Bundespatentgericht:
Urteil vom 11. August 2004
Aktenzeichen: 4 Ni 36/03

(BPatG: Urteil v. 11.08.2004, Az.: 4 Ni 36/03)

Tenor

1. Das europäische Patent 0 482 015 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 482 015 (Streitpatent), das am 20. Juni 1990 unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Patentanmeldung 39 22 506 vom 8. Juli 1989 angemeldet worden ist. Das in der Verfahrenssprache Deutsch veröffentlichte Streitpatent hat nach Ablauf der europäischen Einspruchsfrist Rechtkraft erlangt. Es wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer 590 05 214 geführt und trägt den Titel "Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge". Das Patent umfasst 15 Ansprüche, von denen Patentanspruch 1 folgenden Wortlaut hat:

"Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge, insbesondere Rückhaltesystem, wie Airbag, Gurtstraffer usw., mit mindestens einem eine Ansprechzeit aufweisenden Auslösesensor (1), einer Recheneinheit (2) und einer Zündendstufe (5) zur Aktivierung des Sicherheitssystems, gekennzeichnet durcheine von der Recheneinheit (2) steuerbare Sperrschaltung (21), die erst nach Ablauf einer Verriegelungs-Freigabezeit (tv) die Zündendstufe entriegelt, wobei die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) kleiner als die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors (1) ist.

Wegen der auf Patentanspruch 1 zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 15 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.

Die Klägerin beabsichtigt, das Streitpatent in vollem Umfang für nichtig erklären zu lassen. Die Offenbarung des Streitpatents sei mangelhaft, weil offen bleibe, wann die Ansprechzeit des Auslösesensors beginne. Außerdem legt sie ein Verständnis des angegriffenen Insassen-Sicherheitssystems für Fahrzeuge zugrunde, wonach die Ansprechzeit des Auslösesensors und die Verriegelungs-Freigabezeit der Sperrschaltung bei etwa gleichzeitigem Beginn parallel ablaufen. Durch die streitpatentgemäße Bedingung, dass die Verriegelungs-Freigabezeit tv kleiner als die Ansprechzeit ta sein soll, treffe der Zündimpuls immer auf eine geprüfte und entriegelte Zündendstufe. Eine andere Interpretation des Streitgegenstandes sei vor dem Hintergrund der Gesamtoffenbarung nicht möglich. Bei diesem Verständnis fehle dem Streitgegenstand die nötige Neuheit bzw beruhe er nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Zum Stand der Technik beruft sie sich auf zwölf Druckschriften.

Die Klägerin beantragt, das europäische Patent EP 0482 015 B1 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig zu erklären.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und hält das Streitpatent für bestandsfähig. Unter Berufung auf die Gesamtoffenbarung versteht sie ihre Erfindung derart, dass die Ansprechzeit ta des Auslösesensors und die Verriegelungs-Freigabezeit tv der Sperrschaltung nacheinander ablaufen müssen. Ein anderes Verständnis schließt sie in der mündlichen Verhandlung kategorisch aus. Die streitpatentgemäße Zeitbedingung, dass die Verriegelungs-Freigabezeit tv kleiner als die Ansprechzeit ta sein muss, besage lediglich, dass die Zündung des Sicherheitssystems bei vorliegender Auslöseentscheidung so schnell wie möglich stattfinden müsse. Ein so verstandener Gegenstand des Streitpatents sei gegenüber dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik neu und beruhe auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Gründe

Die zulässige Klage, mit der die in Art II § 6 Abs 1 Nr 1 und 2 IntPatÜG, Art 138 Abs 1 lit a EPÜ iVm Artikel 54 Abs 1, 2 und Art 56 sowie Art 138 Abs 1 lit a und b EPÜ vorgesehenen Nichtigkeitsgründe der unzureichenden Offenbarung und der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht werden, ist begründet.

1. Das Streitpatent betrifft ein Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge, insbesondere ein Rückhaltesystem, wie Airbag, Gurtstraffer usw., nach der Gattung des Patentanspruchs 1. Gemäß der Patentbeschreibung sind bei derartigen Systemen Fehlauslösungen unbedingt zu vermeiden, da diese große Gefahren mit sich bringen. Zwei wesentliche Kriterien, die in den genannten elektronischen Rückhaltesystemen zu Fehlauslösungen führen können, sind nicht definierte Hardware-Zustände während des Ein- und Ausschaltens oder Störungen in der Recheneinheit, die eine Zündendstufe des Sicherheitssystems ansteuert. Nach dem Stand der Technik ist eine Zündeinrichtung für Schutzvorrichtungen in Fahrzeugen bekannt, welche erst nach Übertragung eines Entriegelungssignals zeitverzugslos zu einer Freigabe der Zündeinrichtung führt und so eine ungewollte Zündauslösung sicher verhindert.

