Bundespatentgericht:
Beschluss vom 27. Juni 2011
Aktenzeichen: 9 W (pat) 387/05

(BPatG: Beschluss v. 27.06.2011, Az.: 9 W (pat) 387/05)

Tenor

Das Patent wird widerrufen.

Gründe

I.

Das Deutsche Patentund Markenamt hat nach Prüfung das am 5. Oktober 2001 angemeldete Patent mit der Bezeichnung

"Fahrzeugsitz, insbesondere Fluggastsitz"

erteilt. Veröffentlichungstag der Patenterteilung ist der 14. April 2005. Innerhalb der gesetzlichen Einspruchsfrist hat die G... GmbH gegen das Patent Einspruch erhoben und zur Begründung unter anderem folgenden Stand der Technik angeführt:

E1 DE 17 55 567 A1 E2 US 2001/0021438 A1.

Die Einsprechende hat die Auffassung vertreten, der streitpatentgemäße Fahrzeugsitz sei für einen durchschnittlichen Fachmann in Kenntnis dieses Standes der Technik nahegelegt. Den Einspruch hat sie zurückgenommen mit Schreiben vom 21. Juni 2011, am selben Tag per Fax eingegangen beim Bundespatentgericht.

Die Patentinhaberin beantragt, das Patent aufrecht zu erhalten, hilfsweise beschränkt aufrecht zu erhalten mit Patentansprüchen 1 bis 5, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2011, und gegebenenfalls noch anzupassender Beschreibung und Figurenzeichnungen.

Sie verteidigt das Streitpatent gemäß Hauptantrag in der erteilten Fassung und mit geänderten Patentansprüchen 1 bis 5 gemäß Hilfsantrag. Dem Einspruchsvorbringen tritt sie in allen Punkten entgegen. Die vorgenommenen Anspruchsänderungen sind nach ihrer Auffassung als Beschränkung zulässig. Der verteidigte Fahrzeugbzw. Fluggastsitz sei neu und durch den in Betracht gezogenen Stand der Technik nicht nahegelegt.

Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

1. Fahrzeugsitz, insbesondere Fluggastsitz, mit einem Sitzpolster (10), das eine Sitzfläche (1) zum Abstützen des Gesäßes (20) und der Oberschenkel (21) eines Benutzers bildet, wobei das Sitzpolster (10) im Bereich eines vornehmlich die Oberschenkel (21) eines Benutzers abstützenden vorderen Abschnitts (12) der Sitzfläche (11) eine höhere Elastizität als im Bereich eines das Gesäß (20) eines Benutzers abstützenden hinteren Abschnitts (13) der Sitzfläche (11) aufweist und mit einem Kern (14) aus einem ersten Weichschaumstoff und einer zumindest im Bereich des vorderen Abschnitts (12) der Sitzfläche (11) angeordneten Auflage (15) aus einem zweiten Weichschaumstoff versehen ist und wobei der zweite Weichschaumstoff der Auflage (15) eine geringere Stauchhärte als der erste Weichschaumstoff des Kerns (14) aufweist, dadurch gekennzeichnet, daß der zweite Weichschaumstoff der Auflage (15) viskoelastisch ausgestaltet ist.

Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 6 sind diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet.

Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet:

1. Fluggastsitz, mit einem Sitzpolster (10), das eine Sitzfläche (11) zum Abstützen des Gesäßes (20) und der Oberschenkel (21) eines Benutzers bildet, wobei das Sitzpolster (10) im Bereich eines vornehmlich die Oberschenkel (21) eines Benutzers abstützenden vorderen Abschnitts (12) der Sitzfläche (11) eine höhere Elastizität als im Bereich eines das Gesäß (20) eines Benutzers abstützenden hinteren Abschnitts (13) der Sitzfläche (11) aufweist und mit einem Kern (14) aus einem ersten Weichschaumstoff und einer ausschließlich im Bereich des vorderen Abschnitts (12) der Sitzfläche (11) angeordneten Auflage (15) aus einem zweiten Weichschaumstoff versehen ist und wobei der zweite Weichschaumstoff der Auflage (15) eine geringere Stauchhärte als der erste Weichschaumstoff des Kerns (14) aufweist, dadurch gekennzeichnet, daß der zweite Weichschaumstoff der Auflage (15) viskoelastisch ausgestaltet ist.

Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 5 sind diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet.

