Niedersächsisches Finanzgericht:
Beschluss vom 23. Mai 2001
Aktenzeichen: 5 V 124/01

(Niedersächsisches FG: Beschluss v. 23.05.2001, Az.: 5 V 124/01)

Tatbestand

Die Antragstellerin ist im Bereich der Koordinierung, Planung und Durchführung von Softwareentwicklungsaufgaben, insbesondere für die mit ihr verbundenen Banken und deren Konzernunternehmen (u.a. B und N-), tätig.

Die Antragstellerin verpflichtete sich in 1996 in einem "Rahmenvertrag zur Übertragung von Urheberrechten im Rahmen der Herstellung von Individual-Software" der Bankgesellschaft und Nord/LB (Auftraggeber) gegenüber zur Entwicklung und Herstellung von Computerprogrammen, um das ausschließliche und zeitlich sowie räumlich unbeschränkte Recht zur Nutzung, Weiterentwicklung, Vervielfältigung, Verbreitung, Vorführung, Bearbeitung und sonstiger Verwertung von Urheberschutzrechten gemäß § 31 ff i.V.m. 69 a bis 69 g Urheberrechtsgesetz - UrhG - (sogenannte Hauptleistung) auf die Auftraggeber zu übertragen.

In Ausführung des Rahmenvertrages wurden zwischen der Antragstellerin und ihren Auftraggebern jeweils Einzelwerkverträge geschlossen, in welchen die Antragstellerin mit der Entwicklung und Herstellung von Computerprogrammen beauftragt wurde, um das ausschließliche und zeitlich sowie räumlich unbeschränkte Recht zur Nutzung, Weiterentwicklung, Vervielfältigung, Verbreitung, Vorführung, Bearbeitung und sonstiger Verwertung von Urheberschutzrechten gemäß § 31 ff i.V.m. 69 a bis 69 g UrhG (sogenannte Hauptleistung) auf die Auftraggeber zu übertragen.

Die Antragstellerin stellte die Übertragung der dem Urheberrechtsgesetz in den Streitjahren unterliegenden Leistungen gegenüber den Auftraggebern gemäß den "Einzelwerkverträgen zur Übertragung von Urheberrechten im Rahmen der Herstellung von Individual-Software" zum nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 c Umsatzsteuergesetz (UStG) ermäßigten Steuersatz in Rechnung.

Sie gab entsprechende monatliche Voranmeldungen ab. Der Antragsgegner erließ abweichende Bescheide über die Festsetzung der monatlichen Vorauszahlungen, in welchen er die zu 7 v.H. erklärten Umsätze dem vollen Umsatzsteuersatz von 15 bzw 16 v.H. zuordnete. Als Begründung führte er an, dass der ermäßigte Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 c UStG vorliegend nicht einschlägig sei, weil im Vordergrund des Leistungsverhältnisses nicht die Übertragung urheberrechtlicher Nutzungsrechte, sondern die Überlassung der für die Gesellschafter-Banken entwickelten bzw. verbesserten Software stehe.

Nachdem die Antragstellerin gegen die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide Einspruch erhoben und die Aussetzung der Vollziehung beantragt hatte, gewährte der Antragsgegner die Aussetzung der Vollziehung der streitbefangenen Beträge .

Bereits vor der Entscheidung über die Einsprüche gegen die Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide erließ der Beklagte den Jahresbescheid. Darin folgte er der in den Vorauszahlungsbescheiden vertretenen Ansicht. Er errechnete eine verbleibende Abschlusszahlung, die in der Höhe den im Vorauszahlungsverfahren ausgesetzten Beträgen entsprach.

Mit dem Einspruch gegen den Jahressteuerbescheid beantragte die Antragstellerin wiederum die Aussetzung der Vollziehung, die der Antragsgegner zunächst aufgrund der Entscheidung des beschließenden Senats in EFG 1999, 1243 unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs gewährte. Unter Hinweis auf den Beschluss des BFH vom 24. Januar 2000 X B 99/99, BStBl II 2000, 559 sprach der Antragsgegner diesen Widerruf später aus. Der Einspruch der Antragstellerin gegen diese Entscheidung blieb erfolglos.

