Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Urteil vom 6. Juni 2002
Aktenzeichen: L 16 KR 57/01

(LSG Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 06.06.2002, Az.: L 16 KR 57/01)

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13. Februar 2001 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass außergerichtliche Kosten des ersten Rechtszuges nicht zu erstatten sind. Kosten des Berufungsverfahrens sind ebenfalls nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der klagende Verband der Ersatzkassen begehrt von der beklagten Krankenkasse die Unterlassung der Mitgliederwerbung durch Gegenüberstellung von Beitragssätzen.

Im September 1998 versandte die Beklagte an die Haushalte ein doppelseitiges DIN A4-Blatt als Postwurfsendung, welches in der oberen linken Seite den Aufdruck "Aktion Arbeitnehmer-Artenschutz" enthielt und auf dem ein Mann und eine Frau abgebildet waren. Vor dem Kopf letzterer war der Aufdruck enthalten "Ihre Frau will im nächsten Urlaub unbedingt nach Ibiza." Unter den abgebildeten Personen fand sich folgender Text:

"Helfen Sie, es liegt in Ihrer Hand. Ein Vorschlag zur Güte: Kassenwechsel wirkt wie Steuersenkung. Und das geht ja ganz einfach: Sie kündigen Ihrer bisherigen Krankenkasse noch diesen Monat (Achtung: gesetzliche Kündigungsfrist bis spätestens 30. September 1998!) und werden Mitglied bei uns. Sie kommen dann ab Januar 1999 in den Genuss unseres beinahe konkurrenzlosen Beitragssatzes von 12,8 % (von dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer je die Hälfte zahlen. Ihr Chef freut sich also auch). Und ohne an dieser Stelle zu viel versprechen zu wollen: Zumindest der Flug nach Ibiza könnte da durchaus drin sein. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass Sie das eigentlich nur einen Anfruf kostet."

Auf der Rückseite befand sich unter einem großen Paragraphenzeichen folgender Text:

"Wir danken dem Bundesgerichtshof. Denn dieser hat am 5. Februar 98 entschieden: vergleichende Werbung ist jetzt grundsätzlich zulässig. Für uns bedeutet das: wir dürfen jetzt auch mal die Beitragssätze unserer Mitbewerber abdrucken. Und für Sie heißt das: Sie können jetzt besser vergleichen. Hier die Beitragssätze einiger anderer Krankenkassen: ..."

Darunter waren 8 Krankenkassen mit ihren Beitragssätzen aufgeführt, davon 4 Mitgliedskassen des Klägers zu 1), und darunter hervorgehoben der Beitragssatz der Beklagten. Darunter stand:

"eine kleine Rechnung: Angenommen, Sie verdienen 5.000,-- DM brutto im Monat. Und angenommen, Sie sind - zum Beispiel - für 14 % versichert. Dann könnten Sie durch einen Wechsl zu uns im Monat 30,00 DM - im Jahr 360,00 DM sparen. Sie sind für 14,5 % versichert, können Sie sogar 510,00 DM sparen. Und das Schöne: Ihr Arbeitgeber spart noch einmal den gleichen Betrag. [Kassenwechsel wirkt wie Steuersenkung]."

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das als Kopie bei der Gerichtsakte befindliche Werbeblatt Bezug genommen.

Durch Schiedsabrede vom 26.11.1998 verpflichtete sich die Beklagte gegen über der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V., Frankfurt am Main, die Vorderseite dieses Werbeblatts nicht mehr zu verwenden und für den Fall der Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe in Höhe von 10.500,-- DM zu zahlen.

