Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg:
Beschluss vom 23. Juni 2014
Aktenzeichen: OVG 9 N 57.12

(OVG Berlin-Brandenburg: Beschluss v. 23.06.2014, Az.: OVG 9 N 57.12)

Tenor

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 23. Februar 2012 wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt die Klägerin.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 3.222,95 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin wendet sich als Drittschuldnerin gegen eine Pfändungs€ und Einziehungsverfügung, mit der die Beklagte wegen einer Grundsteuerforderung gegen eine Erbengemeinschaft und wegen zwei Straßenbaubeitragsforderungen gegen ein Mitglied der Erbengemeinschaft in Kaufpreisforderungen der Erbengemeinschaft vollstreckt, für welche die Klägerin ein Rechtsanwaltsanderkonto führt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrem Zulassungsantrag verfolgt die Klägerin die Aufhebung der Pfändungs€ und Einziehungsverfügung weiter.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen (§ 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO). Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO dargelegt ist und vorliegt (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Danach ist die Berufung hier nicht zuzulassen.

€1. Die Darlegungen der Klägerin wecken keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

a) Soweit die Klägerin meint, das Verwaltungsgericht hätte sich im konkreten Fall mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Pfändungs€ und Einziehungsverfügung rechtswidrig oder nichtig sei, greift dies nicht. Das Verwaltungsgericht hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Es ist davon ausgegangen, dass die Pfändungs€ und Einziehungsverfügung formell rechtmäßig und jedenfalls der Klägerin gegenüber auch materiell rechtmäßig sei. Im Übrigen sei eine Pfändungs€ und Einziehungsverfügung, der ein mangels Bekanntgabe nicht wirksam gewordener Abgabenbescheid und deshalb kein wirksamer Vollstreckungstitel und kein Leistungsgebot zugrunde liege, lediglich rechtswidrig und nicht nichtig.

b) Der Einwand der Klägerin, die Pfändungs€ und Einziehungsverfügung sei wegen Fehlens der Bekanntgabe der Straßenbaubeitragsbescheide an die Vollstreckungsschuldnerin nichtig, greift ebenfalls nicht.

Die von der Klägerin zitierte zivilrechtliche Literatur und Rechtsprechung ist nicht einschlägig, weil es um die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts geht, die sich hier nach § 44 Abs. 1 VwVfGBbg a.F. richtet (Bekanntmachung vom 9. März 2004, GVBl. I S. 78, in der Fassung des Gesetzes vom 11. März 2008, GVBl. I S. 42), der zum Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Bescheides geltenden Regelung (ebenso jetzt: § 1 Abs. 1 Satz 1 VwVfGBbg i.V.m. § 44 Abs. 1 VwVfG). Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bezieht sich ebenfalls nicht auf eine gesetzliche Regelung der Nichtigkeit von Verwaltungsakten, die den Formulierungen dieser Vorschrift entspricht (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 1975 € VII C 33.73 €, juris, Rn. 17). Das Gleiche gilt für die von der Klägerin angeführte ältere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (Urteile vom 30. September 1953 € II 167/52 S €, juris, Rn. 9, vom 29. März 1962 € IV 222/60 U €, juris, Rn. 11, vom 30. März 1962 € III 208/60 €, HFR 1963, 120 f., 121, und € betr. das Streitjahr 1974 € vom 27. März 1979 € VII R 41/78 €, juris, Rn. 9 ff.; das von der Klägerin außerdem zit. Az. €II 280/60€ bezieht sich auf ein Urteil vom 8. August 1962, HFR 1963, 90 f., in dem es um eine andere Frage geht). Ebenso wie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts betrifft sie nur die Rechtslage vor der gesetzlichen Regelung der Nichtigkeit von Verwaltungsakten in § 44 Abs. 1 VwVfG bzw. § 125 Abs. 1 AO (beide am 1. Januar 1977 in Kraft getreten).

Gemäß § 44 Abs. 1 VwVfGBbg a.F. (ebenso § 44 Abs. 1 VwVfG und § 125 Abs. 1 AO) ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Nach dieser Maßgabe hält die neuere Rechtsprechung eine Pfändungs€ und Einziehungsverfügung, der ein mangels Bekanntgabe nicht wirksam gewordener Steuerbescheid und damit kein wirksamer Vollstreckungstitel und kein Leistungsgebot zugrunde liegt, nicht für nichtig, sondern lediglich für rechtswidrig (BFH, Urteil vom 22. Oktober 2002 € VII R 56/00 €, juris, Rn. 16; ebenso FG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juni 2009 € 7 K 65/06 €, juris, Rn. 17, jeweils zu § 125 Abs. 1 AO). Zwar leide sie an einem besonders schwerwiegenden Mangel (BFH, a.a.O., Rn. 16). Doch führe dieser Mangel nicht zur Nichtigkeit der Pfändungs€ und Einziehungsverfügung, weil er in der Regel nicht offenkundig im Sinne der Vorschrift sei (BFH, a.a.O., Rn. 17). Aus welchen Gründen diese Auffassung abzulehnen und stattdessen der älteren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und der früheren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zu folgen sein soll, führt die Klägerin nicht aus.

