Bundespatentgericht:
Urteil vom 15. Februar 2006
Aktenzeichen: 3 Ni 25/02

(BPatG: Urteil v. 15.02.2006, Az.: 3 Ni 25/02)

Tenor

Das europäische Patent 0 219 058 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass die Patentansprüche folgende Fassung erhalten:

1. Polymerisierbare Zementmischungen, enthaltenda) polymerisierbare, ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, die Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten, b) feinteilige, reaktive Füllstoffe, die mit diesen Säuren oder Säurederivaten reagieren können, nämlich Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silikatzementen oder lonomerzementensowiec) Härtungsmittel, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponenten a) und b) derart ausgewählt sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen gemäß a) mit den feinteiligen, reaktiven Füllstoffen gemäß b) ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen.

2. Mischungen nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren Verbindungen mindestens zwei polymerisierbare Gruppen und mindestens zwei Säuregruppen bzw deren reaktive Derivatgruppen enthalten.

3. Mischungen nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren Verbindungen drei oder mehr polymerisierbare Gruppen und drei oder mehr Säuregruppen bzw deren reaktive Derivatgruppen enthalten.

4. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren ungesättigten Verbindungen Acryl-, Methacryl-, Vinyl-, Styryl- oder eine Mischung dieser Gruppen enthalten.

5. Mischung nach Anspruch 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren ungesättigten Verbindungen Acryl- oder Methacrylgruppen enthalten.

6. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 5, dadurch gekennzeichnet, dass die Säuregruppen Carbonsäurereste oder deren Salze, Phosphorsäurereste der Formeln Grafik der Formelnoder deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl oder Vinyl bedeutet, Schwefelsäurereste der Formeln - SO2H, SO3H, -O-SO3H oder deren Salze oder Borsäurereste der Formeln Grafik der Formelnderen Salze, wobei R Alkyl, Aryl, Vinyl bedeutet, sind.

7. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 6, dadurch gekennzeichnet, dass die reaktiven Säurederivatgruppen in Form von Säurehalogeniden oder -anhydriden vorliegen.

8. Mischungen nach Anspruch 1 bis 7, dadurch gekennzeichnet, dass das ungesättigte Monomer ein Halophosphorsäureester des Bis-GMA ist.

9. Mischungen nach Anspruch 1 bis 7, dadurch gekennzeichnet, dass die Oligomeren oder Prepolymeren solche Verbindungen sind, die die polymerisierbaren ungesättigten Gruppen und die Säurereste, deren Salze oder deren reaktive Derivate an ein oligomeres oder prepolymeres Grundgerüst gebunden enthalten.

10. Mischungen nach Anspruch 9, dadurch gekennzeichnet, dass die oligomeren oder prepolymeren Grundgerüste Homo- oder Copolymerisate von ethylenisch ungesättigten Monomeren sind.

11. Mischungen nach Anspruch 10, dadurch gekennzeichnet, dass sie poly(meth-)acrylierte Oligomaleinsäure, poly(meth-) acrylierte Polymaleinsäure, poly(meth-)acrylierte Poly(meth-) acrylsäure, poly(meth)-acrylierte Polycarbonpolyphosphonsäure, poly(meth-)acrylierte Polychlorophosphorsäure, poly(meth)-acryliertes Polysulfonat oder poly(meth-)acrylierte Polyborsäure enthalten.

12. Mischungen nach Anspruch 9, dadurch gekennzeichnet, dass die oligomeren oder polymeren Grundgerüste Polyester, Polyamide, Polyether, Polysulfone, Pholyphosphazene oder Polysaccaride sind.

13. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet, dass die Oligomeren ein Molekulargewicht von mindestens 500 aufweisen.

14. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet, dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von mindestens 1.500 aufweisen.

15. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet, dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von maximal 100.000 aufweisen.

16. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet, dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von maximal 20.000 aufweisen.