Der Kläger hat am 08.01.1999 vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben auf Unterlassung dieser vergleichenden Werbung bei Vermeidung einer Vertragsstrafe in Höhe von 20.000,-- DM. Er hat geltend gemacht, aufgrund seiner Satzung zähle die Betreuung der Mitgliedskassen zu seinen Aufgaben, so dass er zur Geltendmachung wettbewerbsrechtlicher Beanstandungen für seine Mitgliedskassen befugt sei. Er hat die Ansicht vertreten, die Werbung stelle einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit innerhalb der Sozialversicherungsträger dar. Vergleichende Werbung, die ausgewählte Wettbewerber namentlich benenne, fördere den Wettbewerb des Werbenden gezielt zu Lasten der benannten Mitbewerber, wodurch bestimmte ausgewählte Krankenkassen beeinträchtigt würden. Im Rahmen von Werbemaßnahmen der Krankenkassen, die dem Zweck der Aufklärung und Information dienen sollten, bestehe kein Anlaß für eine konkrete Bezugnahme auf andere Anbieter. Hinzu komme, dass vergleichende Werbung insoweit kaum vollständig sein könne, weil sie allenfalls ausgewählte Aspekte des Leistungs-, Beitrags- oder Servicespektrums der Krankenkassen vergleichen könne, so dass andere wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt blieben. Hierdurch würden die benannten Mitbewerber, die in bezug auf die selektiven Vergleichskriterien ungünstig abschnitten, beeinträchtigt und deren Leistungs- und Bestandsfähigkeit gefährdet, obwohl deren Erhaltung grundsätzlich im Interesse der Allgemeinheit liege. Soweit sich die Beklagte auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Zulässigkeit vergleichender Werbung aufgrund der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments (EP) und des Rates der Europäischen Union (EU) vom 06.08.1997 berufe, seien diese Grundsätze nur auf den Wettbewerb privatrechtlicher Personen anzuwenden. Selbst bei Zugrundelegung dieser Grundsätze verstoße die Werbung der Beklagten jedoch gegen § 3 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), weil es sich um eine irreführende Werbung handele. Diese erwecke den Eindruck, es handele sich um den niedrigsten Beitragssatz aller wählbaren Krankenkassen, obwohl zahlreiche Krankenkassen einen niedrigeren Beitragssatz erhöben. Des weiteren vermittle die Werbung, dass Beitragssätze im Zeitablauf feste Parameter seien und nicht einem ständigen Wechsel unterlägen, so dass nicht deutlich werde, dass der Beitragssatzvergleich zu einem späteren Zeitpunkt bereits keine Gültigkeit mehr haben könne.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Kläger seien nicht klagebefugt, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Regeln des UWG nicht anwendbar seien und damit auch nicht dessen § 13 Abs. 2, der die Möglichkeit einer Verbandsklage regele. Beeinträchtigt in seinen Rechten seien auch nicht die Kläger, sondern allenfalls deren Mitgliedskassen. Darüber hinaus komme eine Verurteilung zur Vertragsstrafe nicht in Betracht, weil die Beitragssätze nicht im geschäftlichen Verkehr erhoben würden. Durch die Neuregelung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 23.06.1997 seien zahlreiche neue Wettbewerbselemente in die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt worden, wobei der Gesetzgeber selbst einen Wettbewerb über die Beitragssätze auf den Weg gebracht habe, so dass auch aus diesem Grund der Unterlassungsanspruch nicht begründet sein könne. Es sei nicht der Anschein erweckt worden, dass der Beitragssatz der Beklagten der günstigste überhaupt sei. Auch eine Herabsetzung der Leistungen anderer Krankenkassen sei nicht erfolgt. Damit liege weder eine Irreführung noch eine vergleichende Werbung vor, die die Leistungen der anderen Krankenkassen herabsetze oder schmähe. Ein Indiz für die Rechtmäßigkeit der Werbung sei auch, dass die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs den Unterlassungsanspruch nicht weiterverfolgen wolle.