II.

Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch § 147 Abs. 3 Satz 1 PatG in dem vom 1. Januar 2002 bis zum 30. Juni 2006 geltenden Fassungen begründet.

Der zurückgenommene Einspruch war unbestritten zulässig. Nach Rücknahme des Einspruchs ist die Einsprechende nicht mehr am Verfahren beteiligt (Schulte, PatG, 8. Aufl., Rdnr. 28 zu § 61 PatG), das Einspruchsverfahrens war ohne sie fortzusetzen, § 61 Abs. 1, Satz 2 PatG.

A) Zulässigkeit des Patentbegehrens Die geltenden Patentansprüche gemäß Hauptund Hilfsantrag sind unbestritten zulässig. In dem geltenden Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag sind die Worte "Fahrzeugsitz, insbesondere" ersatzlos gestrichen und das Wort "zumindest" durch das Wort "ausschließlich" ersetzt. Dadurch ist der ursprüngliche Fahrzeugsitz auf eine Ausgestaltung als Fluggastsitz in einer von zuvor mehreren Ausführungsformen zulässig beschränkt.

B) Durchschnittsfachmann Als Durchschnittsfachmann legt der Senat einen Maschinenbauingenieur zugrunde, der bei einem Fahrzeugsitzhersteller mit der Entwicklung von Fahrzeugsitzen befasst ist und über mehrere Jahre Berufserfahrung verfügt. Fluggastsitze zählen als Fahrzeugsitze mit besonderem Anwendungsgebiet zum üblichen Arbeitsgebiet dieses Durchschnittsfachmannes. Insoweit teilt der Senat uneingeschränkt die in der mündlichen Verhandlung vertretene Auffassung der Patentinhaberin.

C) Zum Hauptantrag Der streitgegenständliche Fahrzeugsitz gemäß Hauptantrag ist gewerblich anwendbar und mag auch neu sein, jedoch bedurfte es zu seiner Ausgestaltung am Anmeldetag des Streitpatents in Kenntnis des einschlägigen Standes der Technik keiner erfinderischen Tätigkeit.

Aus der DE 17 55 567 A1 ist ein Fahrzeugsitz bekannt mit einem Sitzpolster, dessen Sitzfläche unterteilt ist in einen Abschnitt 3 zum Abstützen des Gesäßes und in einen Abschnitt 2 zum Abstützen der Oberschenkel eines Benutzers, vgl. insbes. Anspruch 1 i. V. m. nachstehender Fig. 4 (Schnittdarstellung).

Das Sitzpolster weist im Bereich eines vornehmlich die Oberschenkel eines Benutzers abstützenden vorderen Abschnitts 2 der Sitzfläche eine höhere Elastizität als im Bereich eines das Gesäß eines Benutzers abstützenden hinteren Abschnitts 3 der Sitzfläche auf, vgl. insbes. S. 5 Abs. 7 i. V. m. Fig. 4. Ausweislich dieser Textstelle mitsamt Figur besteht der dem streitpatentgemäßen Kern 14 entsprechende hintere Abschnitt 3 des Fahrzeugsitzes aus einem ersten Weichschaumstoff und der der streitpatentgemäßen Auflage 15 entsprechende vordere Abschnitt 2 der Sitzfläche aus einem zweiten Weichschaumstoff. Dabei weist der zweite Weichschaumstoff der Auflage (Abschnitt 2) eine geringere Stauchhärte auf als der erste Weichschaumstoff des Kerns (Abschnitt 3). Ausdrücklich wird die Auflage gebildet aus einem sehr weichen Polyätherschaum 2 und der Kern aus einem mittelharten Polyätheroder Latexschaum 3, vgl. a. a. O..

Diese Ausgestaltung des Fahrzeugsitzes dient einer Sitzdruckverteilung, die bekanntlich für ein angenehmes und gesundes Sitzen vorhanden sein muss, vgl. insbes. S. 4 Abs. 2. Insbesondere durch die verschieden hart eingestellten Weichschaumstoffe wird eine Druckverteilung erreicht, "die dem physiologischen Idealwert wesentlich näher kommt", als bisher bekannte Sitzkonstruktionen, vgl. insbes.