17. Mischungen nach Anspruch 1 bis 16, dadurch gekennzeichnet, dass die Monomeren, Oligomeren oder Prepolymeren außer den Säure- und polymerisierbaren Gruppen Aldehyd-, Epoxid-, Isocyanat- oder Halotriazingruppen enthalten.

18. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 17, dadurch gekennzeichnet, dass sie zusätzlich andere polymerisierbare ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere enthalten, die keine Säuregruppen oder deren reaktive, leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen.

19. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 18, dadurch gekennzeichnet, dass sie zusätzlich andere Verbindungen enthalten, die Säuregruppen oder deren reaktive, leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen, aber keine Gruppen enthalten, die ungesättigt und polymerisierbar sind.

20. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 19, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren, säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem Anteil von mindestens 5 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.

21. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 19, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren, säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem Anteil von 20 % bis 60 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.

22. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 21, dadurch gekennzeichnet, dass zusätzliche, im Sinne von Zementabbinderreaktionen nicht reaktive, anorganische oder organische Füllstoffe zugemischt sind.

23. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 22, dadurch gekennzeichnet dass der Anteil der reaktiven Füllstoffe am Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 5 % beträgt.

24. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 22, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der reaktiven Füllstoffe am Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 30 % beträgt.

25. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 24, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil des Gesamtfüllstoffs zwischen 10 % und 95 % der Mischung beträgt.

26. Mischungen nach Anspruch 1 - 25, dadurch gekennzeichnet, dass das Härtungsmittel ein Polymerisationskatalysator oder -system ist.

27. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 26, dadurch gekennzeichnet, dass das Polymerisationskatalysatorsystem lichtaktivierbar ist und aus einem Gemisch aus einem -Diketon und einem tertiären Amin und/oder einem tertiären Phosphin besteht.

28. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 26, dadurch gekennzeichnet, dass das Polymerisationskatalysatorsystem aus 2 getrennten Komponenten besteht, wobei die eine Komponente ein organisches Peroxid und die andere Komponente ein tertiäres Amin, eine Schwefelverbindung, in der Schwefel in der Oxidationsstufe + 2 oder + 4 vorliegt, oder ein Gemisch der beiden ist, oder chelatbildende zweiwertige Metallionen enthält.

29. Mischungen nach Anspruch 28, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponente eines 2-Komponenten Gemisches, die die Schwefelverbindung enthält, keine polymerisierbare säure- oder säuregruppenenthaltende Verbindungen, jedoch mindestens ein polymerisierbares Monomer mit Hydroxylgruppen enthält.

30. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1 - 29 als härtbare Mischungen zum Ausfüllen, Versiegeln und Kleben von oxidischen, mineralischen, glasartigen, keramischen, metallischen und biologischen Substraten.

31. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 29 als haftvermittelnde Schicht zwischen oxidischem, mineralischem, glasartigem, keramischem, metallischem oder biologischem Substrat und radikalisch polymerisierbaren Kunststoffmaterialien.

32. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 - 29 zum Herstellen von ausgehärteten Formkörpern.

33. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 - 29 zur Herstellung von Produkten oder Zubereitungen für dentale und medizinische Zwecke.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt 4/5, die Beklagte 1/5 der Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 8. Oktober 1986 unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Patentanmeldung DE 35 36 076 vom 9. Oktober 1985 beim Europäischen Patentamt angemeldeten, u. a. mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten und im europäischen Einspruchsverfahren beschränkt aufrechterhaltenen europäischen Patents EP 0 219 058 B2 (Streitpatent), das vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer DE 36 79 959 geführt wird. Das Streitpatent betrifft eine polymerisierbare Zementmischung und umfasst 37 Patentansprüche, von denen der Patentanspruch 1 wie folgt lautet:

1. Polymerisierbare Zementmischungen, enthaltenda) polymerisierbare, ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, die Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten, b) feinteilige, reaktive Füllstoffe, die mit diesen Säuren oder Säurederivaten reagieren können, nämlich Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silikatzementen, lonomerzementen oder von Ionen austauschenden Zeolithen sowiec) Härtungsmittel, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponenten a) und b) derart ausgewählt sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen gemäß a) mit den feinteiligen, reaktiven Füllstoffen gemäß b) ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen.