Mit Urteil vom 13.02.2001 hat das SG die Beklagte antragsgemäß verurteilt, es bei Vermeidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis 500.000,-- DM, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr entsprechend der Rückseite des Werbeblatts Beitragssätze bzw. Beiträge der Ersatzkassen in vergleichender Weise den Beitragssätzen bzw. Beiträgen der Beklagten gegenüberzustellen und/oder gegenüberstellen zu lassen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 08.03.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30.03.2001 Berufung eingelegt. Sie bestreitet weiterhin die Aktivlegitimation des Klägers. Soweit das SG dem Kläger die Wahrnehmung eigener Rechtspositionen unterstelle, widerspreche dies dessen eigenem Vortrag, wonach die Rechte der geschädigten Krankenkassen geltend gemacht würden. Die Voraussetzungen für eine gewillkürte Prozeßstandschaft lägen hingegen nicht vor, weil ein schutzwürdiges Eigeninteresse des Klägers nicht gegeben sei. Die Entscheidung des Rechtsstreits könne auf ihre eigene Rechtslage keinen Einfluss haben und auch wirtschaftliche Interessen des Klägers würden nicht berührt. Das Verbandsinteresse rechtfertige keine andere Betrachtung, weil lediglich die Wahrnehmung der Einzelrechte von insgesamt 4 betroffenen Ersatzkassen Grundlage des Rechtsstreits sei. Darüber hinaus fehle es an einer ausreichenden Ermächtigung zur Klageerhebung durch die Mitgliedskassen. Die Satzung des Klägers enthalte nicht das Recht der klageweisen Geltendmachung von Kassenrechten. Eine gemeinsame Interessenwahrnehmung liege nicht vor. Die Klagebefugnis lasse sich auch nicht aus § 13 Abs. 2 UWG herleiten.

Darüber hinaus lägen aber auch die Voraussetzungen eines öffentlichrechtlichen Unterlassungsanspruchs entgegen der Auffassung des SG nicht vor. Auch nach der Rechtsprechung des BSG sei eine Werbung, selbst eine solche mit Beitragssätzen, grundsätzlich nicht unzulässig. Rechtsvorschriften, die die Betätigung der Kassen insoweit einschränken, seien nicht gegeben. Wenn der Gesetzgeber grundsätzlich wettbewerbliche Anreize schaffen wollte, müsse sich der Wettbewerb unter Krankenkassen auch auf die Werbung von Mitgliedern beziehen dürfen, so dass eine solche mittels Preisvergleich nicht unzulässig sein könne. Wenn das SG davon ausgehe, dass 53 % der Betroffenen den Beitragssatz als Entscheidungskriterium für die Kassenwahl genannt hätten, müsse es gestattet sein, sich an diesem Kriterium zu orientieren. Eine Werbeaussage könne ohnehin niemals vollständig sein. Um wirklich auf das Leistungsspektrum hinzuweisen, müsse praktisch der gesamte Inhalt des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) wiedergegeben werden. Nach dem Recht der EU komme es nicht darauf an, ob ein Wettbewerber öffentlichrechtlich oder privatrechtlich organisiert am Wettbewerb teilnehme, was das SG verkenne. Soweit es die beanstandete Werbung als irreführend i.S.d. Richtlinie 97/55/EG bzw. § 3 UWG ansehe, könne dem nicht gefolgt werden. Irreführend sei die Werbung nur, wenn eine Divergenz zwischen der Bedeutungsvorstellung bei den Adressaten und der Wirklichkeit vorliege. Da fast 80 % der versicherten Mitglieder (AOK und Ersatzkassen) in den Beitragssatzvergleich einbezogen worden seien, sei dieser repräsentativ. Die vollständige Wiedergabe sämtlicher Beitragssätze sei hingegen unmöglich und würde jede Werbung grundsätzlich ausschließen. Es sei auch nie behauptet worden, dass es nicht günstigere Krankenkassen gäbe, sondern nur darauf verwiesen worden, dass acht große Krankenkassen ungünstigere Beitragssätze erhöben. Insoweit sei nicht suggeriert worden, es würden sämtliche Mitbewerber dargestellt. Auch der Hinweis, dass eine Beitragssatzsenkung wie eine Steuersenkung wirke, sei keineswegs irreführend. Dies sei eine objektiv richtige Angabe, denn der Leistungsinhalt der gesetzlichen Krankenversicherung sei gesetzlich vorgegeben. Die Senkung des Beitragssatzes ändere das Leistungsangebot daher in keiner Weise. Es sei auch kein unrichtiger Eindruck über die Anzahl der Geschäftsstellen erweckt worden, weil auf dem Werbeblatt sämtliche Geschäftsstellen positiv und zutreffend angegeben worden seien, so dass es jedem potentiellen Wechsler habe klar sein müssen, wo er seine Betriebskrankenkasse an nächster Stelle erreichen könne. Auch die gemeinsamen Werbegrundsätze der Aufsichtsbehörden der Sozialversicherungsträger bezeichneten den Wettbewerb als grundsätzlich zulässig, sofern er nicht in unlauterer Weise und nicht irreführend und herabsetzend oder verunglimpfend erfolge. Dem werde die angegriffene Werbung aber gerecht.