Vor diesem Hintergrund formuliert die Streitpatentschrift die Aufgabe und Vorteile der Erfindung darin, dass demgegenüber eine von der Recheneinheit angesteuerte Sperrschaltung eine Verriegelung der Zündendstufe vornimmt und dadurch eine Fehlauslösung vermieden wird. Wörtlich heißt es in der Patentschrift weiter "Die Sperrschaltung entriegelt erst nach Ablauf einer vorgebbaren Verriegelungs-Freigabezeit die Zündendstufe, wobei die Verriegelungs-Freigabezeit kleiner als die Ansprechzeit des Auslösesensors ist" (Sp 2, Z 13-17).

Sodann heißt es, dass für eine sichere Schutzfunktion insbesondere erforderlich sei, dass nach Aufintegrierung und dem Ablauf der Ansprechzeit des Auslösesensors "der vom Auslösesensor kommende Auslöseimpuls der entriegelten Zündendstufe zugeleitet wird, damit eine Systemaktivierung erfolgen kann. Mithin muss bis zu diesem Zeitpunkt die erfindungsgemäße Verriegelungs-Freigabezeit bereits abgelaufen sein" (Sp 2, Z 35 -40). Dies ermögliche den vorliegenden Zustand des Sicherheitssystems auf seinen korrekten Betriebszustand zu untersuchen, insbesondere zu prüfen, ob sich die elektronischen Baueinheiten des Auslösesensors und der Recheneinheit jeweils im korrekten Zustand befänden (Sp 2, Z 41-48). Im Normalbetrieb sei somit aufgrund der Sperrschaltung eine dauernde Verriegelung der Zündendstufe gegeben, "die erst dann, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gewollte Auslösung des Insassen-Sicherheitssystem erfolgen soll, so frühzeitig aufgehoben wird, dass bis zum eigentlichen Zündzeitpunkt die Zeitverzögerung (Verriegelungs-Freigabezeit) abgelaufen ist" (Sp 2, Z 48-56). Durch die erfindungsgemäße zeitverzögerte Freigabe sei noch für eine gewisse Zeitspanne ein "rettendes Eingreifen" möglich (Sp 3, Z 1-3).

2. Das Patent konnte keinen Bestand haben und war für nichtig zu erklären, weil das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Die Erfindung muss im Patent so deutlich offenbart sein, dass für die von einer Patenterteilung Betroffenen eindeutig erkennbar ist, welche Erfindung mit einem Patent- oder Gebrauchsmuster unter Schutz gestellt ist (BGH, GRUR 1972, 80 - Trioxan). Nach gefestigter BGH-Rechtsprechung muss eine Erfindung deshalb eindeutig identifizierbar sein. Eine eindeutige Identifizierung ist vorliegend nicht möglich, denn für die im Patentanspruch 1 offengelassene Frage, wann die Recheneinheit 2 die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) in Gang setzt und - demzufolge - ob die Ansprechzeit (ta) und die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) parallel oder nacheinander ablaufen, liefert die Gesamtoffenbarung des Streitpatents keine eindeutige Antwort. Die Beantwortung dieser Frage ist für die Identität des erfindungsgemäßen Insassen-Sicherheitssystems jedoch unverzichtbar. Mithin liegt der Nichtigkeitsgrund unzureichender Offenbarung der Erfindung im Sinne von Art II § 6 Abs 1 Nr 2 IntPatÜG vor.

2.1 Als Durchschnittsfachmann setzt der Senat einen Diplomingenieur der Elektrotechnik voraus, der bei einem Kfz-Hersteller oder -Zulieferer mit der Entwicklung von Insassen-Sicherheitssystemen befasst ist und über mehrjährige Berufserfahrung verfügt.

2.2 Dieser Durchschnittsfachmann findet im Wortlaut des Patentanspruchs 1 zunächst zwei inhaltlich nicht definierte Begriffe vor: Ansprechzeit (ta) und Verriegelungs-Freigabezeit (tv). Aus der Patentbeschreibung erfährt er, dass die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors 1 mit der Sensierung einer über einem Schwellenwert liegenden Beschleunigung beginnt, deren Verarbeitung in einer oder mehreren Rechenschaltungen beinhaltet und bei Überschreiten einer bestimmten Größe mit einer Auslösung des Sicherheitssystems endet, vgl insb Sp 2 Z 20-30. Die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) wird von der Sperrschaltung 21 bestimmt und ist beschreibungsgemäß definiert als Wiederaufladezeit eines der Sperrschaltung 21 zugehörigen Kondensators C bzw als Zeitkonstante des entsprechenden R/C-Gliedes 25, die mit der Umschaltung des Komparators K endet, vgl Sp 10 Z 5-14 iVm Fig 2. Das Laden des Kondensators C und damit die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) beginnt mit dem "High"-setzen des Sperranschlusses 20 einer Recheneinheit 2, Sp 9 Z 48 ff und Sp 11 Z 12-14.