Wegen des Wortlautes der sich anschließenden Patentansprüche 2 bis 37 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.

Die Klägerin bestreitet die Patentfähigkeit, weil der Gegenstand des Streitpatents gemäß Patentanspruch 1 nicht neu sei und unabhängig davon auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Im Übrigen sei Patentanspruch 1 unklar formuliert, und es führe auch die im Einspruchsverfahren offensichtlich übersehene Anpassung der erteilten Patentansprüche 22 bis 25 an den im beschränkten Umfang aufrechterhaltenen Patentanspruch 1 zu Unklarheiten. Zur Begründung verweist sie auf folgende Druckschriften:

Anlage 1 EP 0 219 058 B2 Anlage 2 Urteil des Landgerichts Frankfurt im parallel laufenden Verletzungsprozess, verkündet am 6. September 2000 Anlage 3 Berufungsbegründung in dieser Sache vom 18. Dezember 2000 D1 GB 20 94 326 A D2 EP 0 132 318 A1 D3 EP 0 036 272 B1 D4 DE 28 28 381 A1 D5 EP 0 115 410 B1 D5a EP 0 115 410 A2 D6 EP 0 120 559 A2 D7 EP 0 155 812 A2 D8 DE 39 41 629 C2 D9 Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes vom 10. Februar 1994 D10 Begründung der Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes vom 10. Februar 1994 D11 Vergleichsversuche der Patentinhaberin vom 17. Januar 1994 D13a, b, c Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry, 5. Aufl., Vol. A8, S. 251 bis 256, 284, 297 bis 299 D14 US 39 71 754 Die Klägerin beantragt, das europäische Patent 0 219 058 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig zu erklären;

hilfsweise das Patent auf Mischungen zu beschränken, in denen die polymerisierbaren, säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen gemäß erteiltem Patentanspruch 21 in einem Anteil von 20 bis 60 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.

Die Beklagte verteidigt das Streitpatent mit den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Patentansprüchen 1 bis 33 und beantragt insoweit Klageabweisung. Wegen des Wortlauts der Patentansprüche wird auf den Tenor verwiesen.

Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und hält das Streitpatent für patentfähig. Zur Stützung ihres Vorbringens verweist sie auf folgende Dokumente:

D12 Merkmalsanalyse des Patentanspruches 1 des Streitpatentes D13 Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry, 5. Aufl., Vol. 8A, S. 274 bis 283 D15 Alan D. Wilson, John W. McLean, Glasionomerzement, 1988, S. 22.

Gründe

Die zulässige Klage erweist sich als teilweise begründet.

Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund führt zur Nichtigkeit des Streitpatents in dem im Tenor genannten Umfang (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit a EPÜ).

I 1. Das Streitpatent betrifft polymerisierbare Zementmischungen gemäß Patentanspruch 1 und die Verwendung dieser Mischungen zur Herstellung von Produkten und Zubereitungen, insbesondere für dentale und medizinische Zwecke, gemäß den Patentansprüchen 34 bis 37. Nach den Angaben der Streitpatentschrift finden in der Zahnmedizin, z. B. zur Befestigung von Kronen und Inlays sowie von orthodontischen Vorrichtungen, als Wurzelkanalfüllungsmaterial und als Unterfüllungsmaterial eine Reihe von Zementen Anwendung. Diese Zemente wiesen eine gute Gewebeverträglichkeit und Haftung an der Zahnsubstanz auf. Darüber hinaus wirkten sie als schützende Sperre gegen Säuren und andere toxische Substanzen. Andererseits seien solche Zemente aber mitunter spröde sowie wasserlöslich und wiesen nur eine geringe mechanische Belastbarkeit auf. Auch zeigten sie keine chemische Haftung an Kunststoffmaterialien. Als Füllmaterial seien Zemente daher weitgehend durch polymerisierbare Kunststoffmaterialien, sogenannte "Composites" bzw. Komposit-Materialien, ersetzt worden. Diese seien dauerhafter, belastbarer, kantenfester, unlöslicher und kosmetisch vorteilhafter. Doch auch deren Anwendung seien aus Gründen der Gewebeirritation und der Toxizität Grenzen gesetzt. Versuche, diese als nachteilig erachteten Eigenschaften zu verbessern, seien vor dem Prioritätstag des Streitpatentes jedoch nur in geringem Maße erfolgreich gewesen (vgl. Streitpatent S. 2 Z. 5 bis S. 3 Z. 2).

