Bundespatentgericht:
Beschluss vom 26. April 2006
Aktenzeichen: 20 W (pat) 327/03

(BPatG: Beschluss v. 26.04.2006, Az.: 20 W (pat) 327/03)

Tenor

1. Das Patent wird widerrufen.

2. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Einsprechende macht mangelnde Patentfähigkeit und fehlende Ausführbarkeit geltend. Außerdem ist sie der Ansicht, der Gegenstand des Patentanspruches 1 sei unzulässig geändert. Sie stützt ihren Einspruch ua. auf folgende Druckschriften:

(3) WO 99/60335 A1

(9) EP 0 854 436 A2 Die Druckschrift (9) ist von der Einsprechenden erst in der mündlichen Verhandlung überreicht worden.

Die Einsprechende beantragt, das Patent zu widerrufen.

Die Patentinhaberinnen beantragen, für den Fall, dass der Senat die Druckschrift (9) als relevant ansieht, die Sache zu vertagen, ansonsten das Patent mit Patentansprüchen 1 bis 9, eingegangen am 13. April 2006, aufrechtzuerhalten, hilfsweise mit Patentansprüchen 1 bis 9, überreicht in der mündlichen Verhandlung.

Sie regen an, die Rechtsbeschwerde zuzulassen.

Der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

"1. Verfahren zur Realisierung eines Informations- und/oder Datenflusses in einem geodätischen Gerät mit Bildverarbeitung, wobei - der zur Bildverarbeitung notwendige Daten- und Informationsfluß auf mehrere im Gerät angeordnete, Funktionsmodule (FM) umfassende Funktionsgruppen (FGI; FGII; FGIII) aufgeteilt und durch diese Funktionsgruppen (FGI; FGII; FGIII) realisiert wird und - mindestens zwei verschiedene Betriebsmodi im Gerät realisiert werden, wobei - ein erster Betriebsmodus zur Ausrichtung des Gerätes auf ein Ziel und ein zweiter Betriebsmodus zu Messungen im aufgenommenen Bild verwendet wird,

- eine erste der Funktionsgruppen (FGI) als Funktionsmodule ein Kameramodul (KA) und eine Bilddaten des Kameramoduls (KA) übertragende Datensendeeinrichtung (DS) umfasst,

- über die im ersten Betriebsmodus verlustbehaftet komprimierte Bilddaten und im zweiten Betriebsmodus bezüglich der Messungen verlustfrei komprimierte Bilddaten übertragen werden."

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet:

"1. Verfahren zur Realisierung eines Informations- und/oder Datenflusses in einem geodätischen Gerät mit Bildverarbeitung, wobei - der zur Bildverarbeitung notwendige Daten- und Informationsfluß auf mehrere im Gerät angeordnete, Funktionsmodule (FM) umfassende Funktionsgruppen (FGI; FGII; FGIII) aufgeteilt und durch diese Funktionsgruppen (FGI; FGII; FGIII) realisiert wird und als eines der Funktionsmodule (FM) ein Kameramodul (KA) vorgesehen ist, das die zu verarbeitenden Bilder aufnimmt und - mindestens zwei verschiedene Betriebsmodi im Gerät realisiert werden, wobei - ein erster Betriebsmodus zur Ausrichtung des Geräts auf ein Ziel unter Lifebilddarstellung der aufgenommenen Bilder auf einem Bildanzeigemodul (BAM) und ein zweiter Betriebsmodus zu die Bildverarbeitung realisierenden Messungen im aufgenommenen Bild verwendet wird,

- eine erste der Funktionsgruppen (FGI) in einem Fernrohrkörper (4) des geodätischen Gerätes angeordnet ist, als Funktionsmodule das Kameramodul (KA) und eine Bilddaten des Kameramoduls (KA) zu einer zweiten, außerhalb des Fernrohrkörpers (4) angeordneten Funktionsgruppe (FGII) übertragende Datensendeeinrichtung (DS) umfasst,

- über die im ersten Betriebsmodus verlustbehaftet komprimierte Bilddaten und im zweiten Betriebsmodus bezüglich der Messungen verlustfrei komprimierte Bilddaten übertragen werden."

Die Einsprechende ist der Ansicht, der Gegenstand des Patentanspruches 1 in den Fassungen gemäß Hauptantrag und Hilfsantrag beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die Patentinhaberinnen führen aus, die Druckschrift (9) betreffe ein Verfahren zur Messung von Winkellagen von auf einem sich bewegenden Fließband liegenden Gegenständen. Die Kamera sei immer fest auf das Fließband ausgerichtet. Es gebe daher keinen Betriebsmodus zur Ausrichtung der Kamera auf ein Ziel und auch keine Lifebilddarstellung. Die Übertragung der Bilder von der Kamera zum Rechner erfolge immer in der vollen Auflösung. Eine Komprimierung der Bilddaten werde erst im Rechner vorgenommen, wobei für eine grobe Messung mit einer starken, verlustbehafteten Komprimierung und für eine daran anschließende exakte Messung mit einer verlustfreien Komprimierung gearbeitet werde. Der Gegenstand des Patentanspruches 1 gemäß Hauptantrag und gemäß Hilfsantrag beruhe gegenüber Druckschrift (9) ebenso wie gegenüber Druckschrift (3) auf einer erfinderischen Tätigkeit.

