Oberlandesgericht Hamm:
Urteil vom 4. Juli 2003
Aktenzeichen: (2) 6 EVY 4/02

(OLG Hamm: Urteil v. 04.07.2003, Az.: (2) 6 EVY 4/02)

Tenor

Die Berufung des angeschuldigten Rechtsanwalts wird zum Schuldspruch mit der Maßgabe verworfen, dass der angeschuldigte Rechtsanwalt in vier Fällen einer Be-rufspflichtverletzung gem. §§ 43 BRAO i. V. m. 14 BerufsO schuldig ist.

Zum Rechtsfolgenausspruch wird das angefochtene Urteil geändert:

Es werden die Maßnahme eines Verweises und die Verhängung einer Geldbuße von 1.000,00 EUR ausgesprochen.

Die Verfahrenskosten beider Rechtszüge tragen die Rechtsanwaltskammer Köln und der angeschuldigte Rechtsanwalt jeweils zur Hälfte.

Die notwendigen Auslagen des angeschuldigten Rechtsanwalts trägt dieser zur Hälf-te selbst und im Óbrigen die Rechtsanwaltskammer Köln.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Durch Urteil des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Köln vom 15. April 2002 ist der angeschuldigte Rechtsanwalt wegen vier Berufspflichtverletzungen, nämlich wegen Verstoßes gegen die Kanzleipflicht, wegen Verstoßes gegen das Umgehungsverbot, wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur Entgegennahme von Zustellungen und wegen Nichtbeteiligung am Kostenausgleichungsverfahren verurteilt worden; es sind die Maßnahmen eines Verweises und eine Geldbuße von 2.500,00 EUR verhängt worden.

Gegen dieses Urteil hat der angeschuldigte Rechtsanwalt form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der er seine Freisprechung erstrebt.

Der Senat hat in der Hauptverhandlung vom 04. Juli 2003 mit Zustimmung der Generalstaatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 116 BRAO i. V. m. § 154 a Abs. 2 StPO auf den Vorwurf beschränkt, der angeschuldigte Rechtsanwalt habe am 20. und 21. Oktober 1999 und am 20. und 21. Dezember 1999 gerichtliche Zustellungen in dem Verfahren 1 C 235/99 AG Gummersbach nicht entgegengenommen.

Der angeschuldigte Rechtsanwalt hat in der Berufungshauptverhandlung sieben Beweisanträge gestellt, wegen deren Inhalt auf die Anlagen zum Terminsprotokoll vom 04. Juli 2003 verwiesen wird.

II.

Die Berufungshauptverhandlung hat zu diesem Vorwurf die folgenden Feststellungen ergeben:

1.

Zur Person:

Der angeschuldigte Rechtsanwalt ist seit dem 03. Februar 1988 als Rechtsanwalt zugelassen. Er ist nicht verheiratet und kinderlos.

2.

Zur Sache:

a)

In dem Rechtsstreit der L AG in Dortmund als Klägerin gegen Frau T in C als Beklagte - 1 C 235/99 AG Gummersbach - vertrat der angeschuldigte Rechtsanwalt die Beklagte. Nach Urteilserlass kam es im Zusammenhang mit der Zustellung des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 10. August 1999 an den angeschuldigte Rechtsanwalt zu Irritationen, die dazu führten, dass die Zustellung mit Postzustellungsurkunde angeordnet wurde.

b)