2. Nach den Angaben der Beklagten ist es Aufgabe des Streitpatents, neue dentale Mischungen zu finden, die einerseits wesentliche Vorteilsmerkmale von Zementen auf Polycarbonsäure- oder Salicylat-Basis, wie gute Haftung an Zahn- und Knochensubstanz und gute Gewebeverträglichkeit, aufzeigen, andererseits jedoch Vorteilsmerkmale von Komposit-Materialien wie eine geringe Löslichkeit und größere mechanische Festigkeit aufweisen, mit Komposit-Materialien copolymerisiert werden können und keine ausgeprägte Entmischungserscheinungen zeigen (vgl. Streitpatent S. 3 Z. 25 bis 29).

3. Diese Aufgabe wird gemäß Patentanspruch 1 in der verteidigten Fassung gelöst durch Polymerisierbare Zementmischungen, enthaltenda) Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, diese sinda1) polymerisierbar, a2) ungesättigt, a3) sie enthalten Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen;

b) Füllstoffe, diese sindb1) feinteilig, b2) reaktiv, b3) und können mit den Säuren oder Säurederivaten reagieren, b4) die Füllstoffe sind Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silicatzementen oder lonomerzementen;

c) Härtungsmittel;

d) die Komponenten A und B sind derart ausgewählt, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß a) mit den feinteiligen, reaktiven Füllstoffen gemäß b) ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen.

II 1. Die Fassung der Patentansprüche 1 bis 33, mit der die Beklagte das Streitpatent nunmehr verteidigt, ist zulässig. Durch die vorgenommene Beschränkung des Patentanspruches 1, wonach die feinteiligen, reaktiven Füllstoffe Pulver von Ionen austauschenden Zeoliten nicht mehr umfassen, und durch die Streichung der rückbezogenen, auf die reaktiven Füllstoffe gerichteten Patentansprüche 22 bis 25 werden weder der Gegenstand noch der Schutzbereich des Streitpatentes erweitert.

2. Der Gegenstand des Streitpatentes im verteidigten Umfang ist - dieses wird auch von der Klägerin nicht bestritten - so ausreichend offenbart, dass der Fachmann, ein mit der Entwicklung von in der Zahnheilkunde und Medizin verwendbaren Befestigungs- und Füllungsmaterialien befasster Diplom-Chemiker, ihn ausführen kann. Die Klägerin stützt ihren Einwand der mangelnden Ausführbarkeit lediglich auf die - nach ihrer Auffassung unangemessene - Breite des verteidigten Patentanspruches 1. Dieser Einwand füllt aber für sich gesehen einen der gesetzlichen Nichtigkeitsgründe grundsätzlich nicht aus (BGH GRUR 2004, 47 (LS.2) - "blasenfreie Gummibahn I").