II.

1. Der unbestritten zulässige Einspruch führt zum Widerruf des Patents.

Hauptantrag Der Gegenstand des Patentanspruches 1 gemäß Hauptantrag umfasst den Gegenstand des enger gefassten Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag. Nachdem letzterer - wie die nachfolgenden Ausführungen zum Hilfsantrag zeigen - nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, ist auch der Patentanspruch 1 nach Hauptantrag nicht rechtsbeständig.

Hilfsantrag Als Fachmann ist ein Ingenieur mit Hochschulausbildung anzusehen, der über berufliche Erfahrungen in der Entwicklung von geodätischen Geräten verfügt und dabei auch vertiefte Kenntnisse über die Bildverarbeitung und die Komprimierung von Bilddaten erworben hat.

Die Druckschrift (3) betrifft ein Verfahren zur Realisierung eines Informations- und/oder Datenflusses in einem geodätischen Gerät (Abstract: Entfernungsmessung) mit Bildverarbeitung (S. 1 Z. 20-24).

Der zur Bildverarbeitung notwendige Daten- und Informationsfluss wird auf mehrere im Gerät angeordnete Funktionsmodule (S. 2 Z. 15-22: Kamera; S. 8 Z. 28 - S. 9 Z. 12: Prozessor; S. 21 Z. 2-5: Monitor; S. 21 Z. 2: Maus, Joystick) aufgeteilt. Funktionsgruppen werden zwar nicht ausdrücklich erwähnt, dennoch kann man auch bei dem bekannten Verfahren von Funktionsgruppen sprechen, die jeweils mehrere funktionsmäßig in Zusammenhang stehende Funktionsmodule umfassen. Der Daten- und Informationsfluss wird somit durch Funktionsgruppen realisiert. Als eines der Funktionsmodule ist ein Kameramodul vorgesehen, das die zu verarbeitenden Bilder aufnimmt.

Im Gerät sind mindestens zwei verschiedene Betriebsmodi realisiert. Ein erster Betriebsmodus wird zur Ausrichtung des Geräts auf ein Ziel unter Lifebilddarstellung der aufgenommenen Bilder auf einem Bildanzeigemodul (S. 21 Z. 5-7) und ein zweiter Betriebsmodus zu die Bildverarbeitung realisierenden Messungen im aufgenommenen Bild verwendet (S. 21 Z. 9-18).

Eine erste der Funktionsgruppen ist im offensichtlich einen Fernrohrkörper bildenden Gehäuse 50 des geodätischen Gerätes angeordnet (Fig. 1, 2, 3). Diese erste Funktionsgruppe umfasst neben dem Kameramodul eine Datensendeeinrichtung (Ausgangsanschluss der Kamera, Kabel), die die Bilddaten des Kameramoduls zu einer zweiten, außerhalb des Fernrohrkörpers angeordneten Funktionsgruppe überträgt (Fig. 5; S. 13 Z. 28-33).

Aus Druckschrift (3) sind keine Angaben zu entnehmen, in welcher Weise die Bilddaten komprimiert werden. Die verschiedenen Arten der Komprimierung und ihre Auswirkungen auf Bildqualität, Datenübertragungsrate und Rechengeschwindigkeit gehören zum Fachwissen des Fachmanns. Der Fachmann wählt abhängig von den Anforderungen an Bildqualität, Datenübertragungsrate und Rechengeschwindigkeit jeweils eine geeignete Komprimierungsart aus. Im ersten Betriebsmodus kommt es auf die flüssige Darstellung der aufgenommenen Bilder in Echtzeit an. Die Qualität der Bilder ist dagegen weniger wichtig, weil die Bilder nur zur groben Ausrichtung des Geräts dienen sollen. Für den Fachmann bietet es sich daher an, die Bilddaten vor der Datenübertragung verlustbehaftet zu komprimieren. Im zweiten Betriebsmodus, der zu Messungen in einem aufgenommenen Bild dient, kommt es dagegen auf möglichst große Genauigkeit an. Da die Messungen an Standbildern (S. 21 Z. 11-13: freeze frame) vorgenommen werden, kann dagegen eine langsamere Datenübertragung und Datenverarbeitung in Kauf genommen werden. Der Fachmann entscheidet sich daher im zweiten Betriebsmodus für eine verlustfreie Komprimierung der zu übertragenden Daten.

