerichtshof in der Entscheidung "Strahlungssteuerung" (a. a. O., S. 967, 968) aus, dass § 81 Abs. 2 PatG das Nichtigkeitsverfahren gegenüber dem Einspruchsverfahren subsidiär ausgestaltet und eine Aussetzung des Nichtigkeitsverfahrens bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens kraft Gesetzes bewirkt, gleichzeitig parallele Verfahren über den Rechtsbestand eines Patents vermeidet und das Bundespatentgericht von Nichtigkeitsverfahren entlastet. Dagegen schließt Keukenschrijver (a. a. O.) eine Aussetzung nach § 148 ZPO bei unmittelbar bevorstehendem Abschluss des Einspruchsverfahrens nicht grundsätzlich aus, sondern weist darauf hin, dass nicht geklärt sei, ob ein Zuwarten oder u. U. eine Aussetzung in einem solchen Fall möglich ist.

Vorliegend konnte letztendlich dahinstehen, ob eine Aussetzung nach § 148 ZPO in einem Patentnichtigkeitsverfahren bei noch anhängigem Einspruchsverfahren im Einzelfall -insbesondere unter den von Keukenschrijver angegebenen Voraussetzungen -möglich ist. Denn der Senat hält unter den Voraussetzungen des vorliegenden Falles eine Aussetzung jedenfalls nicht für geboten.

Die Anordnung einer Aussetzung nach § 148 ZPO ist eine Ermessensentscheidung. Der Senat hat bei seiner Entscheidung, von einer Aussetzung abzusehen, insbesondere die Wertung des Gesetzgebers berücksichtigt, nach der die gesetzlich vorgesehene Folge der Erhebung einer Nichtigkeitsklage während des noch laufenden Einspruchsverfahrens die Unzulässigkeit dieser Klage ist; ferner, dass im Streitfall nicht in absehbarer Zeit und erst recht nicht unmittelbar bevorstehend mit der Beendigung des Einspruchsverfahrens (einschließlich eines möglichen Beschwerdeverfahrens) zu rechnen ist.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 99 Abs. 1 PatG, § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO analog, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG , § 709 S. 1 und 2 ZPO analog.

Rauch Dr. Kaminski Friehe Richter Groß Müllerist in Urlaubund kanndeshalb nichtunterschreiben.

Rauch Pr






BPatG:
Urteil v. 12.05.2010
Az: 4 Ni 21/09, 4 Ni 15/09


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