S. 4 Abs. 3. Bereits diese Formulierung macht deutlich, dass ein anzustrebender Idealwert der Druckverteilung noch nicht unbedingt als erreicht angesehen wird. Demnach besteht am Anmeldetag des Streitpatents insbesondere noch ein Thromboserestrisiko im Oberschenkelbereich beim längeren Sitzen. Der eingangs definierte Fachmann wird sich folglich im einschlägigen Stand der Technik nach einer besseren Lösung, insbesondere nach einem besser geeigneten Material für den vorderen Abschnitt 2 der Sitzfläche umsehen, denn dort ist das Thromboserisiko bekanntlich am größten. Bei dieser Umschau kann er die US 2001/0021438 A1 nicht übersehen, denn diese Druckschrift offenbart eine Sitzauflagenkonstruktion aus einem Weichschaum, welcher durch seine Viskoelastizität für eine angemessene Druckverteilung auf eine relativ große Oberfläche sorgt, vgl. insbes. nachstehenden Abs. [0001], auf den der Senat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich hingewiesen hat.

[0001] The present invention relates to a cushion such as a bed mattress, a seat cushioning, a back rest cushioning or any other cushion where a support and cushioning of the entire or a part of a human or animal body is desired. The cushion is of a type using viscoelastic plastic foam material for suitably distributing the pressure from the body over a relatively large surface area of the body being cushioned by the cushion, such as a person lying on a mattress, a person seated in a couch or an animal resting on a veterinary surgeon's table.

Bei einer derartig großflächigen Druckverteilung werden zwangsläufig Druckspitzen vermieden und damit sinkt das Thromboserisiko. Diese Erkenntnis muss dem Fachmann quasi ins Auge springen und ihn dazu veranlassen, den sehr weichen Polyätherschaum im vorderen Abschnitt 2 der Sitzfläche viskoelastisch auszugestalten. Damit allein erreicht er einen Fahrzeugsitz mit sämtlichen Merkmalen des Streitpatents. Eine erfinderische Tätigkeit geht damit nicht einher, vielmehr erschöpft sich die Arbeit des Fachmannes in der Anwendung des am Anmeldetag des Streitpatents verfügbaren technischen Wissens. Das wird von ihm regelmäßig erwartet.

Die Patentinhaberin wendet dagegen ein, der Fachmann habe keine Veranlassung gehabt die beiden vorstehend genannten Druckschriften einer zusammenschauenden Betrachtungsweise zu unterziehen, denn zwischen ihrer jeweiligen Veröffentlichung lägen ca. dreißig Jahre.

Diesem Argument vermag der erkennende Senat aus nachstehenden Gründen nicht zu folgen. Als Stand der Technik sind insbesondere diejenigen Kenntnisse gesetzlich zu berücksichtigen, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents

(5. Oktober 2001) u. a. durch schriftliche Beschreibung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, § 3 Abs. 2 Satz 1 PatG. Eine qualitative Abstufung bei der Berücksichtigung des Standes der Technik, wie sie die Patentinhaberin im Hinblick auf den Zeitraum zwischen den Veröffentlichungen der beiden Entgegenhaltungen reklamiert, kennt das Patentgesetz nicht.

Allenfalls als Beweisanzeichen dafür, dass eine Erfindung nicht nahegelegen hat, kann das Alter einer Entgegenhaltung unter bestimmten Umständen gewertet werden, vgl. Schulte, PatG, 8. Aufl., Rdnr. 135-137 zu § 4 PatG. Derartige Umstände sind im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, denn unbestritten verkörpert der Fahrzeugsitz gemäß DE 17 55 567 A1 den Stand der Technik, von dem das Streitpatent am Tag der Anmeldung ausgeht. Wenn das in dieser Druckschrift angesprochene Problem möglicher Durchblutungsstörungen in den Beinen durch Druckspitzen aufgrund einer ungeeigneten Oberschenkelauflage (S. 2 Abs. 4) am Anmeldetag des Streitpatents aufgegriffen wird, kommt der Fachmann gar nicht umhin, die viskoelastische Eigenschaft der Weichschaumauflage eines Sitzes gemäß der US 2001/0021438 A1 zumindest auszuprobieren. Denn diese Druckschrift offenbart quasi die neuesten diesbezüglichen Erkenntnisse bzw. Materialien, bezogen auf den Anmeldetag. Durch Übernahme dieser neuesten Erkenntnisse bzw. Materialien auf den bekannten Fahrzeugsitz ist der Streitgegenstand bereits verwirklicht und insoweit durch die vorstehend erläuterten technischfachmännischen Gründe nahegelegt.