Unabhängig davon ist die Ausführbarkeit nach Überzeugung des Senates im vorliegenden Fall auch bei Gehalten der polymerisierbaren, ungesättigten Carbonsäuregruppen und/oder reaktive Derivate davon aufweisenden Verbindungen unterhalb von 5 % gegeben. Die Klägerin hat nämlich nicht in nachprüfbarer Weise dargelegt, dass die von der Streitpatentinhaberin für die beanspruchten polymerisierbaren Zementmassen geltend gemachte patentbegründende Wirkung (vgl. Streitpatent S. 11 Z. 6 bis 12) nicht für den gesamten Bereich gilt. Gegen diese Ansicht spricht, dass mit den Beispielen 4 und 7 der Streitpatentschrift auch Ausführungsformen angegeben sind, deren Gehalt an polymerisierbaren, Carbonsäuregruppen und/oder reaktive Derivate davon aufweisenden Verbindungen, wie auch die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung einräumte, unterhalb von 5 % liegt und die ebenfalls die gemäß Streitpatent angestrebten Eigenschaften, wie Bruchfestigkeit, Härte, Kantenfertigkeit und gute Haftfähigkeit aufweisen (vgl. Streitpatent Beispiele 4 und 7 i. V. m. Beschreibung S. 3 Z. 25 bis 29). Es ist zudem nicht ersichtlich, weshalb der in der Streitpatentschrift für die in Rede stehenden Massen beschriebene feste chemische Verbund, mit dem einer Entmischung entgegengewirkt wird, in diesen Fällen nicht gegeben sein sollte.

3. Auch im Übrigen erweist sich die verteidigte Fassung der Patentansprüche 1 bis 33 als bestandsfähig, denn die Klägerin hat den Senat nicht vom Vorliegen der Nichtigkeitsgründe der fehlenden Neuheit und der fehlenden erfinderischen Tätigkeit überzeugen können.

3.1. Der Gegenstand des verteidigten Patentanspruches 1 ist neu. In keiner der von der Klägerin genannten Entgegenhaltungen sind polymerisierbare Zementmischungen vorbeschrieben, die die dort angegebenen Komponenten a) bis c) als zwingende Bestandteile aufweisen.

Sowohl die deutsche Offenlegungsschrift DE 28 28 381 (D4) als auch die europäischen Offenlegungsschriften EP 0 115 410 A2 (D5a) [bzw. die darauf zurückgehende Patentschrift (D5)], EP 0 120 559 A2 (D6) und EP 0 155 812 A2 (D7) offenbaren zwar in der Zahnheilkunde und Medizin anwendbare, polymerisierbare Zusammensetzungen u. a. zur Befestigung von Zahnersatz bzw. zur Verwendung als Füllmaterial, die polymerisierbare ungesättigte Monomere mit Carbonsäuregruppen und/oder reaktiven Säurederivatgruppen sowie anorganische Füllstoffe enthalten (vgl. (D4) Patentansprüche 1 bis 4 und 11 i. V. m. Beschreibung S. 4 Abs. 1, S. 6 Abs. 2 bis 4, S. 7 Abs. 1 und S. 13 Abs. 4; (5a) Patentansprüche 1, 7, 11 und 13 bis 16 i. V. m. Beschreibung S. 1 bis 4 sowie S. 5 Z. 10 bis S. 6 Z. 19 und S. 23/24 übergreifender Absatz; (D6) Patentansprüche 1, 9, 10 und 14 bis 17 i. V. m. Beschreibung S. 1 Abs. 1, S. 6 Abs. 2 bis S. 7 Abs. 3 und S. 26/27 übergreifender Absatz; (D7) Patentansprüche 1, 6 und 8 i. V. m. Beschreibung S. 1 Abs. 1, S. 2 Z. 1 bis 12, S. 15 Abs. 1 und S. 15/16 übergreifender Absatz). Reaktive Füllstoffe gemäß verteidigtem Patentanspruch 1, die mit diesen Säure- und/oder Säurederivatgruppen reagieren können, nämlich Pulver von Phosphatzement (ZuO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen, werden aber in keiner dieser Schriften genannt. Der Fachmann wird die im verteidigten Patentanspruch 1 angegebenen reaktiven Füllstoffe auch bei keinem der in diesen Schriften angegebenen, als solche üblichen (vgl. z. B. (D6) Beschreibung S. 26 Z. 1 bis 3) anorganischen Füllstoffe, bei denen es sich um Mineralien, Keramiken oder Gläser handelt, mitlesen. Verfügen die im Streitpatent beschriebenen als reaktive Füllstoffe zu verwendenden Zemente doch über eine für sie jeweils ganz charakteristische Zusammensetzung. So besteht der Phosphatzement im Wesentlichen aus annähernd 90 % ZnO und 10 % MgO, basieren Silikatzemente auf einer Mischung aus Quarzpulver, Aluminiumoxid, Aluminium-, Calcium- und Natriumfluorid und werden Ionomerzemente über eine Abbindereaktion von Silikatzement mit Polyacrylsäure hergestellt (vgl. (D13) S. 275 li. Sp. Abs. 5, S. 276 li. Sp. Abs. 3 und S. 277 li./re. Sp. übergreifender Absatz).