Diese beiden Definitionen geben dem Durchschnittsfachmann keine Informationen darüber, in welcher zeitlichen Beziehung das "High"-setzen des Sperranschlusses 20 zur Ansprechzeit (ta) steht. Von dieser Beziehung hängt jedoch ab, ob die Ansprechzeit (ta) und die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) parallel oder nacheinander ablaufen.

Die nachfolgend zitierten zentralen Beschreibungsstellen der Streitpatentschrift legen Klägerin und Beklagte jeweils gegensätzlich aus.

Der Beschreibung Sp 2 Z 35 bis 41 ist zu entnehmen:

"Insbesondere ist es erforderlich, daß der vom Auslösesensor kommende Auslöseimpuls der entriegelten Zündendstufe zugeleitet wird, damit eine Systemaktivierung erfolgen kann. Mithin muß bis zu diesem Zeitpunkt die erfindungsgemäße Verriegelungs-Freigabezeit abgelaufen sein."

Dieser Angabe kann, wie die Klägerin meint, ohne weiteres entnommen werden, dass die Ansprechzeit (ta) und die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) parallel ablaufen, wobei durch die Zeitbedingung im Patentanspruch 1 die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) vor der Ansprechzeit (ta) endet, um den Auslöseimpuls auf eine zuvor entriegelte Zündendstufe zu leiten.

Dem steht die Auffassung der Patentinhaberin entgegen. Sie hat die vorstehend zitierte Beschreibungsstelle in der mündlichen Verhandlung an nachfolgenden Schaubild mit nach rechts verlaufender Zeitachse t wie folgt interpretiert.

Die durch einen Crash eingeleitete Ansprechzeit ende mit einem Auslöseimpuls. Erst zu diesem Zeitpunkt beginne die Verriegelungs-Freigabezeit zu laufen. Nachdem die Verriegelungs-Freigabezeit beendet sei, treffe der Auslöseimpuls auf eine entriegelte Zündendstufe und löse das Sicherheitssystem aus. Demnach müssten beide Zeiten nacheinander ablaufen.

Die Beschreibung Sp 12 Z 5 bis 8 führt weiter aus:

"Nach Ablauf der Ansprechzeit ta des Auslösesensors 1 muß die Freigabe der Endstufen 5 für die Zündung erfolgt sein."

Auch daraus leitet die Klägerin ab, dass die Ansprechzeit (ta) und die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) parallel ablaufen.

Die Patentinhaberin stellt dem entgegen, "Freigabe" bedeute hier, dass die Freigabe eingeleitet werde. Mit anderen Worten beginne die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) zu laufen, wie im Schaubild vorstehend dargestellt. Somit folge auch aus dieser Beschreibungsstelle, dass beide Zeiten nacheinander ablaufen.

Die Beschreibung Sp 2 Z 48 bis 56 führt weiter aus:

"Im Normalbetrieb ist somit aufgrund der Sperrschaltung eine dauernde Verriegelung der Zündendstufe gegeben, die erst dann, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gewollte Auslösung des Insassen-Sicherheitssystems erfolgen soll, so frühzeitig aufgehoben wird, daß bis zum eigentlichen Zündzeitpunkt die Zeitverzögerung (Verriegelungs-Freigabezeit) abgelaufen ist."

Die Klägerin sieht in dieser Textstelle einen weiteren offensichtlichen Beleg dafür, dass beide Zeiten in etwa gleichzeitig beginnen und parallel zueinander ablaufen.

Die Beklagte widerspricht dieser Interpretation und reklamiert einen Unterschied zwischen der "gewollten Auslösung" und dem "eigentlichen Zündzeitpunkt". Wenn die Auslösung zu einem bestimmten Zeitpunkt gewollt sei, könne der Durchschnittsfachmann dies nur so verstehen, dass die Verriegelungs-Freigabezeit im Sinne des vorstehenden Schaubildes in Gang gesetzt werde. Der eigentliche Zündzeitpunkt sei durch das Ende der Verriegelungs-Freigabezeit markiert, an welchem der bereits vorliegende Auslöseimpuls auf eine dann entriegelte Zündendstufe treffe.

Im Ergebnis hat die mündliche Verhandlung ergeben, dass beide sich widersprechenden Interpretationen der zur Entscheidung vorliegenden Erfindung technisch nachvollziehbar und in ihrer jeweiligen Lesart auch Gegenstand der Offenbarung dieser Erfindung sind. Die weitere Offenbarung des Streitpatents enthält keine Hinweise, dass eine der beiden Interpretationen ausgeschlossen ist. Da sich beide Interpretationen auf dieselben Offenbarungsstellen berufen, kann es sich nicht um zwei alternative Ausführungsbeispiele derselben Erfindung handeln. Mithin gibt das Streitpatent in seiner Gesamtheit dem Durchschnittsfachmann keine so deutliche und vollständige Offenbarung, dass er sie eindeutig identifizieren/ausführen kann.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 Satz 1 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 ZPO.

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Urteil v. 11.08.2004
Az: 4 Ni 36/03


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