Landgericht Berlin:
Urteil vom 19. April 2007
Aktenzeichen: 52 S 359/06

(LG Berlin: Urteil v. 19.04.2007, Az.: 52 S 359/06)

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 11. September 2006 verkündete Urteil des Amtsgerichts Charlottenburg - 212 C 98/06 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der beizutreibenden Kosten zuzüglich 10 % abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen, § 540 Abs. 1 ZPO.

Mit der Berufung wendet die Klägerin ein, eine Überschuldung der Beklagten habe angesichts der vorhandenen umfangreichen stillen Rücklagen nicht bestanden. Insbesondere habe das Amtsgericht die Voraussetzungen der Nachschusspflicht verkannt. § 73 Abs. 2 S. 3 GenG sei eine Sondervorschrift für den Fall, dass ohne Anrechnung der Haftsumme eine Überschuldung, hingegen mit Anrechnung der Haftsumme gerade noch kein Insolvenzgrund vorliege. Hier liege aber bei Berücksichtigung der Rücklagen keine Überschuldung vor.

Das Amtsgericht habe zudem die Satzung fehlerhaft gewürdigt. Der Ausschluss der Nachschusspflicht ergebe sich bereits aus dem Inhaltsverzeichnis zu § 19.

Jedenfalls stehe ihr ein Auseinandersetzungsguthaben zu.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des am 06.09.2006 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Charlottenburg - 212 C 98/06 - zu verurteilen, an sie 3.075,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (24.02.2006) zu zahlen, und die Widerklage abzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das GenG kenne nur die gesetzliche Rücklage und die freiwillige Ergebnisrücklage. Weder aus der Systematik des GenG, noch aus der Gesetzgebungshistorie noch aus Sinn und Zweck des § 73 Abs. 2 S. 3 GenG folge, dass stille Reserven in die entsprechende Bilanz einzubeziehen seien.

Ein Auseinandersetzungsguthaben stehe der Klägerin schon deshalb nicht zu, weil die Bilanz der Beklagten zum Zeitpunkt der Beendigung der Mitgliedschaft eine Überschuldung aufwies und in diesem Fall ausscheidende Mitglieder keinen Anspruch auf Auszahlung ihrer Geschäftsguthaben hätten.

II.

1. Die Berufung ist zulässig, denn der Klägerin war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die Klägerin hat rechtzeitig einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt. Das Urteil ist ihr am 11. September 2006 zugestellt worden, der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist bei Gericht am 10. Oktober 2006 eingegangen. Zwar war der Antrag insoweit unvollständig als die Angabe über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht unterzeichnet war, die Klägerin durfte aber auf die Vollständigkeit des Antrags vertrauen, da sie ihn bereits in der ersten Instanz eingereicht hatte und er dort auch nicht bemängelt worden war. Nach Gewährung der Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 19. Februar 2007, der ihr am 15. März 2007 zugestellt worden ist, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 22. März 2007, d.h. binnen der Frist des § 234 ZPO, formgerecht Wiedereinsetzung beantragt.

2. Die Berufung ist aber unbegründet.

Zutreffend hat das Amtsgericht entschieden, dass die Klägerin gemäß § 73 Abs. 2 S. 3 GenG a.F. in Verbindung mit § 19 Abs. 1 der Satzung verpflichtet ist, an die Beklagte nach Ausscheiden aus der Genossenschaft per 31. Dezember 2004 einen Fehlbetrag in Höhe der Klageforderung zu zahlen, d.h. 205,00 Euro für jeden ihrer erworbenen 15 Genossenschaftsanteile.

Die Auseinandersetzung mit dem ausscheidenden Genossen erfolgt gemäß § 73 Abs. 2 S. 1 GenG "unter Zugrundelegung der Bilanz". Hierunter ist - wovon auch die Beklagte ausgeht - die ordentliche Handelsbilanz zu verstehen, die ohnehin zum Ende des Geschäftsjahres aufzustellen ist, in dem die Mitgliedschaft endet (vgl. Beuthien, GenG, 14. Aufl., § 73 Rn. 5; Lang/Weidmüller, GenG, 34. Aufl., § 73 Rn. 3; Hillebrand/Kessler, GenG, § 73 Rn. 13). Eine spezielle Auseinandersetzungsbilanz gibt es auch nicht (vgl. BGH NZG 2003, 883), weil der ausscheidende Genosse keinen Anspruch auf Rücklagen oder sonstiges Vermögen hat (vgl. § 73 Abs. 2 Satz 3 GenG).

Nach dieser Bilanz reicht das Vermögen der Genossenschaft einschließlich der Rücklagen und aller Geschäftsguthaben zur Deckung der Schulden der Genossenschaft nicht aus, so dass die Klägerin zur Leistung verpflichtet ist, weil sie im Falle des Insolvenzverfahrens der Beklagten Nachschüsse zu leisten gehabt hätte.

In dem Geschäftsjahr 2004 ergeben sich Aktiva der Gesellschaft von 59.499.050,51 Euro, während die Genossenschaft Verbindlichkeiten in Höhe von 77.516.419,45 Euro hat. Rechnet man die Rücklagen noch hinzu, so verringert sich die Differenz auf 16.855.709,45 Euro. Dies ergibt pro Mitglied (16.855.709,45 Euro/1969 =) 8.560,54 Euro. Ferner ist die Klägerin nach der Satzung verpflichtet, im Falle der Insolvenz (§ 19 Abs. 1 GenG) maximal 205,00 Euro nachzuzahlen. Damit ist der Anspruch gegeben.