Die Antragstellerin hat gegen den Jahresbescheid Klage erhoben, die beim beschließenden Senat unter dem Aktenzeichen 5 K 213/01 anhängig ist. Im vorliegenden Verfahren begehrt sie wie im Festsetzungs- und Einspruchsverfahren die Aussetzung der Vollziehung.

Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass für ihre Umsätze aus der Übertragung urheberrechtlicher Nutzungsrechte der ermäßigte Steuersatz einschlägig sei. Sie nimmt Bezug auf einen Beschluss des Bundesfinanzhof - BFH - vom 13. März 1997 (V B 120/96, BFH/NV 1997, 814). Dort hatte der BFH in einem ähnlich gelagerten Fall im Aussetzungsverfahren die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 c UStG wie folgt begründet: "Ist ein Werkvertrag auf die Herstellung eines urheberrechtlich geschützten Computerprogramms gerichtet, ist die damit verbundene Einräumung und Übertragung der Rechte nach dem Urheberrechtsgesetz auf den Auftraggeber wesentlicher Inhalt der geschuldeten Werkleistung".

Die Antragstellerin trägt vor, dass der angefochtene Jahresbescheid bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze rechtswidrig seien. Die Übertragung der Urheberschutzrechte sei - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - leistungsbestimmend. Dies folge bereits aus dem Wortlaut der Rahmenvereinbarung (sogenannte Hauptleistung), deren wesentlicher Inhalt auf die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten nach dem Urheberrechtsgesetz gerichtet sei.

Die Rechtsauslegung des Wortlauts des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO durch den Antragsgegner verstoße gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG).

Nach der vom Antragsgegner vorgenommenen Auslegung hätte dieser vorläufigen Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn sie, die Antragstellerin, die streitigen Umsätze zu 7 v.H. überhaupt nicht angemeldet hätte. Dann wären keine abweichenden Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide ergangen mit der Folge, dass der Antragsgegner über die nacherklärten Jahresumsätze zu 7 v.H. abweichende Jahresbescheide erlassen hätte, deren streitige Jahressteuerschuld (7 v.H. statt 15 bzw. 16 v.H.) dann - mangels anrechenbarer festgesetzter Vorauszahlungen - in voller Höhe auszusetzen gewesen wäre. Dies hätte zur Folge, dass sie bei einer rechtswidrig monatlich zu niedrig angemeldeten Steuer den vollen Rechtsschutz nach § 361 AO (§ 69 FGO) genieße, der ihr bei gesetzestreuer Steueranmeldung versagt bliebe. Denn nach der Auffassung des Antragsgegners komme vorläufiger Rechtsschutz bei rechtmäßig Anmeldenden niemals in Betracht, wenn die Festsetzung der Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide und die Festsetzung des Umsatzsteuerjahresbescheids - was gerade gesetzlich gewollt sei - in der Summe übereinstimmten. Dieses absurde Ergebnis könne so nicht vom Gesetzgeber gewollt sein und widerspreche Art. 19 Abs. 4 GG.

Daher sei die Vorschrift des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO bzw. des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO unter Beachtung des verfassungsmäßig garantierten effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG auszulegen. Dieses könne sowohl durch Auslegung des Wortes "festgesetzte Vorauszahlungen" als "tatsächlich geleistete Vorauszahlungen" geschehen als auch durch großzügige Auslegung der Annahme des Tatbestandes der "wesentlichen Nachteile" in § 361 Abs. 2 Satz 4 AO bzw. § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO.