Der angeschuldigte Rechtsanwalt hatte zu dieser Zeit unter Hinweis darauf, dass er oftmals verspätet in der Kanzlei erscheine, mit der für seine Kanzlei grundsätzlich zuständigen Postzustellerin, der Zeugin C2, vereinbart, dass bei jeder Zustellung mit Postzustellungsurkunde an seine Kanzlei der Zustellversuch am selben Tage vormittags wiederholt werden sollte, wenn er bei der Zustellung etwa in der Zeit zwischen 08.30 Uhr und 09.15 Uhr nicht anzutreffen sei. Entsprechend dieser Vereinbarung suchte die Zeugin C2 auf dem Rückweg von ihrem Dienstgang bis jeweils spätestens 13.00 Uhr die Kanzlei des angeschuldigten Rechtsanwaltes noch einmal auf, um die Zustellung zu bewirken. Am 20. Oktober 1999 hatte die Zeugin C2 eine an den Beklagten unter seiner Kanzleianschrift gerichtete Sendung des Amtsgerichts Gummersbach in dem Verfahren 1 C 235/99 AG Gummersbach zuzustellen. Sie verfuhr wie oben beschrieben, konnte die Sendung aber nicht zustellen, weil die Kanzlei nicht besetzt war. Ebenso verfuhr sie - wiederum erfolglos, weil die Kanzlei nicht besetzt war - einen Tag später. Am 20. Dezember 1999 hatte sie wiederum eine an den Beklagten unter seiner Kanzleianschrift gerichtete Sendung des Amtsgerichts Gummersbach in dem Verfahren 1 C 235/99 AG Gummersbach zuzustellen. Sie verfuhr erfolglos, wie oben beschrieben. Am 21. Dezember 1999 wiederholte sie in der beschriebenen Weise - wiederum erfolglos, weil die Kanzlei nicht besetzt war, den Zustellversuch.

III.

Die vorstehenden Feststellungen zur Person beruhen auf den Angaben des angeschuldigten Rechtsanwaltes; zur Sache hat sich der Angeschuldigte nicht eingelassen.

Die Feststellungen zur Sache gem. Ziff. II 2 b haben ihre Grundlage in den Angaben der vereidigten Zeugin C2 und zu Ziff. II 2 a in der in Augenscheinsnahme der Verfahrensakte 1 C 235/99 AG Gummersbach.

a)

Die Zeugin C2 hat ausgesagt: Sie sei für die Postzustellung an die Kanzlei des angeschuldigten Rechtsanwalts bis April 2000, insgesamt etwa drei bis vier Jahre lang zuständig gewesen. Ihr Dienstweg habe regelmäßig etwa 2 bis 2 1/2 Stunden gedauert. Sie sei zwischen 08.00 Uhr und 08.15 Uhr losgegangen und im Regelfall zwischen 11.15 Uhr und 11.30 Uhr zurückgekehrt. Die Kanzlei des angeschuldigten Rechtsanwaltes liege eher zu Beginn ihres Dienstganges. Sie führe die Zustellungen so aus, dass sie unten an der Haustür die Klingel betätige. Sie könne von unten nicht hören, ob die Klingel in der Kanzlei anschlägt. Die Kanzlei des angeschuldigten Rechtsanwaltes sei nicht das einzige Büro, es befänden sich etwa 4 bis 6 weitere Adressen in dem Haus. Wenn die Haustür unten offen sei, sei sie nach oben bis

vor die Tür der Kanzlei gegangen. Am 20. und 21. Oktober 1999 und am 20. und

21. Dezember 1999 habe sie Post des Amtsgerichts Gummersbach an den Beklagten in seiner Kanzlei zustellen sollen. Das ergebe sich aus den zugehörigen Postzustellungsurkunden Bl. 53, 53 R und Bl. 58, 58 R der Verfahrensakte 1 C 235/99 AG Gummersbach, die ihr gezeigt worden seien. Die dort verwendeten Kürzel stammten von ihr. Sie sei an diesen Tagen verfahren, wie sie es wie vorher beschrieben immer tue. Ob an diesen Tagen die Klingel defekt gewesen sei, könne sie nicht sagen. Unregelmäßigkeiten seien ihr nicht aufgefallen. Sie sei auch niemals von dem angeschuldigten Rechtsanwalt darauf angesprochen worden, dass die Klingel nicht defekt sein könne.