Soweit sie meint, dass jedenfalls hinsichtlich des hier streitigen Bescheides neben einem besonders schwerwiegenden Fehler außerdem die weitere Nichtigkeitsvoraussetzung der Offensichtlichkeit gegeben sei, greift auch dies nicht. €Offensichtlich€ im Sinne von § 44 Abs. 1 VwVfGBbg a.F. ist ein schwerwiegender Fehler eines Verwaltungsakts, wenn er für einen unvoreingenommenen, mit den in Betracht kommenden Umständen vertrauten, verständigen Beobachter ohne Weiteres ersichtlich ist oder sich ihm geradezu aufdrängt, so dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. April 2013 € 1 WDS-VR 1.13 €, juris, Rn. 36; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. März 2011 € 19 A 3006/06 €, juris, Rn. 74 m.w.N.). Offensichtlich sein müssen der Fehler als solcher und sein besonders schweres Gewicht (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Auflage 2014, § 44 Rn. 123). Der Fehler muss sich bereits allein aus dem Verwaltungsakt mit dem Inhalt ergeben, wie er dem Betroffenen bekanntgegeben wurde und wie er bei verständiger Würdigung auszulegen ist, ohne nähere Erklärungen, die erst aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlich sind (Sachs, a.a.O., Rn. 127). Obwohl die Klägerin selbst davon ausgeht, dass es auf die Erkennbarkeit des Fehlers für €jeden verständigen Dritten€ ankomme, beschränkt sie sich in ihrem weiteren Zulassungsvorbringen darauf darzulegen, was die Beklagte über die Zustellung der Straßenbaubeitragsbescheide an die Vollstreckungsschuldnerin gewusst habe oder habe wissen müssen. Hingegen führt sie nicht aus, warum der (mutmaßliche) Bekanntgabemangel der Straßenbaubeitragsbescheide als besonders schwerwiegender Fehler der Pfändungs€ und Einziehungsverfügung auch für einen €verständigen Dritten€ ohne Weiteres erkennbar sein und die Voraussetzung der Offensichtlichkeit erfüllen soll.

c) Soweit die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe nicht einfach eine Entpflichtung von § 43a BRAO annehmen dürfen, gilt Folgendes: Nach herrschender Meinung entfällt die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht, soweit die Verpflichtung zur Abgabe einer Drittschuldnererklärung reicht (vgl. jeweils m.w.N. Kruse, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Losebl., Stand: März 2014, § 316 AO Rn. 12; Becker, in: Musielak, ZPO, 11. Auflage 2014, § 840 Rn. 5; Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Auflage 2004, § 840 Rn. 2; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, 72. Auflage 2014, § 840 Rn. 2; Stöber, in: Zöller, ZPO, 30. Auflage 2014, § 840 Rn. 4; Wirges, JurBüro 1997, 295, 297 f.). Es ist nicht ersichtlich, was daran falsch sein sollte. Das gilt auch mit Blick auf den vorliegenden Fall. Gemäß § 5 VwVGBbg a.F. i.V.m. § 309 Abs. 2 Satz 1, § 314 Abs. 1 Satz 2, § 315 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Zustellung der Pfändungsverfügung an die Klägerin die Pfändung der Kaufpreisforderungen ihrer Mandanten bewirkt und die Berechtigung der Beklagten zur Einziehung begründet. Damit ist die Beklagte als Gläubigerin ermächtigt, das gepfändete Recht im eigenen Namen geltend zu machen. Es ist nur konsequent, dass in diesem Umfang € hier hinsichtlich der in § 316 Abs. 1 Satz 1 AO vorgesehenen Angaben € ihr gegenüber keine Verschwiegenheitspflicht besteht (zu den gleichlautenden Angaben nach § 840 Abs. 1 ZPO vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 9. Januar 1980 € 6 U 123/79 €, WM 1980, 349 [350]; auch der BGH geht davon aus, dass den dort beklagten Rechtsanwälten des Vollstreckungsschuldners hinsichtlich der gepfändeten Forderungen ihres Mandanten von Gesetzes wegen eine Pflicht zur Abgabe der Drittschuldnererklärung obliegt, Urteil vom 4. Februar 1981 € VII ZR 43/80 €, juris Rn. 10).

Ohne Erfolg macht die Klägerin in diesem Zusammenhang geltend, die Verpflichtung zur Abgabe der Drittschuldnererklärung könne der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht aus § 43a Abs. 2 BRAO jedenfalls dann nicht vorgehen, wenn die Pfändungs€ und Einziehungsverfügung zumindest rechtswidrig sei. Zugunsten des Drittschuldners gilt auch eine zu Unrecht ergangene Einziehungsverfügung dem Vollstreckungsschuldner gegenüber solange als rechtmäßig, bis sie aufgehoben ist und der Drittschuldner hiervon erfährt, § 5 VwVGBbg a.F. i.V.m. § 315 Abs. 1 Satz 3 AO. Darf danach der Drittschuldner aufgrund der Einziehungsverfügung zur Erfüllung der davon betroffenen Forderung Zahlungen an die Vollstreckungsbehörde leisten, so gilt diese Rechtmäßigkeitsfiktion erst recht für seine Auskünfte über die Forderung.

2. Der Rechtssache kommt mit Blick auf die Darlegungen der Klägerin auch keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die aufgeworfenen Fragen, ob und inwieweit ein Rechtsanwalt als Drittschuldner von seiner Schweigepflicht entbunden ist und ob das Auskunftsinteresse des Vollstreckungsgläubigers nicht zumindest bei einer rechtswidrigen Pfändungs€ und Einziehungsverfügung hinter der anwaltlichen Schweigepflicht zurücksteht, lassen sich aus den oben angeführten Gründen ohne Weiteres schon im Berufungszulassungsverfahren beantworten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht der erstinstanzlichen Festsetzung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).






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