Die Beschlüsse des BFH vom 24.Januar 2000 a.a.O. und vom 2. November 1999 I B 49/99, BStBl II 2000, 57, stünden der begehrten Entscheidung nicht entgegen. Beide seien zur Einkommensteuer ergangen. Im Gegensatz zur Einkommensteuervorauszahlung, die auf einer hypothetischen Schätzung des Finanzamtes beruhe, sei der Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid ein Steuerbescheid, der Erklärungspflichten des Steuerpflichtigen voraussetze und erfordere. Im Gegensatz zur Einkommensteuer seien Erstattungen hier nicht ungewöhnlich.

Schließlich sei die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide auch zur Abwendung wesentlicher Nachteile geboten. Angesichts eines Eigenkapitals von rd. X EURO müsse sie die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen.

Der Antragsgegner trägt unter Berufung auf die o.a. Beschlüsse des BFH vor, dass der Antragstellerin nach dem eindeutigen Wortlaut des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO und des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO keine Aussetzung der Vollziehung gewährt werden könne. Durch die Verwendung des Begriffs "festgesetzte Vorauszahlungen" habe sich der Gesetzgeber ausdrücklich festgelegt.

Es sei auch eindeutig erklärt, wann ein "wesentlicher Nachteil" i.S.d. genannten Vorschriften gegeben sei. Dies sei nach Nr. 4.6.1 des Anwendungserlasses zur AO (AEAO) der Fall, wenn durch die Versagung der Aussetzung der Vollziehung unmittelbar und ausschließlich die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen bedroht werden würde. Diese Voraussetzung sei nach dem Vortrag der Antragstellerin nicht gegeben.

Die Vorschriften der §§ 361 Abs. 2 Satz 4 AO und 69 Abs. 2 Satz 8 FGO verstießen nicht gegen Art. 19 Abs. 4 GG, weil diese Vorschriften dann nicht zur Anwendung kämen, wenn ein "wesentlicher Nachteil" abgewendet werden müsse. Für diesen Fall sei die Aussetzung der Vollziehung weiterhin möglich.

Gründe

Der Antrag ist begründet. 1. Nach § 69 Abs. 3 FGO kann das Gericht der Hauptsache einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 2-5 FGO entsprechen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatsachen bewirken (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BStBl II 1984, 454 m.w.N.).

Nach der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung bestehen erhebliche begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerfestsetzung.

Nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 c UStG ermäßigt sich die Steuer auf 7 v.H. für die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem UrhG ergeben. Nach dem bislang festgestellten Sachverhalt geht der Senat davon aus, dass der Antragsgegner die im Rahmenvertrag genannten und in den Einzelverträgen konkretisierten Werkleistungen zu Unrecht der Regelbesteuerung unterworfen hat. Denn bei der gebotenen summarischen Beurteilung kommt ernsthaft in Betracht, dass es um die Herstellung von Computerprogrammen i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 69 a Abs. 3 UrhG ging. Soweit die Antragstellerin derartige Computerprogramme erstellt hat, die das Ergebnis der eigenen geistigen Schöpfung ihrer Programmierer sind, kann schwerlich zwischen der Herstellung des Computerprogramms als Hauptleistung und der Einräumung und Übertragung von Rechten nach dem UrhG an dem Computerprogramm als Nebenleistung unterschieden werden. Sofern ein Werkvertrag auf die Herstellung eines urheberrechtlich geschützten Computerprogramms gerichtet ist, ist die damit verbundene Einräumung und Übertragung der Rechte nach dem UrhG auf den Auftraggeber wesentlicher Inhalt der geschuldeten Werkleistung (BFH, Beschluss vom 13. März 1997 V B 120/96, BFH/NV 1997, 814).

Sowohl in dem Rahmenvertrag als auch in den Einzelverträgen ist in § 1 unter Vertragsgegenstand angegeben, dass die Antragstellerin "mit der Entwicklung und Herstellung von Computerprogrammen beauftragt worden ist, um das ausschließliche und zeitlich sowie räumlich unbeschränkte Recht zur Nutzung, Weiterentwicklung, Vervielfältigung, Verbreitung, Vorführung, Bearbeitung und sonstiger Verwertung von Urheberschutzrechten hieraus gemäß §§ 31 ff i.V.m. § 69 a bis 69 g UrhG auf den Auftraggeber zu übertragen". Diese Leistung wurde auch von den Vertragsparteien ausdrücklich als Hauptleistung bezeichnet.