Die Vereinbarung, den Zustellversuch zu wiederholen, habe sie auf Bitten des angeschuldigten Rechtsanwaltes getroffen, weil er ihr gesagt habe, dass er des Àfteren später ins Büro komme.

b)

Die vorstehende Aussage ist glaubhaft. Sie ist in sich widerspruchsfrei und lebensnah. Die Zeugin ist auch glaubwürdig. Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Zeugin den Angeschuldigten zu Unrecht belasten will oder ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigt ist.

c)

Der Senat hat aus der Aussage der Zeugin C2 den Schluss gezogen, dass die Kanzlei des angeschuldigten Rechtsanwaltes am 20. und 21. Oktober 1999 und am 20. und 21. Dezember 1999 nicht besetzt war, so dass die Zustellungen nicht entgegengenommen werden konnten. Es kann ausgeschlossen werden, dass die Erfolglosigkeit der Zustellversuche darauf beruht, dass die Haustürklingel defekt war. Hierfür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Wäre dies der Fall gewesen, wäre zu erwarten gewesen, dass der angeschuldigte Rechtsanwalt die Postzustellerin auf diesen Umstand hingewiesen hätte. Das hat er aber nicht getan. Sein Beweisantrag, durch Sachverständigenbeweis zu ermitteln, dass die Klingel an den genannten Tagen defekt war, rechtfertigt es nicht, die getroffene Schlussfolgerung, dass die Kanzlei nicht besetzt gewesen sei, zu widerlegen. Der Beweisantrag ist ungeeignet, weil durch Sachverständigenbeweis nicht geklärt werden kann, ob vor etwa 4 Jahren die Haustürklingel defekt gewesen sei.

IV.

1.

Allein die Feststellungen zu Ziff. II 2 b rechtfertigen den Schuldspruch gem. § 43 BRAO i. V. m. § 14 BORA. Der angeschuldigte Rechtsanwalt hat an den genannten Tagen seine Berufspflicht verletzt, ordnungsgemäße Zustellungen entgegenzunehmen.

a)

Der Wortlaut des § 14 BORA umfasst auch die Zustellung mit Postzustellungsurkunde. Es mag sein, dass § 14 BORA die Zustellung von Rechtsanwalt zu Rechtsanwalt und mit Empfangsbekenntnis regeln sollte (vgl. Hartung/Holl, Anwaltliche Berufsordnung, § 14 Rdnr. 6 ff.). Der Wortlaut beschränkt sich indes nicht auf diese Zustell-

arten. Wenn § 14 schon die Mitwirkung bei den genannten Zustellarten als Berufspflicht vorschreibt, so muss erst recht gelten, dass ein Rechtsanwalt sich so organisieren muss, dass Zustellungen mit Postzustellungsurkunde entgegengenommen werden können. Es ist eine allgemein jedenfalls den mit gerichtlichen Verfahren vertrauten Personen bekannte Praxis, dass, wenn es zu Irritationen bei der Zustellung mit Empfangsbekenntnis kommt, von Gerichts wegen die Zustellung mit Postzustellungsurkunde verfügt wird. Da es immer zu Irritationen bei der Zustellung kommen kann, muss ein Rechtsanwalt Vorsorge treffen, dass ihm Zustellungen mit Postzustellungsurkunde problemlos erreichen können. Wenn er also kein Büropersonal beschäftigt und seine Praxis allein betreibt, muss er für entsprechende Vertretung hinsichtlich der Empfangnahme der Postzustellungen sorgen oder er muss sicherstellen, dass den Postbediensteten seine Privatanschrift bekannt ist, damit die Zustellung dort vorgenommen werden kann. Gerade weil nach dem zur Tatzeit geltenden § 183 Abs. 2 ZPO a.F. eine Ersatzzustellung bei Rechtsanwälten, die eine Kanzlei unterhalten, nicht möglich ist, muss sich ein Rechtsanwalt so organisieren, dass ihm auch bei Abwesenheit mit Postzustellungsurkunde zugestellt werden kann. Die von dem angeschuldigten Rechtsanwalt mit der Postzustellerin getroffene Vereinbarung reicht ersichtlich nicht aus, diese organisatorischen Anforderungen gerecht zu werden.

b)

