Verwaltungsgericht München:
Urteil vom 1. Oktober 2014
Aktenzeichen: M 18 K 14.3366

(VG München: Urteil v. 01.10.2014, Az.: M 18 K 14.3366)

Tenor

I. Der Bescheid der Landeshauptstadt ... vom ... Juli 2014 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreck-baren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger und nach seinen Angaben am ... 1997 geboren.

Am ... Juli 2014 wurde der Kläger durch das Stadtjugendamt der Beklagten in Obhut genommen, da er nach seinen Angaben minderjährig und unbegleitet war. Der Kläger wurde in der ..., Haus ..., untergebracht. Am gleichen Tag informierte die Beklagte das Amtsgericht ... über die Inobhutnahme und beantragte, gegebenenfalls das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen und Vormundschaft anzuordnen.

Am ... Juli 2014 fand zur Alterseinschätzung ein Erstgespräch des Klägers mit einem Dipl.-Pädagogen und einem Dipl.-Sozialpädagogen des Jugendamtes in Anwesenheit eines Dolmetschers statt, aufgrund dessen das Alter des Klägers auf den ... 1995 festgesetzt wurde.

Mit Bescheid vom ... Juli 2014, welcher am selben Tag bekanntgegeben wurde, lehnte das Jugendamt eine Inobhutnahme des Klägers ab, da die Voraussetzung der Minderjährigkeit nicht gegeben sei. Auch seien von Seiten des Klägers keine beweiskräftigen Ausweispapiere oder sonstigen Papiere, die die Minderjährigkeit unabhängig von den Prüfungen der Beklagten belegen könnten, vorgelegt worden. Die Minderjährigkeit habe auch nicht durch eine schlüssige mündliche Sachverhaltsdarstellung begründet werden können.

Die Beklagte zog daraufhin mit Schreiben vom ... August 2014 den Antrag auf Ruhen der elterlichen Sorge und Anordnung einer Vormundschaft beim Amtsgericht ... zurück.

Der Kläger hat mit am 4. August 2014 beim Verwaltungsgericht München eingegangenem Schreiben Klage gegen die €Altersfeststellung€ erhoben und zuletzt beantragen lassen,

den Bescheid der Beklagten vom ... Juli 2014 aufzuheben.

Zur Begründung der Klage verwies der Kläger zunächst auf die Entscheidung des OLG München vom 15. März 2012, Az.: 26 UF 308/12, wonach zur Altersfeststellung der persönliche Eindruck allein nicht genüge, sondern hierfür eine ärztliche Untersuchung erforderlich sei.

Die Beklagte beantragte unter dem 16. September 2014,

die Klage abzuweisen.

Die Aufhebung der Inobhutnahme sei rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Inobhutnahme durch die Beklagte, da er nach deren Feststellungen volljährig sei. Das dem Alterseinschätzungsverfahren zugrunde liegende Gespräch sei von zwei erfahrenen Mitarbeitern des Stadtjugendamtes durchgeführt worden. Das angewandte Alterseinschätzungsverfahren entspreche im Wesentlichen den von der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter herausgegebenen Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (5.1.2 der Handlungsempfehlungen). In der dem Schriftsatz beigefügten Stellungnahme des Stadtjugendamtes vom ... September 2014 wurde vorgetragen, dass aufgrund der Angaben des Klägers, seines äußeren Erscheinungsbildes, der Art und Ausdrucksweise sowie des gezeigten Verhaltens es sich beim Kläger um eine volljährige Person handeln müsse. Bei Vorliegen geringster Zweifel entscheide die Beklagte stets zugunsten der Minderjährigkeit der Betroffenen. Vorliegend sei die Minderjährigkeit des Klägers zweifelsfrei ausgeschlossen worden. Somit sei die Inobhutnahme am ... August 2014 aufgehoben worden.

Die Klägerbevollmächtigten führten in ihrer Klagebegründung vom ... September 2014 unter Hinweis auf das genannte OLG-Urteil aus, für eine verlässliche Alters-diagnostik sei regelmäßig eine körperliche Untersuchung mit der Erfassung anthropometrischer Maße, der sexuellen Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen sowie eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahn-status erforderlich. Eine entsprechende ärztliche Untersuchung habe nicht stattgefunden.

Die Beklagte legte unter dem ... September 2014 eine rechtsgutachterliche Untersuchung des ... Verfahrens der Alterseinschätzung bei unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen von Prof. Dr. ... vor.

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Zum Verlauf der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 1. Oktober 2014 verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom ... Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.

Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen (§ 42 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz SGB VIII).