Der Vortrag des Antragsgegners, es sei aus den Gesamtumständen des Falles zu ersehen, dass die in den genannten Verträgen von den Beteiligten vorgenommenen Gewichtungen der beschriebenen Leistungen nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, kann im Aussetzungsverfahren nicht berücksichtigt werden. Insoweit wäre der Sachverhalt durch Befragen der beteiligten Vertragsparteien - insbesondere durch Vernehmung der Auftraggeber als Zeugen - weiter aufzuklären. Eine solche Aufklärung ist dem Senat im Aussetzungsverfahren verwehrt. Dem Senat liegen bislang jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das von den Vertragsparteien vereinbarte Vertragsverhältnis bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspricht.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner selbst ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerfestsetzung für 1998 schriftsätzlich eingeräumt und die Aussetzung der Vollziehung zunächst gewährt hat. Später hat er die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung allein auf § 361 Abs. 2 Satz 4 AO gestützt. Zudem hat er im Vorauszahlungsverfahren bis September 1999 die Aussetzung der Vollziehung gewährt.

2. Der vom Gericht gewährten Aussetzung der Vollziehung steht § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO nicht entgegen. Diese Vorschrift ist unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 GG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass das Merkmal der "wesentlichen Nachteile" nicht losgelöst von der Prüfung der ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts beurteilt werden darf.

Nach § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ist die Aussetzung und die Aufhebung der Vollziehung bei Steuerbescheiden auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftssteuer und um die festgesetzten Vorauszahlungen beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung zur Aufhebung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Die Vorschrift des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO wurde durch Art. 19 des Jahressteuergesetzes (JStG) 1997 in Reaktion auf den Beschluss des Großen Senats (GrS) des BFH vom 13. Juli 1995 (GrS 3/93, BStBl II 1995, 730) eingefügt, mit dem dieser - in Abkehr von der früheren Rechtsprechung - entschieden hatte, dass die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides auch insoweit aufgehoben werden dürfe, als dies zu einer -vorläufigen- Erstattung entrichteter Vorauszahlungsbeträge führe.

Vorliegend entspricht die Höhe der für 1998 - abweichend von den Voranmeldungen - festgesetzten monatlichen Vorauszahlungen genau der Höhe der festgesetzten Jahresumsatzsteuer, so dass sich bei wortgetreuer Anwendung der Norm kein auszusetzender Betrag ergibt.

Dass die Aussetzung der Vollziehung vorliegend nötig ist, um wesentliche Nachteile aufzuheben, ist nicht nachgewiesen. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 13/5952, Seite 57) orientiert sich diese Ausnahme an dem Anordnungsgrund der Regelungsanordnung (§ 114 Abs. 1 Satz 2 FGO). Für die Beurteilung, wann "wesentliche Nachteile" vorliegen, sollen daher die dazu entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung herangezogen werden können. Danach treffen den Steuerpflichtigen wesentliche Nachteile, wenn durch die Beschränkung der Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung seine wirtschaftliche oder persönliche Existenz unmittelbar und ausschließlich bedroht sein würde (BFH, Beschluss vom 12. April 1984 VII B 115/82, BStBl II 1984, 492 m.w.N.). Diese hohen Anforderungen sind mit dem Hinweis der Antragstellerin auf ein mögliches Insolvenzverfahren nicht erfüllt. Dazu sind die Zahlen zum Eigenkapital allein nicht aussagekräftig.

Demzufolge wäre die Aussetzung der Vollziehung vorliegend abzulehnen, obwohl das Gericht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide hat. Dies verstößt gegen den Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG.

