Bundespatentgericht:
Beschluss vom 8. Mai 2006
Aktenzeichen: 9 W (pat) 349/03

(BPatG: Beschluss v. 08.05.2006, Az.: 9 W (pat) 349/03)

Tenor

Das Patent wird mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechterhalten:

- Patentansprüche 1 bis 6,

- Beschreibung Seiten 1 bis 5, jeweils überreicht in der mündlichen Verhandlung, wobei auf Seite 1 der Beschreibung zwischen dem vorletzten und letzten Absatz der Wortlaut aus Spalte 1, Zeilen 20 bis 24, der Patentschrift einzufügen ist,

- Zeichnung Figur 1 gemäß Patentschrift.

Gründe

I.

Die Einsprechende hat gegen das am 14. Dezember 1999 angemeldete Patent mit der Bezeichnung

"Fahrzeugsitz"

Einspruch eingelegt.

Die Patentinhaberin verteidigt ihr Patent in beschränktem Umfang. Sie ist der Meinung, das beschränkte Patentbegehren sei zulässig und auch gegenüber dem in Betracht gezogenen Stand der Technik patentfähig.

Der geltende Patentanspruch 1 lautet:

Fahrzeugsitz, insbesondere Sitz eines Personenkraftfahrzeuges, mit einem Sicherheitsgurt (8) für eine den Fahrzeugsitz (6) belegende Person und einer im Falle einer unfallbedingten, oberhalb eines vorgebbaren Wertes liegenden Fahrgeschwindigkeitsverzögerung die Sitzstellung automatisch verändernden, durch den Sicherheitsgurt (8) betätigten, definiert Energie absorbierenden Sicherheits-Verstelleinrichtung, wobei die Sicherheits-Verstelleinrichtung mindestens ein von dem Sicherheitsgurt (8) betätigtes Vielgelenkgestänge ist, wobei der Sicherheitsgurt (8) an einem mit dem Vielgelenkgestänge (4) verbundenen Hebel (7) an einem Anbindungspunkt angreift, wobei der Sitz beim Betätigen der Sicherheits-Verstelleinrichtung innerhalb eines begrenzten Schwenkbereiches aus seiner normalen Fahrbetriebslage nach vorne oben und hinten nach unten schwenkt, dadurch gekennzeichnet, dass sich die Spannung des Sicherheitsgurtes (8) bei einer Aktivierung der Sicherheits-Verstelleinrichtung (4) definiert verringert, indem der Hebel (7) so verschwenkt, dass der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt nach vorne oben bewegt wird.

Diesem Patentanspruch 1 schließen sich Patentansprüche 2 bis 6 rückbezogen an.

Die Patentinhaberin stellt entsprechend den Antrag, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:

- Patentansprüche 1 bis 6,

- Beschreibung Seiten 1 bis 5, jeweils überreicht in der mündlichen Verhandlung, wobei auf Seite 1 der Beschreibung zwischen dem vorletzten und letzten Absatz der Wortlaut aus Spalte 1, Zeilen 20 bis 24, der Patentschrift einzufügen ist,

- Zeichnung Figur 1 gemäß Patentschrift.

Die Einsprechende stellt den Antrag, das erteilte Patent zu widerrufen.

Sie ist der Meinung, der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 ergebe sich in nahe liegender Weise aus dem Stand der Technik durch eine Zusammenschau der Druckschriften DE 32 37 167 A1 und DE 296 10 078 U1. Sie vertritt zudem die Auffassung, dass der geltende Patentanspruch 1 unklar sei und nicht erkennen lasse, was unter Schutz gestellt werden solle.

Schriftsätzlich hat die Einsprechende auf die Druckschriften US 5,366,269 A und US 5,855,411 A verwiesen.

Im Prüfungsverfahren sind noch die Druckschriften DE 196 06 605 C2, DE 38 41 687 A1 und GB 2 309 889 A in Betracht gezogen worden.

II.

Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch PatG § 147 Abs. 3 Satz 1 begründet.

Der Einspruch ist zulässig. Er hat teilweise Erfolg durch eine das Patent beschränkende Änderung der Patentansprüche.

1. Das Patentbegehren ist dem Streitpatent zu entnehmen, welchem die ursprünglichen Unterlagen mit weiterer Angabe des Standes der Technik zugrunde gelegt worden sind.

Der Patentanspruch 1 enthält alle Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1 und ist beschränkt durch die Merkmale der erteilten Patentansprüche 4, 5 und 7 sowie weiteren Angaben aus der Beschreibung aus Absatz 0014 i. V. m. der einzigen Figur.