Anspruchsberechtigte sowohl nach den Nummern 1 und 3 des § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII als auch nach Abs. 1 Satz 2 dieser Norm sind nur Kinder und Jugendliche. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist im Sinne des SGB VIII Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist.

Das Jugendamt der Beklagten hat den nach seinen Angaben minderjährigen Kläger am ... Juli 2014 mit mündlicher Anordnung in Obhut genommen. Die Inobhutnahme wurde dem Kläger auch wirksam bekannt gegeben, da der Kläger mit Vollendung des 15. Lebensjahres sozialrechtlich handlungsfähig ist (§ 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I).

Der Verwaltungsakt der Inobhutnahme bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder in anderer Weise erledigt ist (§ 39 Abs. 2 SGB X). Durch den €Ablehnungsbescheid€ vom ... Juli 2014 konnte die Inobhutnahme nicht wirksam aufgehoben werden. Die Beklagte ging irrtümlich davon aus, dass über das Gesuch des Klägers auf Inobhutnahme noch nicht entschieden worden war. Den beabsichtigten Regelungszweck konnte der €Ablehnungsbescheid€ nicht mehr erreichen.

Eine Umdeutung des €Ablehnungsbescheides€ in einen Rücknahmebescheid kommt nicht in Betracht, da eine Umdeutung der gesetzlich gebundenen Entscheidung über eine Inobhutnahme bzw. über deren Ablehnung nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann (§ 43 Abs. 3 SGB X).

Bei der Inobhutnahme handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit sowohl bela-stender als auch begünstigender Wirkung.

Nach der Legaldefinition in § 45 Abs. 1 SGB X ist ein begünstigender Verwaltungsakt ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat. Ein belastender Verwaltungsakt ist demgegenüber ein Verwaltungsakt, mit dem in ein Recht eingegriffen oder eine Begünstigung verweigert wird. Ob es sich bei einem Verwaltungsakt in einem € wie hier € mehrpoligen Verwaltungsrechtsverhältnis um einen begünstigenden oder belastenden Verwaltungsakt handelt, ist allein nach der Wirkung beim Adressaten zu beurteilen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5. 2012 € BVerwG 6 C 3.11 € BVerwGE 143, 87 = Buchholz 442.066 § 37 TKG Nr. 4 Rn. 46 m.w.N.). Für den Kläger als Adressaten der Inobhutnahme kommt dieser insoweit belastende Wirkung zu, als der Kläger € wie dargelegt € verpflichtet ist, sich der Obhut zu unterstellen und den Anweisungen des Jugendamtes im Hinblick auf seine Anwesenheit in der Einrichtung zu folgen. Begünstigend wirkt sich die Inobhutnahme aus, weil sie Voraussetzung dafür ist, dass der Kläger von der Einrichtung des freien Trägers aufgenommen wird und dort für die Dauer der Inobhutnahme Unterkunft, Verpflegung und sozialpädagogische Betreuung erhält.

Verwaltungsakte mit einer derartigen Mischwirkung sind insgesamt als begünstigend zu behandeln und den strengeren Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 bis 4 SGB X zu unterstellen, sofern sich begünstigende und belastende Elemente € wie hier € nicht voneinander trennen lassen (vgl. U.v. 9.5.2012, a.a.O., Rn. 47 m.w.N.; zum Ganzen BVerwG, U.v. 11.7.2013 € 5 C 24/12 € juris).

Eine auf § 45 Abs. 1 SGB X gestützte Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit steht im Ermessen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Die Ermessensentscheidung erfordert eine sachgerechte Abwägung des öffentlichen Interesses an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände mit dem privaten Interesse des Adressaten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes.

Mangels wirksamer Rücknahme der mündlich angeordneten Inobhutnahme hat diese nach wie vor Geltung. Der eine unzutreffende Rechtslage feststellende €Ablehnungsbescheid€ der Beklagten war rechtswidrig und auch aus Gründen der Rechtsklarheit aufzuheben.

Ohne dass es darauf noch ankäme, weist das Gericht darauf hin, dass bis zur Klärung des Alters des Klägers mittels körperlicher und zahnärztlicher Untersuchung nach den Vorgaben des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, Beschluss vom 23. September 2014 (Az.: 12 CE 14.1833 und 12 C 14.1865) entsprechend den Angaben des Klägers von dessen Minderjährigkeit auszugehen ist. Eine Rücknahme der Inobhutnahme käme bis zur Feststellung der Volljährigkeit mittels zuverlässiger Altersdiagnostik derzeit nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.






VG München:
Urteil v. 01.10.2014
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