Schließlich könne der Tenor des angefochtenen Urteils schon deshalb keinen Bestand haben, weil er auf die Beitragssätze bzw. Beiträge aller Ersatzkassen Bezug nehme, obwohl nur 4 Ersatzkassen betroffen seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Köln vom 13.02.2001 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, die angegriffene Werbung sei irreführend, weil sie den unzutreffenden Eindruck erwecke, ein Wechsel zu der Beklagten sei unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten besonders ertragreich, obwohl andere Kassen noch günstigere Beitragssätze anböten. Auch erwecke die Werbung den Eindruck, dass ein Wechsel der Krankenkasse auf der Leistungs- und Serviceseite ohne Konsequenzen bliebe, was jedoch mit dem SG zu verneinen sei. Der Gesetzgeber habe auch nicht jedwede Form der Mitgliederwerbung zulassen wollen. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH zum Unternehmensbegriff dürfe feststehen, dass bezüglich der Werbung in der gesetzlichen Krankenversicherung engere Grenzen bestünden als in der gewerblichen Wirtschaft. Diese Frage müsse noch aufgrund von Vorlagebeschlüssen abschließend beantwortet werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Dem Kläger steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch zu, zu dessen Durchsetzung er die Aktivlegitimation besitzt.

Allerdings zählt die Verfolgung eines entsprechenden Unterlassungsanspruchs nicht zu den dem Kläger kraft Gesetzes übertragenen besonderen Aufgaben und lässt sich unmittelbar auch nicht aus § 212 Abs. 5 Satz 1 SGB V i.V.m. der Satzung des Klägers herleiten (zum Vorgängerrecht der Reichsversicherungsordnung - RVO - vgl. BSG SozR 1500 § 55 Nr. 31 S. 30). Ob sich im Hinblick auf die Bestimmung des § 2 Abs. 1a der Satzung des Klägers in der hier maßgeblichen Fassung vom 12.12.1997, wonach die Beratung und Betreuung der Mitgliedskassen des Verbandes und der bei diesen errichteten Pflegekassen bei der Durchführung ihrer Aufgaben sowie die Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen zu den Aufgaben des Verbandes zählt, sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die angegriffene Werbemaßnahme auf mehr als die Hälfte und zudem die mitgliedsstärksten Verbandsmitglieder bezieht, gleichwohl die Annahme rechtfertigt, die Unterbindung entsprechender wettbewerbswidriger Maßnahmen gehöre zu den eigenständigen Verbandsaufgaben, kann dahinstehen. Da jedenfalls die Rechtssphäre des Klägers betroffen ist und seine Mitglieder, denen der entsprechende Unterlassungsanspruch unmittelbar zusteht, ihm ausweislich des vom Kläger im Verhandlungstermin überreichten Protokolls der Wettbewerbs-Ausschußsitzung vom 28./29.10.1998 den Auftrag zur gerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit des Wettbewerbs-Verhaltens der Beklagten erteilt haben, ist der Kläger berechtigt, als gewillkürter Prozeßstandschafter (vgl. dazu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 60 Aufl., Grdz. § 50 Rdn. 29 ff.) den Unterlassungsanspruch in eigenem Namen geltend zu machen.