Dieses Vorgehen liegt für den Fachmann auch deshalb nahe, weil die Verwendung unterschiedlicher Komprimierungsarten in einem Gerät zu seinem Fachwissen gehört. Zum Beleg für dieses Fachwissen wird auf Druckschrift (9) verwiesen, die ein Lageerkennungssystem beschreibt, bei dem die Lage der Objekte zunächst unter Verwendung einer hohen, verlustbehafteten Komprimierungsrate grob bestimmt wird. Für die dann anschließende genaue Messung wird auf eine schwächere Komprimierungsrate umgestellt (Abstract).

2. Der Senat konnte in der Sache ohne Vertagung der mündlichen Verhandlung entscheiden.

In Übereinstimmung mit den Ausführungen der Patentinhaberinnen in der mündlichen Verhandlung nimmt die von der Einsprechenden erst im Termin überreichte Druckschrift (9) den Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nach Haupt- und Hilfsantrag nicht vorweg und legt ihn auch nicht nahe. Sie ist, wie unter 1. dargelegt, im Ergebnis lediglich insofern entscheidungsrelevant, als sie vom Senat zum Beleg des Fachwissens herangezogen wurde. Das rechtliche Gehör der Patentinhaberinnen war folglich hinlänglich dadurch gewährleistet, dass der patentanwaltliche Vertreter der Patentinhaberinnen Gelegenheit erhielt, sich während der gut zweistündigen Unterbrechung der Sitzung mit dem Inhalt der Druckschrift vertraut zu machen.

Zu einer Vertagung der mündlichen Verhandlung bestand darüber hinaus kein Anlass. Eine Vertagung rechtfertigende erhebliche Gründe im Sinne von § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die den Anspruch auf rechtliches Gehör einer Partei berühren und die auch gerade zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern (vgl. BGH GRUR 2004, 354 - 356 - "Vertagung" mit Hinweis auf BVerwG NJW 1995, 1231). Die Notwendigkeit der Vertagung besteht nach höchstrichterlicher Rechtsprechung immer dann, wenn nach dem für das Gericht ersichtlichen Sachstand durch die Ablehnung der Vertagung der beantragenden Partei die Möglichkeit genommen wird, sich in der betreffenden Instanz sachgemäß und erschöpfend über alle Tatsachen, Beweisergebnisse oder sonstigen verhandelten Fragen zu erklären, die Grundlage der zu treffenden Entscheidung sind. Ein solcher Fall ist nach BGH aaO. beispielsweise gegeben, wenn die Vertagung beantragende Partei von dem Gericht oder der Gegenseite mit einer Tatsachen- oder einer Rechtslage konfrontiert wird, mit der sie sich nicht aus dem Stand auseinanderzusetzen vermag, zu der sie sachlich fundiert vielmehr nur dann Stellung nehmen kann, wenn sie angemessene Zeit für Überlegungen und Vorbereitung hat, die anders, etwa durch eine Unterbrechung der mündlichen Verhandlung, nicht in ausreichender Weise zur Verfügung gestellt werden kann.

Ein solcher Fall lag hier nicht vor, da der patentanwaltliche Vertreter der Patentinhaberinnen durch die Unterbrechung der mündlichen Verhandlung ausreichend Zeit zur Verfügung hatte, sich mit der neu eingeführten Druckschrift zu befassen und ihre Relevanz für die Patentfähigkeit der geltenden Fassung von Patentanspruch 1 zu prüfen. Nach Ende der Unterbrechung hat der Vertreter dementsprechend auch sachgemäß und erschöpfend zu Druckschrift (9), insbesondere zu den dort beschriebenen Komprimierungsverfahren, Stellung genommen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Patentinhaberinnen relativ kurzfristig einen geänderten Anspruchssatz eingereicht hatten, wobei in Patentanspruch 1 erstmals unterschiedliche Komprimierungsverfahren beansprucht wurden, muss sich der Vertreter der Patentinhaberinnen bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung darauf einstellen, dass die Einsprechende gegenüber diesem neuen Sachstand versuchen wird, Material zu recherchieren, das diesem neuen Gegenstand eventuell patenthindernd entgegenstehen könnte. Die kurzfristig eingereichte neue Anspruchsfassung hatte damit zwangsläufig zur Folge, dass nach Ansicht der Einsprechenden relevantes Material kurz vor bzw. erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegt werden konnte. Soweit der Vertreter der Patentinhaberinnen vorträgt, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Druckschrift (9) bedinge gegebenenfalls eine Änderung der Anspruchsfassung, die er nicht in angemessener Zeit mit den Mandanten besprechen könne, rechtfertigt dies ebenfalls nicht eine Vertagung, da der Vertreter mit einer Reaktion der Einsprechenden auf die geänderten Patentansprüche vom 13. April 2006 rechnen musste und dies bereits im Rahmen der Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung beim Mandantengespräch hätte berücksichtigen müssen.

Die Zulassung der Rechtsbeschwerde folgt aus § 100 Abs. 2 Nr. 1 PatG.






BPatG:
Beschluss v. 26.04.2006
Az: 20 W (pat) 327/03


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