Die geltenden Patentansprüche 2 bis 6 entsprechen sinngemäß den erteilten Patentansprüchen 2, 3, 6, 8 und 9.

Die Änderungen in der Beschreibung stellen Anpassungen des Standes der Technik und der Problemstellung dar.

Nach Überprüfung durch den Senat ist die Klarheit der geltenden Patentansprüche sowie die einer technischen Lehre gegeben. Die diesbezüglich geltend gemachten Bedenken der Einsprechenden, dass durch die Angabe einer Fahrgeschwindigkeitsverzögerung eine auf eine Betätigungssperre wirkende Kraft nicht definiert sei, sondern auch von einem Fahrzeuginsassen, d. h. dessen Masse, abhänge, überzeugen nicht. Die Lehre des Patents richtet sich an einen Fachmann, dem dieser Zusammenhang bekannt ist. Als Durchschnittsfachmann ist hier ein Maschinenbauingenieur anzusehen, der bei einem Fahrzeughersteller oder zulieferer mit der Entwicklung und Konstruktion von Sitzen befasst ist und am Prioritätstag des Streitpatents über eine mehrjährige Berufserfahrung verfügt. Er weiß, dass alle Schutzsysteme auf eine statistisch ausreichend große Gruppe von Personen ausgelegt werden müssen, z. B. die 5-Perzentil-Frau entsprechend der Größe einer kleinen Frau. Dabei handelt es sich um genormte Personengrößen, die Sicherheitsauslegungen zugrunde gelegt werden, d. h. deren Masse ist bekannt.

2. Der unbestritten gewerblich anwendbare Fahrzeugsitz ist neu. Ein Fahrzeugsitz mit einer Sicherheits-Verstelleinrichtung, wobei die Sicherheits-Verstelleinrichtung mindestens ein von einem Sicherheitsgurt betätigtes Vielgelenkgestänge ist, wobei der Sicherheitsgurt an einem mit dem Vielgelenkgestänge verbundenen Hebel an einem Anbindungspunkt angreift und wobei der Sitz beim Betätigen der Sicherheits-Verstelleinrichtung innerhalb eines begrenzten Schwenkbereiches aus seiner normalen Fahrbetriebslage nach vorne oben und hinten nach unten schwenkt, ist lediglich aus der US 5,366,269 A bekannt. Der aus dieser Druckschrift bekannte Fahrzeugsitz unterscheidet sich jedoch vom beanspruchten Fahrzeugsitz dadurch, dass sich die Spannung des Sicherheitsgurtes bei einer Aktivierung der Sicherheits-Verstelleinrichtung erhöht, indem der Hebel so verschwenkt, dass der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt nach vorne unten bewegt wird (vgl. Figuren 7 und 8 i. V. m. Spalte 1, Zeilen 6-10, und Spalte 5, Zeilen 3-9).

Der beanspruchte Fahrzeugsitz ergibt sich nicht in nahe liegender Weise aus dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik.

Aus der US 5,366,269 A ist ein Fahrzeugsitz bekannt (vgl. Fig. 7 und 8), mit einem Sicherheitsgurt 20 für eine den Fahrzeugsitz 10 belegende Person und einer im Falle einer unfallbedingten Fahrgeschwindigkeitsverzögerung die Sitzstellung automatisch verändernden, durch den Sicherheitsgurt 20 betätigten Sicherheits-Verstelleinrichtung, wobei die Sicherheits-Verstelleinrichtung mindestens ein von dem Sicherheitsgurt 20 betätigtes Vielgelenkgestänge ist, wobei der Sicherheitsgurt 20 an einem mit dem Vielgelenkgestänge verbundenen Hebel 33 an einem Anbindungspunkt 35 angreift, wobei der Sitz beim Betätigen der Sicherheits-Verstelleinrichtung innerhalb eines begrenzten Schwenkbereiches aus seiner normalen Fahrbetriebslage nach vorne oben und hinten nach unten schwenkt (vgl. Spalte 1, Zeile 10; Spalte 4, Zeile 55, bis Spalte 5, Zeile 9).