Die weiteren im Verfahren befindlichen Druckschriften können die Neuheit ebenfalls nicht in Frage stellen. Sie wurden von der Nichtigkeitsklägerin auch nicht mehr im Hinblick auf das Fehlen dieses Kriteriums genannt.

3.2. Die Bereitstellung der beanspruchten polymerisierbaren Zementmischungen beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Keine der im Verfahren genannten Entgegenhaltungen vermag dem Fachmann Anregungen dahingehend zu vermitteln, zur Herstellung von in der Zahnheilkunde und der Medizin verwendbaren Befestigungs- und Füllungsmaterialien polymerisierbare, ungesättigte Verbindungen, die gleichzeitig Carbonsäuregruppen oder reaktive Derivate davon aufweisen, einzusetzen und die Verbindungen sowohl über eine Polymerisationsreaktion der ungesättigten Bindungen als auch über eine Reaktion der Carbonsäuregruppen mit den im verteidigten Patentanspruch 1 als reaktive Füllstoffe angegebenen Zementen miteinander zu vernetzen.

Dieses trifft auch auf die von der Klägerin im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit diskutierten deutschen Offenlegungsschrift (D4) zu. Die Vernetzung, d. h. Aushärtung, der dort beschriebenen Massen, die als Dentalmassen eingesetzt werden, erfolgt nur über eine Copolymerisation der ethylenisch ungesättigten Carbonsäuren mit Methylacrylaten (vgl. Patentansprüche 1, 4 und 11 i. V. m. Beschreibung S. 11 Abs. 2 und S. 13 Abs. 4). Die Aufgabe der Carbonsäuregruppen ist es gemäß (D4) hingegen nur, die Haftfähigkeit der in Rede stehenden Zusammensetzungen an Emailoberflächen oder am Dentin von Zähnen bzw. am Zahngewebe zu erhöhen (vgl. Beschreibung S. 5 Abs. 4 bis S. 6 Abs. 2, S. 7 Abs. 2, S. 10/11 übergreifender Absatz, S. 14/15 übergreifender Absatz). Deren Abhängigkeit von der Anwesenheit und dem strukturellen Aufbau der Carbonsäuren oder von reaktiven Säurederivaten davon stellt dabei einen dem Fachmann wohlbekannten Zusammenhang dar (vgl. z. B. (D4) Beschreibung S. 10/11 übergreifender Absatz und S. 5/6 übergreifender Absatz; (5a) Beschreibung S. 7 Abs. 2 und S. 20 Z. 12 bis 17; (D6) Beschreibung S. 2 Z. 10 bis S. 5 Z. 13 sowie S. 23 Z. 6 bis 9; (D7) Beschreibung S. 1 Z. 5 bis 13 und S. 10 Z. 3 bis 5), auch wenn der tatsächliche Verlauf der Reaktion mit dem Dentin, das neben Hydroxyapatit einen höheren Gehalt an organischen Bestandteilen aufweist, nicht geklärt ist (vgl. (D13) S. 283/284 re./li. Sp. übergreifender Absatz). Jedoch selbst dann, wenn - der Argumentation der Klägerin folgend - der Fachmann von der Bildung eines Chelatkomplexes zwischen den Carbonsäuregruppen und den Calcium-Ionen des Hydroxyapatits ausgehen sollte, so werden ihm damit doch keine Anregungen dahingehend vermittelt, welche Maßnahmen er zur Lösung der dem Streitpatent zugrunde liegenden Aufgabe zu ergreifen hat. Wird dem Fachmann mit der Entgegenhaltung (D4) doch nur die Lehre vermittelt, wie er die Klebeeigenschaften von Komposit-Materialien verbessern kann. Er erhält damit aber keine Hinweise wie er vorzugehen hat, wenn er vor die Aufgabe gestellt ist, Zusammensetzungen bereitzustellen, die nicht nur über eine gute Haftfähigkeit an Zahn- und Knochensubstanz verfügen, sondern gleichzeitig auch wesentliche Vorteilsmerkmale von Zementen auf Polycarbonsäure- oder Salicylat-Basis sowie Komposit-Materialien aufweisen.

