Bundespatentgericht:
Urteil vom 23. Januar 2007
Aktenzeichen: 4 Ni 37/05

(BPatG: Urteil v. 23.01.2007, Az.: 4 Ni 37/05)

Tenor

1. Das europäische Patent EP 0 174 141 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang seiner Patentansprüche 1, 2 und 9, soweit dieser unmittelbar auf den Anspruch 2 rückbezogen ist, sowie 10, soweit dieser unmittelbar auf den Anspruch 9 rückbezogen ist, welcher wiederum unmittelbar auf den Anspruch 2 rückbezogen ist, für nichtig erklärt.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents EP 0 174 141 (Streitpatent), das am 22. August 1985 unter Inanspruchnahme der Priorität der amerikanischen Patentanmeldung US 630124 vom 30. August 1984 angemeldet worden ist. Das Streitpatent ist in der Verfahrenssprache Englisch veröffentlicht und wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nr. 35 73 717 geführt. Es betrifft eine verbesserte implantierbare Prothesenvorrichtung ("improved implantable prosthetic devices") und umfasst in der erteilten Fassung 11 Ansprüche, die zunächst insgesamt angegriffen waren. Nunmehr greift die Klägerin nach einer Teilerledigterklärung nur noch die Ansprüche 1, 2, 9 und 10 an. Anspruch 1 lautet in der Originalfassung ohne Bezugszeichen wie folgt:

An implantable prosthetic device for use in a human body comprising a flexible container filled with a liquid or gel filling and a flexible outer covering, having a rough textured external surface and including a multiplicity of pores and/or interstices, characterised in that the outer covering substantially wholly encases the flexible container.

In der deutschen Übersetzung lautet Anspruch 1 ohne Bezugszeichen:

Implantierbare Prothesenvorrichtung zur Verwendung in einem menschlichen Körper, umfassend einen flexiblen Behälter, der mit einer Flüssigkeits- oder Gelfüllung gefüllt ist, und eine flexible äußere Umkleidung, die eine raue, texturierte äußere Oberfläche aufweist und eine Vielzahl von Poren und/oder kleinen Zwischenräumen einschließt, dadurch gekennzeichnet, dass die äußere Umkleidung den flexiblen Behälter im wesentlichen vollständig umhüllt.

Wegen der weiter angegriffenen und unmittelbar oder mittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Ansprüche 2, 9 und 10 wird auf die Streitpatentschrift EP 0 174 141 B1 Bezug genommen.

Die Klägerin behauptet, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Zur Begründung ihrer Behauptung, der Gegenstand des Streitpatents sei weder neu noch beruhe er auf erfinderischer Tätigkeit, beruft sie sich auf folgende Druckschriften:

D1 EP 0 030 838 A1 D2 EP 0 054 359 A1 D3 US 3 293 663 D4 US 3 683 424 D5 Elizabeth Ann Powell, Master's Thesis: "Changes in the subcutaneous tissue response caused by implant compliance and surface morphology", Department of Biomedical Engineering, Case Western Reserve University, Mai 1982 D6 US 2 842 775 D7 US 4 413 359 D8 S. R. Taylor, D. F. Gibbons: "Effect of surface texture on the soft tissue response to polymer implants", in: Journal of Biomedical Materials Research, Vol. 17, S. 205-227 (1983)

D9 US 3 366 975 D10 US 3 559 214 D11 US 4 460 713 D12 F. L. Ashley: "A new type of breast prosthesis", in: Plastic & Reconstructive Surgery, Vol. 45, Nr. 5, S. 421-424 (Mai 1970)

D13 G. J. Picha, D. J. Siedlak: "Ion beam microtexturing of biomaterials", in: MD & DI, S. 39-42 (April 1984)

D14 A. Capozzi, V. R. Pennisi: "Clinical experience with polyurethanecovered gelfilled mammary prostheses", in: Plastic & Reconstructive Surgery, Vol. 68, Nr. 4, S. 512-518 (Oktober 1981)