Der aus der DE 32 37 167 A1 bekannte Fahrzeugsitz (vgl. Figur) ist ausgestattet mit einem Sicherheitsgurt 3 für eine den Fahrzeugsitz belegende Person und einer im Falle einer unfallbedingten, oberhalb eines vorgebbaren Wertes liegenden Fahrgeschwindigkeitsverzögerung die Sitzstellung automatisch verändernden, durch den Sicherheitsgurt 3 betätigten, definiert Energie absorbierenden Sicherheits-Verstelleinrichtung, wobei die Sicherheits-Verstelleinrichtung mindestens ein von dem Sicherheitsgurt 3 betätigtes Vielgelenkgestänge ist, wobei der Sicherheitsgurt direkt an der Koppel des Vielgelenkgestänges an einem Anbindungspunkt angreift, wobei der Sitz beim Betätigen der Sicherheits-Verstelleinrichtung innerhalb eines begrenzten Schwenkbereiches aus seiner normalen Fahrbetriebslage nach vorne oben und hinten nach oben schwenkt (vgl. letzten auf Seite 5 beginnenden und auf Seite 6 fortgesetzten Absatz).

Ein Fachmann hätte daher Veranlassung, den aus der US 5,366,269 A bekannten Fahrzeugsitz mit Sicherheits-Verstelleinrichtung dahingehend auszustatten, dass die Sicherheits-Verstelleinrichtung oberhalb eines vorgebbaren Wertes der Fahrgeschwindigkeitsverzögerung anspricht und definiert Energie absorbiert, zumal er mit dem Problem konfrontiert wird, das Ansprechen bei normalen, auch heftigen Bremsvorgängen vermeiden zu müssen. Er könnte daher die bekannten Haltemittel wie Scherstifte, Zugstangen mit Sollbruchstellen oder Federn an der aus der US 5,366,269 A bekannten Sicherheits-Verstelleinrichtung anbringen.

Die Zusammenschau liefert jedoch keinen Hinweis dahingehend, die Spannung des Sicherheitsgurtes beim Aktivieren der Sicherheits-Verstelleinrichtung zu verringern, indem ein Hebel so verschwenkt wird, dass sich der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt nach vorne oben bewegt. Wie schon zur Neuheit ausgeführt, wird bei der Sicherheits-Verstelleinrichtung nach der US 5,366,269 A - im Gegensatz zum beanspruchten Fahrzeugsitz - die Spannung des Sicherheitsgurtes durch das Verschwenken eines Hebels erhöht. Bei der DE 32 37 167 A1 wird beim Aktivieren der Sicherheits-Verstelleinrichtung der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt zwar nach vorne oben bewegt, ein Verringern der Spannung des Sicherheitsgurtes wird jedoch nicht erreicht, da sich die Position des Sicherheitsgurt-Anbindungspunktes relativ zum Fahrzeugsitz nicht ändert. Zudem ist ein Hebel zum Anbinden des Sicherheitsgurtes nicht vorgesehen.

Eine Sicherheits-Verstelleinrichtung, bei deren Aktivieren sich die Spannung des Sicherheitsgurtes definiert verändert und sich der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt nach vorne oben bewegt, ist aus der DE 296 10 078 U1 bekannt (vgl. Ausführunsbeispiel nach Figur 7 i. V. m. Text auf Seite 9, letzter Absatz). Die Sicherheits-Verstelleinrichtung besteht aus einem am Gurtschloss 9 des Fahrzeugsitzes angebrachten Zugseil 17, das über einen Kraftbegrenzer 11 und eine Kupplung 43 mit einem Hebel 41 verbunden ist. Eine Verlagerung des Zugseils erfolgt ab einer vorbestimmten Intensität eines Aufpralls und führt zu einem Verstellen der Sitzneigung - vorne nach oben, hinten nach unten - und erlaubt eine Verlagerung des Gurtschlosses.

Nach Meinung der Einsprechenden lässt sich diese Art der Betätigung auf einen Fahrzeugsitz mit einer ein Vielgelenkgestänge enthaltende Sicherheits-Verstelleinrichtung nach dem Vorbild aus der DE 32 37 167 A1 übertragen. Dazu müsste lediglich die Anbindung am hinteren Teil des Fahrzeugsitzes entfernt werden und durch einen Seilzug gemäß der DE 296 10 078 U1 ersetzt werden.

Dem folgt der Senat nicht. Um die geforderte Schwenkbewegung nach vorne oben und hinten nach unten zu bewerkstelligen, ist es bei dem aus der DE 32 37 167 A1 bekannten Sitz erforderlich, das Vielgelenkgestänge am hinteren Sitzteil ohne Vorbild zu verändern. Dann müsste ein Seilzug abweichend vom Vorbild so konstruiert werden, dass er über einen relativ zum Fahrzeugboden festen Anbindungspunkt am Vielgelenkgestänge oder einem damit verbundenen Hebel angreift und den Verstellmechanismus auslöst. Der Anbindungspunkt am Fahrzeugboden müsste zudem eine Kraftumlenkung ermöglichen, um zur geforderten Sitzbewegung zu gelangen. Ein einfaches Übertragen der Lösung aus der DE 296 10 078 U1 auf den Fahrzeugsitz nach der DE 32 37 167 A1 ist daher nicht möglich.