Der Unterlassungsanspruch ist begründet.

Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen untereinander werden vom öffentlichen Recht geprägt, aus der sich auch die Grenzen der zulässigen Mitgliederwerbung ergeben (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. BSGE 36, 238; 56, 140; 63, 144; SozR 3-2500 § 4 Nr. 1). Demzufolge beurteilt sich der Unterlassungsanspruch gegen Werbemaßnahmen nicht nach den Normen des privatrechtlichen Wettbewerbs und den hierzu von den ordentlichen Gerichten entwickelten Rechtsgrundsätzen; diese können nur im Rahmen öffentlichrechtlich normierter Pflichten der Krankenkassen untereinander ergänzend als Auslegungshilfe herangezogen werden (vgl. BSG SozR 3-2500 § 4 Nr. 1 S. 3). Der Senat folgt der Rechtsprechung des BSG, wonach sich an dieser Rechtslage durch die Neuregelung der Kassenzuständigkeit und Erweiterung der Kassenwahlfreiheit durch das Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2266) nichts Wesentliches geändert hat (BSG a.a.O.). Allerdings ist es gerade in Ansehung des Umstandes, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung der Krankenkassenorganisation durch das GSG auch das Ziel der Modernisierung der Wettbewerbsordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung verfolgt hat (BT-Drucks. 12/3608 S. 69), gerechtfertigt, auch eine vergleichende Werbung zwischen den Krankenkassen als erlaubt anzusehen (so auch die gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätze der Aufsichtsbehörden der gesetzlichen Krankenversicherung vom 19. März 1998 in der Fassung vom 06. Mai 1999; vgl. auch Köhler, NZS 98, 153, 157). Dabei ist jedoch zu beachten, dass § 4 Abs. 3 SGB V, der bei Verabschiedung des GSG unverändert beigehalten worden ist, anordnet, dass im Interesse der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der gesetzlichen Krankenversicherung die Krankenkassen und ihre Verbände sowohl innerhalb einer Kassenart als auch kassenartenübergreifend miteinander und mit allen anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens eng zusammen arbeiten. Darüber hinaus folgt aus der Pflicht der Krankenkassen zur Aufklärung, Beratung und Information der Versicherten (§§ 13 bis 15 SGB I) sowie dem Gebot, bei der Erfüllung dieser und anderer gesetzlicher Aufgaben mit den übrigen Sozialversicherungsträgern zusammenzuarbeiten (§ 15 Abs. 3 SGB I; § 86 SGB X), das Verbot, Tätigkeiten zu ent falten, die diesen Handlungszielen zuwiderlaufen (BSG a.a.O.).

Daher sind vergleichende Wettbewerbsmaßnahmen grundsätzlich dann nicht zulässig, wenn sie irreführend, herabsetzend oder verunglimpfend sind (so auch Abschnitt II 2 der genannten Wettbewerbsgrundsätze; vgl. auch §§ 2, 3 UWG; vgl. ferner BGHZ 138, 55; BGH, WRP, 1998, 1065; 1999, 414; OLG Dresden, GRUR 2000, 916; KG Berlin, NJWE-WettbR 2000, 185). Als irreführend ist dabei in Übereinstimmung mit Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie (RL) 84/450/EG jede Werbung anzusehen, die in irgendeiner Weise - einschließlich ihrer Aufmachung - die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist.