D15 Auszug aus Römpp Lexikon Chemie, 10. Aufl. 1997, S. 868 und 3213 D16 DE 29 41 281 OS D17 EP 0 057 033 B1 D18 J. E. Williams: "Experiences with a large series of silastic breast implants", in: Plastic & Reconstructive Surgery, Vol. 49, Nr. 3, S. 253-258 (März 1972)

Die Klägerin beantragt, das europäische Patent EP 0 174 141 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Ansprüche 1, 2 und 9, soweit dieser unmittelbar auf Anspruch 2 rückbezogen ist, sowie 10, soweit dieser unmittelbar auf Anspruch 9 rückbezogen ist, welcher wiederum auf den Anspruch 2 rückbezogen ist, für nichtig zu erklären.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise mit der Maßgabe, dass Anspruch 1 folgende Fassung erhält:

An implantable prosthetic device for use in a human body comprising a flexible container filled with a liquid or gel filling and a flexible outer covering, characterized in that the outer covering substantially wholly encases the flexible container, has a rough surface and includes a multiplicity of pores and/or interstices, in order to break up the orderly alignment of the collagen fibres in the scar or fibrous capsule surrounding the implanted prothesis.

Sie schließt sich der Teilerledigterklärung der Klägerin an, tritt deren Vorbringen im übrigen aber voll umfänglich entgegen und hält das Streitpatent zumindest im hilfsweise verteidigten Umfang für patentfähig.

Gründe

I.

1. Die Klage ist zulässig. Aufgrund des zwischen den Parteien anhängigen Rechtsstreits vor dem Landgericht Mannheim (Az. 2 O 101/05) verfügt die Klägerin trotz des zwischenzeitlichen Erlöschens des Streitpatents infolge Zeitablaufs im Umfang ihres Antrags über das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

2. Die Klage ist auch begründet. Sie führt zur Nichtigerklärung des Streitpatents mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, denn der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung wie auch in der Fassung nach dem Hilfsantrag ist nicht patentfähig, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a), Art. 54 EPÜ.

II.

1. Das Streitpatent betrifft eine implantierbare Prothesenvorrichtung zur Verwendung im menschlichen Körper, wie sie etwa bei Brustimplantaten Verwendung findet. Solche Implantate sind grundsätzlich bekannt, weisen aber den Nachteil einer kapselförmigen Kontraktur durch Narbenbildungen auf und lassen sich im Fall auftretender Infektionen oder sonstiger unerwünschter körperlicher Reaktionen nicht ohne weiteres einfach und vollständig wieder entfernen.

2. Vor diesem Hintergrund beschreibt die Patentschrift ein Implantat, das die kapselförmige Kontraktur in Form einer unerwünschten Bildung von Narbengewebe, die zu relativ starren und gespannten Strukturen und damit zu einem unerwünschten Ergebnis in der plastischen Chirurgie sowie einer damit einhergehenden Erschwerung der vollständigen Entfernung des Implantats führen kann, als zu lösendes Problem. Die Nachteile sollen dadurch vermieden werden, dass die äußere Umhüllung mit entsprechend gestalteter Oberfläche den flexiblen Behälter im wesentlichen vollständig umschließt.

3. Der mit Gliederungspunkten versehene Patentanspruch 1 beschreibt daher eine M1 implantierbare Prothesenvorrichtung zur Verwendung in einem menschlichen Körper, M2 umfassend einen flexiblen Behälter (2), M3 der mit einer Flüssigkeits- oder Gelfüllung (1) gefüllt ist, M4 und eine flexible äußere Umkleidung (3), M5 die eine raue texturierte Oberfläche aufweist und eine Vielzahl von Poren und/oder kleinen Zwischenräumen einschließt, dadurch gekennzeichnet, M6 dass die äußere Umkleidung (3) den flexiblen Behälter (2) im Wesentlichen vollständig umhüllt.