Das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht nur einen Rechtsweg überhaupt, sondern darüber hinaus, dass der Rechtsschutz auch effektiv ist (Urteil vom 13. Juni 1979 1 BvR 699/77, BVerfGE 51, 268, 284). Der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame Kontrolle. Art. 19 Abs. 4 GG hat gerade im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes eine erhebliche Bedeutung.

In seinem grundlegenden Beschluss vom 25. Oktober 1988 (BVerfGE 79, 69), in dem es um die verfassungsrechtliche Überprüfung der Versagung einer Regelungsanordnung ging, hat der 1. Senat des BVerfG Leitlinien für die Anwendung und Auslegung von § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - (entspricht § 114 Abs. 1 FGO) entwickelt. Das Gericht hat eine fachgerichtliche Praxis für unbedenklich erachtet, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung vom Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes abhängig macht. Es verlangt aber, dass der Anordnungsgrund nicht losgelöst vom Anordnungsanspruch beurteilt werden dürfe. Drohe dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden könne, so müsse ihm - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden, es sei denn, dass dem ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe gegenüberstünden (BVerfGE 79, 69, 75). Vor allem dann, wenn die festgestellte Grundrechtsverletzung besonderes Gewicht habe, sei die Bejahung des Anordnungsanspruchs für die Prüfung des Anordnungsgrundes "in weitem Umfang vorgreiflich" (BVerfGE 79, 69, 78, vgl. auch Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz, RN 163 ff m.w.N.).

Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den vorliegenden Fall ist folgendes festzuhalten: Der Gesetzgeber hat durch die Verwendung des Begriffs "wesentliche Nachteile" in § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO an den Anordnungsgrund bei der Regelungsanordnung in § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO angeknüpft. Wenn nach der Rechtsprechung des BVerfG das Bestehen eines Anordnungsanspruchs vorgreiflich für die Prüfung des Anordnungsgrundes ist, muss die in § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO vorgesehene Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache erst recht vorgreiflich sein für die Beurteilung des Begriffs der "wesentliche Nachteile" i.S.d. genannten Vorschrift. Hierfür sprechen mehrere Gründe.

Beim vorläufigen Rechtsschutz nach § 69 FGO ergibt sich bereits aus der Gesetzesfassung, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache ("ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts") die Grundlage der Entscheidung bilden. Dies tritt beim vorläufigen Rechtsschutz nach § 114 FGO nicht so deutlich zu Tage (Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 114, Rn. 68).

Zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stellt die FGO (in Anlehnung an die Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) zwei sich gegenseitig ausschließende Wege zur Verfügung: Die einstweilige Anordnung (§ 114 FGO) ist gegenüber der Aussetzung der Vollziehung (§ 69 FGO) gemäß § 114 Abs. 5 FGO subsidiär. Aussetzung der Vollziehung und einstweilige Anordnung sind beides Nebenverfahren, die sich für die Abgrenzung grundsätzlich nach dem jeweiligen Hauptsacheverfahren richten (sogenannte Konnexität zwischen Klageart und vorläufigem Rechtsschutz, vgl. Tipke/Kruse, § 69 FGO, Rn. 17). Die Zweigleisigkeit des vorläufigen Rechtsschutzes und die gesteigerten Anforderungen an die einstweilige Anordnung werden damit gerechtfertigt, dass der Kläger mit der Anfechtungsklage die Erhaltung des status quo, mit der Verpflichtungsklage dagegen eine Änderung des status quo begehren würde (vgl. BFH, Urteil vom 10. November 1977 IV B 3334/76, BStBl II 78, 15; Urteil vom 27. März 1991 I B 187/90, BStBl II, 91, 643). Daher sind die zu der einstweiligen Anordnung entwickelten verfassungsrechtlichen Vorgaben erst recht anzuwenden, wenn der Rechtsschutz auf die Erhaltung des status quo gerichtet ist. Diese Sicherung einer gefährdeten Rechtsposition verlangt wegen des funktionalen Zusammenhangs mit dem Hauptsacheverfahren eine materiell-akzessorische Prüfung, um das Fehlentscheidungsrisiko in Grenzen zu halten.

Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass das Kriterium der "wesentlichen Nachteile" überlagert wird durch die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Sofern erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen, die grundrechtsrelevant sind und durch die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr angewendet werden können, ist vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass dem ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe gegenüberstünden.

Die erheblichen begründeten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerfestsetzungen 1998 und 1999 hat der beschließende Senat oben bereits dargetan. Dass der Antragstellerin durch eine rechtswidrige Steuerfestsetzung eine über Randbereiche hinausgehende Verletzung ihrer Grundrechtspositionen aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG droht, bedarf keiner weiteren Erörterung (vgl. Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz, Rn. 165, die näher ausführen, dass die Grundrechtsrelevanz im öffentlichen Recht ohnehin die Regel sein dürfte).

Diese grundrechtsrelevante Gefährdung kann durch die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden. Selbst wenn der beschließende Senat alsbald in der Hauptsache entscheiden könnte, ist angesichts der schwierigen Rechtslage mit einem Revisionsverfahren zu rechnen, so dass die Antragstellerin noch einige Zeit auf eine rechtskräftige Entscheidung warten muss. Da der Antragsgegner aufgrund der gesetzlichen Regelung und der Bindung an den Anwendungserlass zur AO für die den Streitjahren folgenden Jahre ebenso verfahren wird wie in 1997, 1998 und 1999, droht die - für die Antragstellerin nicht abwendbare - Gefahr, dass auch in den Folgejahren nach der (gesetzlich vorgeschriebenen) Abgabe der Jahreserklärung und der abweichenden Umsatzsteuer-Jahresfestsetzung (Regelsteuersatz statt ermäßigtem Steuersatz) die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt wird. Dann aber ist es der Antragstellerin nicht zumutbar, dass sie bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren jedes Jahr mit ihren Umsätzen der Regelbesteuerung unterworfen wird und dadurch einen wiederkehrenden, sich aufsummierenden Zahlungsabfluss hinnehmen müsste.

Die Antragstellerin hat auch nicht die Möglichkeit, die Vorauszahlungsverfahren in der Hauptsache weiter zu betreiben, weil sich dieses mit dem Erlass des Jahressteuerbescheides nach § 124 Abs. 2 AO auf sonstige Weise erledigt hat.

Andere Rechtsschutzmöglichkeiten sind nicht zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die Voranmeldung bei der Umsatzsteuer - anders als bei der Einkommensteuer - eine tatsächlich entstandene Steuer festsetzt (§ 18 Abs. 1 Satz 1 UStG, §§ 150 Abs. 1 Satz 2, 167, 168 Satz 1 und 2 AO). Sie ist eine abschnittweise, während des Besteuerungsverfahrens durchgeführte Veranlagung (BFH, Urteil vom 27. Juni 1991 V B 10/90, BFH/NV 1992, 277). Dies zeigt sich auch daran, dass die verfahrensrechtlichen Wirkungen der vorausgegangenen Steuerfestsetzungen durch den Jahressteuerbescheid nicht beseitigt werden. So bleibt die Fälligkeit der festgesetzten Teilbeträge trotz Jahressteuerbescheid bestehen (§ 18 Abs. 4 Satz 4 UStG), hieraus resultierende Säumniszuschläge oder Verspätungszuschläge bleiben ebenfalls bestehen. Folglich ist es bei der Umsatzsteuer - im Gegensatz zur Einkommensteuer (vgl. § 37 Abs. 3 EStG) - nicht möglich, die Herabsetzung (Anpassung) von Vorauszahlungen zu beantragen.