Es handelt sich bei den versuchten Zustellungen auch um ordnungsgemäße Zustel-

lungen i.S. von § 14 BORA. Der Beweisantrag des angeschuldigten Rechtsanwalts zu der Frage, ob die Zustellungen jeweils von den zuständigen Amtspersonen angeordnet worden sind, ist für die hier in Rede stehenden Berufspflichtverletzungen ohne Belang. Denn nach § 14 BORA muss ein Rechtsanwalt u.a. gerichtliche Zustellungen entgegennehmen. Es kommt also nicht darauf an, ob die Zustellungsanordnung ordnungsgemäß ist, sondern nur darauf, ob die Zustellung selbst in Ordnung ist. Das war hier aber ausweislich der Zustellungsurkunde und der Aussage der Zeugin

C2 der Fall.

c)

Der angeschuldigte Rechtsanwalt hat seine Berufspflicht auch vorsätzlich verletzt. Er hat nämlich bewusst und billigend in Kauf genommen, dass er für Zustellung per Postzustellungsurkunde nicht erreichbar war. Diese Schlussfolgerung auf die innere Tatseite rechtfertigt sich deshalb, weil es auf der Hand liegt, dass die von dem angeschuldigten Rechtsanwalt getroffenen Vorkehrungen immer wieder und zwangsläufig dazu führen mussten, dass nicht zugestellt werden konnte, weil die von dem Rechts-

anwalt getroffenen Organisationsmaßnahmen (Vereinbarung, dass Zustellversuch wiederholt werden sollte) ersichtlich unzureichend war.

d)

Die Erfolglosigkeit der Zustellungen im Oktober und Dezember 1999 rechtfertigen allerdings nicht den Vorwurf, dass der angeschuldigte Rechtsanwalt auch gegen die Kanzleipflicht gem. § 27 BRAO i. V. m. § 5 BORA verstoßen hat.

Zu den Mindestanforderungen, die an eine Kanzlei zu stellen sind, gehören nach ständiger Rechtsprechung mindestens ein Raum (wohl auch ein Praxisschild) und Telefonanschluss und eine Eintragung im Telefonbuch (vgl. Hartung/Holl, a. a. O.

§ 5 Rdnr. 12 m. w. N.). Gegen diese Mindestanforderungen hat der angeschuldigte Rechtsanwalt nicht verstoßen. Die Bereitstellung eines Kanzleigehilfen, der die Zustellungen gem. § 183 Abs. 2 ZPO a. F. hätte entgegennehmen können, war nicht erforderlich. Ein Rechtsanwalt verletzt seine Kanzleipflicht nicht deshalb, weil er kein Personal vorhält (vgl. Hartung/Holl, a. a. O. Rdnr. 57). Es ist dem einzelnen Rechtsanwalt vielmehr selbst überlassen und seine höchstpersönliche Entscheidung, wie die Kanzlei geführt werden soll. Erst wenn die individuelle Führung der Anwaltskanzlei gravierende Mängel erkennen lässt, die auf sachliche, personelle oder organisatorische Fehlentscheidungen des Rechtsanwalts zurückzuführen sind, lässt sich von einem Verstoß gegen die Kanzleipflicht sprechen. Ein solcher Verstoß kann bei der Erfolglosigkeit von Zustellversuchen an 4 Tagen nicht festgestellt werden.

V.

Bei dem Maßnahmenausspruch war zu berücksichtigen, dass der angeschuldigte Rechtsanwalt wegen Berufspflichtverletzung bisher nicht in Erscheinung getreten ist. Es ist allerdings erforderlich, dem angeschuldigten Rechtsanwalt nachhaltig vor Augen zu führen, dass die Zustellung von Postsendungen im Zivilprozess eine wesentliche Grundlage der Durchführung und Sicherung eines zivilprozessualen Rechtsstreites ist. Denn der angeschuldigte Rechtsanwalt hat ersichtlich nach dem Grundsatz gehandelt, es würde bei der Zustellung alles schon gut gehen. Die verhängten Maßnahmen sind deshalb angemessen aber auch ausreichend.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Abs. 1 2. Variante (teilweise) BRAO und im Óbrigen auf § 198 Abs. 1 BRAO.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision sind nicht erfüllt.






OLG Hamm:
Urteil v. 04.07.2003
Az: (2) 6 EVY 4/02


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