Das Argument der Klägerin, der beispielsweise in den Dokumenten (D6) und (D7) - sowie im Übrigen auch in der Druckschrift (D4) - zu findende Begriff des Zementes im Zusammenhang mit den dort beschriebenen Komposit-Materialien lege es dem Fachmann nahe, in Kenntnis der aus (D4) bekannten Reaktion der Carbonsäuregruppen mit Dentin für Komposit-Materialien zusätzlich eine Vernetzungsreaktion über die Carbonsäuregruppen mit reaktiven Füllstoffen, wie im verteidigten Patentanspruch 1 angegeben, in Erwägung zu ziehen, wenn er vor die Aufgabe gestellt ist, die Vorteile beider Materialien zu vereinen, kann das Fehlen der erfinderischen Tätigkeit nicht begründen.

Zwar handelt es sich bei der in Rede stehenden Reaktion zwischen den Carbonsäuregruppen und anorganischen Kationen bzw. reaktiven Füllstoffen zweifelsohne um eine dem Fachmann auch im Zusammenhang mit der Zementherstellung wohl bekannte Reaktion. Keine der im Verfahren befindlichen Dokumente gibt dem Fachmann aber eine Veranlassung, diese im Zusammenhang mit der Aushärtung von Komposit-Materialien, d. h. so wie im verteidigten Patentanspruch 1 angegeben, einzusetzen. Bestätigung findet diese Auffassung durch die beispielsweise in den Dokumenten (D4), (D5a) und (D6) zu findenden Angaben im Zusammenhang mit den dort verwendeten Begriffen "Zahnzement" oder "Knochenzement", wonach sich die in Rede stehenden Bezeichnungen jedenfalls nicht von einer tatsächlichen zementartigen Zusammensetzung ableiten. Die so bezeichneten Materialien enthalten nämlich entweder keine nennenswerten, die Eigenschaften wesentlich bestimmenden anorganischen Füllstoffe oder nur die in diesen Dokumenten angegebenen neutralen anorganischen Füllstoffe, die üblicherweise silanisiert vorliegen und damit nicht über eine Reaktion mit den Carbonsäuregruppen in die Kunststoff-Matrix eingebunden werden (vgl. (D4) Beschreibung S. 5 Abs. 2 i. V. m. S. 12 Abs. 2 bis S. 13 Abs. 2 i. V. m. den Beispielen; (D5a) Beschreibung S. 23 Z. 4 bis 9 i. V. m. S. 24 Z. 12 bis 15, S. 27 Z. 16 bis 19 und S. 29 Z. 9 bis 15; (D6) Beschreibung S. 7 Abs. 3 i. V. m. S. 26 Z. 1 bis 6 und 21 bis S. 27 Z. 1, S. 27 Z. 14 bis 18 sowie S. 33 Z. 6 bis 13).