Wegen der Besonderheiten des Verfahrens zur Festsetzung der Umsatzsteuervorauszahlungen überzeugen die Argumente der o.a. BFH-Beschlüsse bei der Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerjahresbescheides nicht. Wenn - wie im Streitfall - ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Vorauszahlungsbescheides bestehen, ist dessen Aussetzung der Vollziehung geboten. Dann kann es jedoch niemals zu der vom BFH befürchteten Erstattung kommen, wenn die Aussetzung der Vollziehung auch auf den Jahresbescheid ausgedehnt wird.

Es wird auch häufig nicht ausreichen, den steuerpflichtigen Unternehmer dann auf den nach der o.a. Rechtsprechung verbleibenden und angeblich ausreichenden Aussetzungsgrund des drohenden wesentlichen Nachteils zu verweisen. Möglicherweise muss er sich - wie etwa im Erlassverfahren - entgegenhalten lassen, dieser Nachteil könne nicht eintreten, weil die Umsatzsteuer nicht an seine eigene Leistungsfähigkeit anknüpfe, sondern von Dritten einbehalten wird bzw. überwälzt werden könne.

Vorläufiger Rechtsschutz ist verfassungsrechtlich dann nicht geboten, wenn ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.

Die auf Initiative des Bundesrats aus rein fiskalischen Gründen eingefügte Einschränkung soll die Rechtslage wiederherstellen, wie sie vor dem Beschluss des Großen Senats bestanden hat (BT-Drucksache 13/5359, 131; 13/5952, 57). Sie soll also primär verhindern, dass es infolge der Aufhebung der Vollziehung zur Erstattung von Vorauszahlungen, Steuerabzugsbeträgen und Steuervergütungen kommt. Die Neuregelung geht allerdings über den früheren Rechtszustand noch hinaus, indem sie den auszusetzenden Betrag nicht nur um die tatsächlich bereits geleisteten, sondern um die festgesetzten Vorauszahlungen mindert.

Aus der Begründung des Gesetzes vermag der Senat überwiegende, besonders wichtige Gründe für die Einschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu erkennen (ebenso im Ergebnis: Tipke/ Kruse, § 69 FGO, Rn. 183; Gräber/Koch, § 69 FGO, Rn. 53 a; Woerner, BB 1996, 2649). So lässt sich der BT-Drucksache 13/5359, 131; 13/5952, 57, geäußerten Befürchtung von Steuerausfällen die Möglichkeit der Anordnung von Sicherheitsleistungen entgegenhalten. Dass die geänderte Rechtsprechung des BFH zu einem Personalmehraufwand von 500 Stellen führen könnte, wird in der Gesetzesbegründung nicht näher belegt. Unerörtert bleibt auch, dass durch die Neuregelung der vorläufige Rechtsschutz nach § 69 FGO faktisch abgeschafft worden ist. Denn gerade in dem von der Gesetzgebung und der Verwaltungspraxis angestrebten Idealfall, dass die festgesetzten Vorauszahlungen mit der Festsetzung im Jahressteuerbescheid übereinstimmen, ist - abgesehen von der im Gesetz vorgeschriebenen Ausnahme der "wesentlichen Nachteile" - der Verwaltung gemäß § 361 Abs. 2 Satz 4 AO und dem Gericht nach § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes untersagt. Dieser Umstand hätte einer genaueren Begründung unter Abwägung etwaiger besonderer öffentlicher Interessen bedurft. Da der Gesetzgeber dies unterlassen hat bzw. die von ihm vorgebrachten Gründe dem Senat nicht ausreichend erscheinen, um den vorläufigen Rechtsschutz derart grundsätzlich und offensichtlich einzuschränken, unterliegt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorliegend keinen verfassungsrechtlich gebotenen Einschränkungen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Der Senat hat die Beschwerde gegen den Beschluss gemäß §§ 128 Absatz 3, 115 Absatz 2 Nummer 2 FGO zugelassen.






Niedersächsisches FG:
Beschluss v. 23.05.2001
Az: 5 V 124/01


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