Auch wenn der Fachmann von der US 5,366,269 A ausginge, müsste er, um die Spannung des Sicherheitsgurtes zu verringern, die Aktivierung des Verstellmechanismus deutlich anders gestalten. Da ein Seil nicht auf Druck belastbar ist, müsste der vorgesehene Hebel 33 auf der anderen Seite der Schwinge 29 angeordnet werden und an ihm mittels des Seilzuges gezogen werden. Um die gewünschte Bewegung des Sitzes zu erzielen, wäre auch hier eine bezüglich des Fahrzeugbodens feste Umlenkung des Seils erforderlich. Der Anbindungspunkt müsste zudem in Fahrtrichtung gesehen vor dem Sitz angeordnet sein. Eine derartige Lösung erscheint jedoch abwegig, zumal sie schon aus Platzgründen ausscheidet und es fraglich erscheint, ob ein Fachmann die US 5,366,269 A in seine Überlegungen mit einbezogen hätte, da bei dem aus ihr bekannten Fahrzeugsitz ein Erhöhen der Gurtspannung - im Gegensatz zum geltenden Patentbegehren - angestrebt wird.

Auch die übrigen im Verfahren berücksichtigten Druckschriften geben keine Anregungen vor allem zur definierten Verringerung der Spannung des Sicherheitsgurtes bei einer Aktivierung der Sicherheits-Verstelleinrichtung durch Verschwenken eines Hebels, so dass der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt nach oben vorne bewegt wird.

So zeigt die US 5,855,411 A einen Fahrzeugsitz, der beim Betätigen der Sicherheits-Verstelleinrichtung innerhalb eines begrenzten Schwenkbereiches aus seiner normalen Fahrbetriebslage nach vorne oben und hinten nach unten schwenkt. Ein Vielgelenkgestänge oder ein Verstellen eines Hebels, so dass der Anbindungspunkt eines Sicherheitsgurtes nach vorne oben bewegt wird, sind der US 5,855,411 A nicht zu entnehmen. Aus der GB 2 309 889 A ist ein Fahrzeugsitz eines Personenkraftfahrzeuges bekannt, mit einem Sicherheitsgurt für eine den Fahrzeugsitz belegende Person und einer im Falle einer unfallbedingten, oberhalb eines vorgebbaren Wertes liegenden Fahrgeschwindigkeitsverzögerung die Sitzstellung automatisch verändernden Sicherheits-Verstelleinrichtung, wobei der Sitz beim Betätigen der Sicherheits-Verstelleinrichtung innerhalb eines begrenzten Schwenkbereiches aus seiner normalen Fahrbetriebslage nach vorne oben und hinten nach unten schwenkt. Betätigt wird die Verstelleinrichtung im Crashfall jedoch aufgrund eines Sensorsignals, das einen pyrotechnischen Antrieb zündet. Auch das Verringern der Gurtspannung durch Verschwenken eines Hebels mit dem Anbindungspunkt des Gurtes geht aus der GB 2 309 889 A nicht hervor. Bei den Fahrzeugsitzen aus den noch genannten DE 196 06 605 C2 und DE 38 41 687 A1 erfolgt eine von der geforderten Sitzverschwenkung unterschiedliche Bewegung. Außerdem ist kein Vielgelenkgestänge für den Verstellmechanismus vorgesehen. Die Spannung des Sicherheitsgurtes wird auch nicht durch ein Bewegen des Anbindungspunktes des Sicherheitsgurtes nach vorne oben bewirkt. Somit können all diese Druckschriften dem Fachmann auch keine Anregung dahingehend vermitteln, eine Sicherheits-Verstelleinrichtung als Vielgelenkgestänge auszubilden, wobei der Sicherheitsgurt an einem mit dem Vielgelenkgestänge verbundenen Hebel an einem Anbindungspunkt angreift und sich die Spannung des Sicherheitsgurtes bei einer Aktivierung der Sicherheits-Verstelleinrichtung definiert verändert, indem der Hebel so verschwenkt, dass der Sicherheitsgurt-Anbindungspunkt nach vorne oben bewegt wird.

Dem Patentanspruch 1 können sich die auf ihn rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 6 anschließen, da sie vorteilhafte Ausgestaltungen des im Patentanspruch 1 angegebenen Fahrzeugsitzes enthalten.






BPatG:
Beschluss v. 08.05.2006
Az: 9 W (pat) 349/03


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