Die beanstandete Werbung ist allein schon deshalb irreführend in diesem Sinn, weil in ihr die dargestellten Beitragssätze mit dem Zusatz "Kassenwechsel wirkt wie Steuersenkung" verknüpft werden. Der Kassenwechsel konnte sich nach der bis zum 31.12.2001 gültigen Rechtslage nur zum nächsten Kalenderjahr auswirken (§ 175 Abs. 4 Satz 2 SGB V a.F.) und ist aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung der Krankenkassenwahlrechte vom 27.07.2001 (BGBl. I, S. 1946) erst mit einer Frist von zwei Monaten seit dem Kündigungsmonat möglich (§ 175 Abs. 4 Satz 2 SGB V n.F.). Abgesehen davon, dass ein Hinweis auf diese Fristen in dem noch streitigen Werbeteil fehlt, da er nur auf der Vorderseite enthalten gewesen ist, dessen weitere Verwendung sich die Beklagte aber strafbewehrt zu unterlassen verpflichtet hat, wird durch den entsprechenden Zusatz bei den interessierten Versicherten der Eindruck erweckt, dass sie jedenfalls für das erste Jahr der neuen Kassenzugehörigkeit uneingeschränkt in den Genuss des geringeren Beitragssatzes kommen, da zumindest die Lohn- und Einkommensteuersätze für das Veranlagungsjahr regelmäßig unverändert festgesetzt werden. Eine solche Beitragsstabilität für die Folgezeit kann die Beklagte aber nicht garantieren. Nach § 220 Abs. 1 Satz 2 SGB V sind die Beiträge so zu bemessen, dass sie zusammen mit den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsplan vorgesehenen Ausgaben und die vorgeschriebene Auffüllung der Rücklage decken. Ergibt sich während des Haushaltsjahres, dass die Betriebsmittel der Krankenkasse einschließlich der Zuführung aus der Rücklage und der Inanspruchnahme eines Darlehens aus der Gesamtrücklage zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichen, sind die Beiträge zu erhöhen (§ 220 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Selbst wenn die Beklagte im Zeitpunkt der Verwendung des Werbeblattes schon den Haushaltsplan für das kommende Jahr aufgestellt haben und von einem unveränderten Beitragsbedarf ausgegangen sein sollte, so konnte und kann sie auch in Zukunft nicht wissen, ob sich in den laufenden Jahren Änderungen ergeben werden, die eine Erhöhung des Beitragsbedarfs erfordern. Auch wenn eine solche Beitragsanhebung erst nach Verbrauch der Rücklage und gegebenenfalls der Inanspruchnahme eines Darlehens nach § 220 Abs. 2 SGB V möglich ist, ist angesichts der erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten Jahren eine entsprechende Beitragskorrektur auch im laufenden Kalenderjahr nicht ausschließbar. Infolgedessen ist der Zusatz "Kassenwechsel wirkt wie Steuerwechsel" aber geeignet, bei dem Kreis der angesprochenen Verbraucher einen Irrtum über die Beitragsstabilität bei der Beklagten herbeizuführen.

Darüber hinaus verstößt die Beschränkung des Vergleichs auf einige ausgesuchte, besonders mitgliedsstarke Kassen, gegen das Wahrheitsgebot. Auch wenn die werbemäßige Gegenüberstellung konkurrierender Angebote sich nicht stets vollständig auf alle in Betracht zu ziehenden Umstände des eigenen und des fremden Leistungsangebots erstrecken muss, darf die Unvollständigkeit der Darstellung aber nicht einen unrichtigen oder irreführenden Gesamteindruck entstehen lassen (BGH GRUR 1988, 764, 767 - Krankenkassen- Fragebogen -; Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 21. Aufl., Rdn. 390 zu § 1 UWG m.w.N.). Dies ist hier aber der Fall, weil sich durch die Art des Beitragsvergleichs beim Verbraucher der Eindruck aufdrängen muss, dass die Beklagte der günstigste Anbieter am Markt ist. Die Aufführung der allgemein als besonders mitgliedsstark bekannten Krankenkassen - AOKen sowie BEK, DAK und TKK - und deren gegenüber der Beklagten deutlich höheren Beitragssätze muss bei dem interessierten Versicherten, der regelmäßig über sonstige kleinere Krankenkassen nicht oder zumindest völlig unzulänglich informiert ist, den Eindruck erwecken, das Angebot der Beklagten sei am Markt konkurrenzlos günstig. Angesichts der zum Vergleich genannten Krankenkassen, denen eine besonders wichtige Rolle in der gesetzlichen Krankenversicherung zukommt, wird der Versicherte daher die Einholung von Alternativangeboten regelmäßig für überflüssig erachten, weil er einem entsprechenden Irrtum unterliegt.