Darüber hinaus macht die Patentinhaberin geltend, bei unvoreingenommener Auswertung entnehme der Fachmann der US 2001/0021438 A1 eine Ausgestaltung der Polsterauflage eines Sitzes, wie sie in den Figuren 1 und 6 dargestellt und insbesondere in Abs. [0041] beschrieben sei. Davon mache die verteidigte Erfindung keinen Gebrauch, denn eine profilierte Unterlage unter einer viskoelastischen Weichschaumauflage sei nicht Gegenstand des Streitpatents. Dieses Argument hat den Senat deshalb nicht erzeugt, weil damit nur ein Teilaspekt der gesamten Offenbarung der US 2001/0021438 A1 berücksichtigt ist. Einer sachgerechten Auswertung durch den Fachmann kann nämlich nicht verborgen bleiben, dass bereits die viskoelastische Eigenschaft des Weichschaumes an sich zu einer besseren Druckverteilung und damit zur Vermeidung von Druckspitzen führt, vgl. insbes. Fig. 4 sowie S. 1 a. a. O.. Mit den Figuren 5 und 6 und der zugehörigen Beschreibung sind weitere Materialeigenschaften offenbart, welche durch Variation der Oberflächenstruktur zwischen einer hochelastischen Unterlage und einer viskoelastischen Weichschaumauflage einstellbar sind. Darauf allein ist die Offenbarung der der US 2001/0021438 A1 allerdings nicht beschränkt. Sie gibt vielmehr dem unvoreingenommenen Fachmann eine Bandbreite von Möglichkeiten an die Hand, mit der die Druckverteilung in einem Fahrzeugsitz optimiert werden kann. Dazu zählt der viskoelastische Weichschaum an sich ebenso wie seine Anordnung auf einer planen oder einer oberflächenstrukturierten Unterlage. Wie sich die Formänderung der jeweiligen Materialien oder Materialkombinationen unter Belastung auswirkt, ist in den Diagrammen 3 bis 6 mit zugehöriger Beschreibung dargestellt. Wenn der Fachmann aus diesem Gesamtangebot offenbarter Materialien oder Materialkombinationen die Einfachste auswählt und die vordere Weichschaumauflage eines gattungsgemäßen Fahrzeugsitzes viskoelastisch ausgestaltet, erhält er bereits den Streitgegenstand.

Mithin ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag nicht patentfähig.

Sein Schicksal teilen die darauf zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 6.

D) Zum Hilfsantrag Hinsichtlich der in dem geltenden Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag inhaltsgleichen Merkmale des verteidigten Fahrzeugsitzes gelten die im vorstehenden Abschnitt C gemachten Ausführungen gleichermaßen.

Die im geltenden Patentanspruch 1 vorgenommene Beschränkung, nach dem die zweite Weichschaumstoffauflage ausschließlich im Bereich des vorderen Abschnitts der Sitzfläche angeordnet ist, geht bereits aus der DE 17 55 567 A1 hervor, vgl. insbes. vorstehende Fig. 4 i. V. m. der zugehörigen Beschreibung S. 6. Für die weitere Beschränkung auf einen Fluggastsitz gilt das ebenfalls. Derartige Sitze mögen im Hinblick auf spezielle Gewichtsund/oder Brandschutzanforderungen eine besondere Anwendung von Fahrzeugsitzen sein, worauf die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat. Allerdings bestehen diese Anforderungen nach Überzeugung des Senats im Automobilbau ebenso und sie werden unbestritten von ein und demselben Fachmann berücksichtigt. Da die DE 17 55 567 A1 bereits einen Fahrzeugsitz offenbart, vgl. insbes. Anspruch 1, der sich im Umfang der beanspruchten Merkmale ohne Weiteres auch als Fluggastsitz eignet, umfasst die in Abschnitt C als nahe liegend erläuterte Zusammenschau der beiden Druckschriften auch den nunmehr beanspruchten Fluggastsitz.

Mithin ist der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag ebenfalls nicht patentfähig.

Sein Schicksal teilen die darauf zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 5.

Pontzen Bork Bülskämper Paetzold Pü






BPatG:
Beschluss v. 27.06.2011
Az: 9 W (pat) 387/05


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