Zu keiner anderen Beurteilung der Sachlage kann der Einwand der Klägerin führen, der Fachmann erachte die in Rede stehende Zementreaktion als eine Alternativreaktion zu der in den Dokumenten (D5a) bis (D7) beschriebenen Einbindung der anorganischen Füllstoffe in eine Kunststoff-Matrix über deren Silanisierung. Deshalb werde er auch beide Reaktionen als gleichwertig in Betracht ziehen, wenn er Komposit-Materialien und Füllstoffe zur Vermeidung einer unerwünschten Entmischung miteinander verbinden wolle. Gegen dieses Argument spricht, dass es sich dabei um zwei grundsätzlich verschiedene Umsetzungen handelt, im Zuge derer die Struktur und damit die Eigenschaften der Matrix in jeweils unterschiedlicher Weise beeinflusst werden. So bildet das Kunststoff-Gerüst als Folge der Copolymerisation mit den silanisierten Füllstoffen neue kovalente Bindungen unter Verlust von Mehrfachbindungen aus (vgl. (D13) S. 282 li. Sp. Abs. 2), während die Reaktion der Carbonsäuregruppen mit den reaktiven Füllstoffen zwar ebenfalls zu einer weiteren Vernetzung der Matrix führt, nicht aber zu einer strukturellen Veränderung der Polymeren selbst. Angesichts der vorliegenden, dem Streitpatent zugrunde liegenden Aufgabe wird der Fachmann diese Reaktionen daher nicht als gegeneinander austauschbar ansehen. Dieses trifft um so mehr zu, als übliche Komposit-Materialien, z. B. gemäß (D5a) bis (D7), die Einbindung silanisierter Füllstoffe in die Kunststoff-Matrix bereits aufweisen, ohne dass solche Zusammensetzungen aber die angestrebten vorteilhaften Eigenschaften von Komposit-Materialien und Zementen besitzen (vgl. Streitpatentschrift S. 2 Z. 40 bis 56).

Somit kann weder die Entgegenhaltung (D4) alleine noch in einer Zusammenschau mit den Dokumenten (D5a) bis (D7) dem Fachmann Anregungen dahingehend vermitteln, zur Lösung der dem Streitpatent zugrunde liegenden Aufgabe polymerisierbare Zementmassen bereitzustellen, die sowohl über eine Polymerisationsreaktion als auch eine Zementreaktion aushärten. Hinweise nämlich, dass es bei einer Vorgehensweise, wie im Streitpatent beschrieben, ermöglicht wird, zu Materialien zu gelangen, die nicht nur weiterhin eine gute Haftfähigkeit aufweisen, sondern darüber hinaus auch über Eigenschaften von Komposit-Materialien und zugleich von Zementen verfügen, d. h. bei guter Bruch- und Kantenfertigkeit, guter Härte und wenig Sprödigkeit eine gute Gewebeverträglichkeitzeigen, gleichzeitig aber weniger löslich als Zemente sind, ohne sich zu entmischen, werden mit keiner dieser Druckschriften gegeben (vgl. Streitpatentschrift S. 11 Z. 6 bis 13).

Die weiteren von der Klägerin ins Verfahren eingeführten Druckschriften wurden von ihr nicht wieder aufgegriffen und gehen nicht über den Inhalt der vorstehend diskutierten Dokumente hinaus bzw. liegen weiter vom Gegenstand des Streitpatentes ab. Daher können auch sie die erfinderische Tätigkeit bei der Bereitstellung der beanspruchten polymerisierbaren Zementmischungen nicht in Frage stellen.

Angesichts dieser Sachlage musste der Fachmann somit erfinderisch tätig werden, um die mit dem verteidigten Patentanspruch 1 beanspruchten polymerisierbaren Zementmischungen bereitzustellen. Der Gegenstand des verteidigten Patentanspruches 1 wird daher vom Stand der Technik nicht nahegelegt.

3.3. Nach alledem ist der Patentanspruch 1 in der verteidigten Fassung rechtsbeständig.

Die hierauf rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 29 haben mit dem Patentanspruch 1 Bestand.

Die Patentfähigkeit der mit den Patentansprüchen 30 bis 33 angegebenen Verwendung von polymerisierbaren Zementmischungen, wie sie im Patentanspruch 1 in der verteidigten Fassung definiert sind, wird von den zum Patentanspruch 1 ausgeführten Gründen getragen.

III Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.






BPatG:
Urteil v. 15.02.2006
Az: 3 Ni 25/02


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