Da sich die streitige Werbemaßnahme schon allein aus diesen Gründen als irreführend erweist, kann der Senat es dahinstehen lassen, ob eine beitragsvergleichende Werbung der Krankenkassen gleichzeitig auch einen Hinweis auf die Leistungsunterschiede enthalten (so Abschnitt II 2 der genannten Wettbewerbsgrundsätze) oder auf sonstige Strukturunterschiede (wie etwa die Anzahl der Geschäftsstellen) hinweisen muss.

Der Senat brauchte den Rechtsstreit auch nicht auszusetzen, um dem Europäischen Gerichtshof die Frage der Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts auf die Mitgliedskassen der gesetzlichen Krankenversicherung vorzulegen (zur Frage, ob letztere Unternehmen i.S.d. Art. 81 EG-Vertrag sind vgl. BGH Beschl. vom 03.07.2001 - KZR 31/99 und 32/99). Insoweit kann auch dahinstehen, ob schon der fehlende grenzüberschreitende Bezug des streitigen Sachverhalts eine solche Vorlage entbehrlich macht (so BSG Urt. vom 25.09.2001 - B 3 KR 17/00 R - und - B 3 KR 3/01 R -). Da nach obigen Ausführungen die beanstandete Werbemaßnahme auch irreführend i.S.d. Art. 2 Nr. 2; 3a der RL 84/450 EWG in der Fassung der RL 97/55/EG (ABl EG 1997 Nr. L 290, S 18 vom 23.10.1997) ist, wäre auch unter Anwendung der Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts die angegriffene Werbemaßnahme zu beanstanden.

Der Unterlassungsanspruch des Klägers ist daher begründet. Da die Beklagte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben abgelehnt hat, ist eine entsprechende Wiederholungsgefahr zu vermuten (vgl. Baumbach/Hefermehl a.a.O., Einl. UWG Rdn. 263 ff.). Die Androhung des Ordnungsmittels rechtfertigt sich aus § 198 SGG i.V.m. § 890 Abs. 2 Zivilprozeßordnung - ZPO - (vgl. hierzu BSGE 63, 144, 149).

Die Berufung der Beklagten konnte auch nicht insoweit Erfolg haben, als hiermit gerügt worden ist, der Urteilstenor sei zu weitgehend, weil er sich auf die Beitragssätze aller Ersatzkassen beziehe. Durch den Zusatz "wie nachstehend" und dem nachgehefteten Werbetext ist im angefochtenen Urteil klargestellt, dass sich der Unterlassungsausspruch nur auf die ausdrücklich in der Werbung der Beklagten bezeichneten Ersatzkassen bezieht.

Abzuändern war allerdings die Kostenentscheidung des SG, da vorliegend § 193 Abs. 4 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - a.F. keine Anwendung findet, weil es sich nicht um eine Streitigkeit i.S.d. § 116 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 4 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - BRAGO - handelt, so dass sich die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 4 Satz 1 SGG richtet, wonach die Kosten der Beteiligten nicht erstattungsfähig sind.

Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).






LSG Nordrhein-Westfalen:
Urteil v. 06.06.2002
Az: L 16 KR 57/01


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