Soweit die Klägerin der Auffassung ist, dass der Begriff der Rücklagen in § 73 Abs. 2 Satz 3 GenG a.F. nicht nur die bilanzrechtlich auszuweisenden Rücklagen, sondern die nicht aktivierten stillen Reserven mit enthält, so trifft dies nicht zu.

Dieses lässt sich nicht dadurch herleiten, dass das Gesetz auf die Nachschusspflicht in der Insolvenz Bezug nimmt. Denn zutreffend ist zwar, dass für die Frage der Überschuldung im Rahmen der Insolvenz andere Bilanzierungsgrundsätze gelten (§ 19 InsO), jedoch ist der Hinweis auf die Nachschusspflicht in der Insolvenz kein Hinweis auf eine bestimmte Bilanzierung oder die Feststellung der Überschuldung (nach welchen Maßstäben auch immer), sondern schlichtweg nur der Hinweis darauf, ob und inwieweit die Mitglieder grundsätzlich Nachschüsse zu leisten haben.

Wäre der Satz nämlich dahingehend zu verstehen, dass eine Überschuldung i. S. des § 98 GenG vorliegen müsste, so liefe die Vorschrift leer. Denn in diesem Fall bestünde bereits die Nachschusspflicht nach § 105 GenG. Der Satz verweist im Übrigen auch nicht auf das Vorliegen einer Überschuldung, sondern auf das Insolvenzverfahren.

Darüber hinaus handelt es sich bei dem Begriff der Rücklage um einen terminus technicus, der nicht nur im Genossenschaftsgesetz sondern auch in anderen Bilanzierungsvorschriften Anwendung findet (§§ 272 HGB, 150 AktG). Diesen Begriff umfasst gerade nicht die "stillen" Rücklagen, die gerade deshalb "still" sind, weil sie eben in der Bilanz nicht auftauchen. Von diesem Begriff geht auch § 73 Abs. 2 Satz 2 GenG a. F. aus, weil dort ausdrücklich ausgeführt worden ist, dass der Genosse beim Ausscheiden auf die Rücklagen und das sonstige Vermögen der Genossenschaft keinen Anspruch hat. Letztere wäre überflüssig, wenn die Rücklagen auch die stillen Reserven mit umfassen sollte. Mithin ist nicht nachvollziehbar, wenn der Begriff der Rücklagen in Satz 2 weniger umfassend gemeint sein sollte als in Satz 3.

Sinn der Regelung besteht darin, dass nach den Regelungen des Genossenschaftsgesetzes eine Nachschusspflicht erst in der Insolvenz der Genossenschaft besteht. Dies verhindert, dass die Genossen schon in Anspruch genommen werden können, wenn Verluste angefallen sind. Bei den ausscheidenden Genossen führt dies jedoch dazu, dass sie einer Verlustausgleichspflicht entgehen, weil sie zunächst nicht nachschusspflichtig sind, später jedoch bei der Insolvenz aber nicht mehr in Anspruch genommen werden können. Dem will die Regelung des § 73 GenG vorbauen und verhindern, dass kurz vor Eintritt der Nachschusspflicht nach § 105 GenG die Genossen die Genossenschaft verlassen und damit die Haftungsmasse verringert wird.

Auch unter dem Begriff des Vermögens lassen sich nicht die stillen Reserven subsumieren. Denn wäre dieser Begriff so weit zu verstehen, so wäre völlig unverständlich, weshalb die Rücklagen und Geschäftsguthaben noch extra erwähnt werden.

Vermögen sind mithin die bilanzrechtlichen Aktiva.

Gegen die Auffassung der Klägerin spricht im Übrigen auch, dass, würde ihre Auffassung zutreffen, doch beim Ausscheiden eine spezielle Bilanz angefertigt werden müsste, sofern sich nach der erstellten Bilanz ergeben würde, dass die Geschäftsguthaben, Rücklagen und Vermögen nicht die Verbindlichkeiten decken.

Die Nachschusspflicht im Falle der Insolvenz ist auch nicht durch die Satzung ausgeschlossen und damit gemäß § 105 Abs. 1 GenG die Regel.

Die Tatsache, dass die Überschrift zu § 19 der Satzung im Inhaltsverzeichnis "Ausschluss der Nachschusspflicht" lautet, führt nicht zu einem solchen Ausschluss. Denn aus dem Wortlaut der Regelung in § 19 der Satzung folgt eindeutig, dass die Nachschusspflicht nur insoweit ausgeschlossen ist, als sie die Haftsumme übersteigt. Zudem hat sich die Klägerin in ihrer Beitrittserklärung zur Leistung von Nachschüssen verpflichtet. §§ 305 ff. BGB sind nach § 310 Abs. 4 BGB nicht anwendbar.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision war zur Fortbildung des Rechts und Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wie in dem von der Kammer entschiedenen Parallelfall zuzulassen, § 543 ZPO.






LG Berlin:
Urteil v. 19.04.2007
Az: 52 S 359/06


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