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag umfasst - in dieser Reihenfolge - die Merkmale M1 bis M4 und M6 des erteilten Patentanspruchs 1, an welche sich das gegenüber dem Merkmal M5 durch Streichung des Wortes "texturiert" modifizierte Merkmal M5' sowie das Merkmal M5'' anschließen. Damit beschreibt der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag eine M1 implantierbare Prothesenvorrichtung zur Verwendung in einem menschlichen Körper, M2 umfassend einen flexiblen Behälter, M3 der mit einer Flüssigkeits- oder Gelfüllung gefüllt ist, M4 und eine flexible äußere Umkleidung, dadurch gekennzeichnet, M6 dass die äußere Umkleidung den flexiblen Behälter im Wesentlichen vollständig umhüllt, M5' eine raue Oberfläche aufweist und eine Vielzahl von Poren und/oder kleinen Zwischenräumen einschließt, M5'' um die geordnete Ausrichtung der Kollagenfasern in der Narbe oder der fibrösen Kapsel aufzubrechen, welche die implantierte Prothese umgibt.

4. Der Senat ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass die Gegenstände des erteilten und des hilfsweise verteidigten Patentanspruchs 1 durch den Stand der Technik gemäß Druckschrift D5 neuheitsschädlich vorweggenommen werden.

a) Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung - wie schon zuvor schriftsätzlich - Zweifel dahingehend geäußert, ob die Druckschrift D5 vor dem Prioritätstag des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei, da es sich bei dieser Entgegenhaltung um eine Diplomarbeit handle. Es sei eine allgemein anerkannte Regel, dass Diplomarbeiten nur in wenigen Exemplaren eingereicht würden und demzufolge nicht in öffentlichen Bibliotheken auflägen.

Diese Bedenken der Beklagten vermag der Senat zwar insoweit zu teilen, als nicht auszuschließen ist, dass von der besagten Schrift möglicherweise nur ein einziges Exemplar existiert. Gleichwohl ist die öffentliche Zugänglichkeit der D5 uneingeschränkt zu bejahen, da sie in der vorveröffentlichten Druckschrift D13 (vgl. Seite 41, linke Spalte, letzter Absatz bis rechte Spalte, 2. Absatz i. V. m. Seite 42, rechte Spalte, "References", Nr. 4) zitiert wird. Dem Einwand der Beklagten, aus der Erwähnung der D5 in der D13 ließe sich lediglich folgern, dass einer der beiden Autoren dieser Publikation - nämlich der in der Danksagung der D5 (vgl. Seite V, Acknowledgements, 2. Absatz ) genannte Dr. G. Picha - die D5 kenne und sie quasi aus Gefälligkeit gegenüber ihrer Verfasserin zitiere, vermag sich der Senat jedoch nicht anzuschließen. Denn das besagte Zitat in der D13 beinhaltet neben einer kurzen Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der Diplomarbeit und dem Zeitpunkt ihrer Erstellung auch die Angabe des Ortes, an welchem sie aufliegt (Case Western Reserve University). Jedem interessierten Dritten war damit lange vor dem Prioritätstag des Streitpatents die Möglichkeit gegeben, das Schriftstück kennenzulernen, so dass keinerlei Zweifel an dessen öffentlicher Zugänglichkeit bestehen (vgl. hierzu BPatG Mitt. 1984, 148, Ls1, 149, III. - "Öffentlichkeit einer Druckschrift").

b) Aus der Druckschrift D5 (vgl. insbesondere die Seiten ii und iii der Zusammenfassung, Kapitel III, Seiten 27 bis 31, Figur 2, Seite 32, Seite 34, Zeilen 1 bis 18, Seite 36, Figuren 4a und 4b, Seite 38, Zeilen 1 bis 17 und Seite 40, Zeilen 15 bis Seite 41) ist ein Gegenstand mit sämtlichen, im erteilten Patentanspruch 1 aufgeführten Merkmalen bekannt. Denn diese Druckschrift offenbart dem zuständigen Fachmann - einem mit der Entwicklung von Implantaten befassten, berufserfahrenen Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Medizintechnik - bereits eine implantierbare Prothesenvorrichtung zur Verwendung im menschlichen Körper (mammary prosthesis) [Merkmal M1], welche einen flexiblen Behälter ( threedimensional sac ) [Merkmal M2], der mit einer Gelfüllung (silicone gel) gefüllt ist [Merkmal M3], und eine flexible äußere Umkleidung (Silastic, Biomer, polyether polyurethane) umfasst [ Merkmal M4], welche eine raue texturierte Oberfläche (textured sheet) aufweist und eine Vielzahl von Poren bzw. kleinen Zwischenräumen (textured Silastic implant, Figur 4b ) einschließt [Merkmal M5], wobei die äußere Umkleidung den flexiblen Behälter vollständig umschließt (direct dip coating) [Merkmal M6].

Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung den Standpunkt vertreten, die D5 offenbare keine flexible äußere Umkleidung mit einer rauen Oberfläche im Sinne des Streitpatents. Insofern sei zumindest das Merkmal M5 bei diesem Stand der Technik nicht erfüllt. So zeige beispielsweise die Figur 4a auf Seite 36 der D5 eine regelmäßige Anordnung von Säulen bzw. Zwischenräumen, was zu einer Ausrichtung der einwachsenden Kollagenfasern führen würde. Gemäß der Lehre des Streitpatents komme es aber entscheidend darauf an, dass die Poren bzw. die Zwischenräume der äußeren Umkleidung unregelmäßig angeordnet seien. Nur auf diese Weise könnte die eingangs erwähnte kapselförmige Kontraktur durch Narbenbildung wirkungsvoll verhindert werden.

Dieser Argumentation vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Denn gemäß der mit Schriftsatz vom 16. Januar 2007 eingereichten Druckschrift NB5: American Heritage Dictionary, Third Edition, Seiten 716 und 717 will die Beklagte unter dem Begriff "rough" im Patentanspruch 1 der englischen Originalfassung des Streitpatents "bumpy" (d. h. holprig, uneben), "irregular" oder "not smooth" (d. h. nicht glatt) verstanden wissen. Eine solchermaßen gekennzeichnete Oberfläche der flexiblen äußeren Umhüllung des beanspruchten Implantats ist aber bereits aus der D5 bekannt. Denn selbst die in Figur 4a auf Seite 36 nur schematisch wiedergegebene Oberflächenstruktur einer Implantatsumkleidung ist offensichtlich holprig, uneben und insoweit auch irregulär, als sie jedenfalls nicht glatt erscheint. Sehr viel deutlicher werden diese Eigenschaften des Standes der Technik aber durch die elektronenmikroskopische Aufnahme einer solchen Oberfläche, wie sie in der Figur 4b der D5 gezeigt ist. Nach alledem ist der Senat davon überzeugt, dass das die raue Oberfläche der flexiblen Umkleidung betreffende Merkmal M5 beim Stand der Technik gemäß Entgegenhaltung D5 erfüllt ist.

Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 kann deshalb nicht mehr als neu gelten.

c) Die erteilten Patentansprüche 2, 9 und 10 teilen aufgrund ihres Rückbezugs auf den Patentanspruch 1 dessen Schicksal. Einen eigenständigen erfinderischen Gehalt dieser Patentansprüche hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung im Übrigen nicht geltend gemacht.

d) Es kann dahinstehen, ob der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag zulässig ist, da auch dem Gegenstand dieses Anspruchs im Hinblick auf die D5 die erforderliche Neuheit fehlt.

Nachdem die flexible äußere Umkleidung des aus der D5 bekannten Implantats eine "raue" Oberfläche im Sinne der von der Beklagten als richtig erachteten Definition (vgl. wiederum die NB5) aufweist [Merkmal M5'], wird auch bei diesem Stand der Technik zwangsläufig die im Streitpatent behauptete Wirkung eintreten, dass die geordnete Ausrichtung der Kollagenfasern in der Narbe oder der fibrösen Kapsel, welche die implantierte Prothese umgibt, aufgebrochen wird [Merkmal M5''].

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. §§ 91 Abs. 1, 91a Abs. 1 ZPO.

Soweit die Parteien den Rechtsstreit übereinstimmend teilweise für erledigt erklärt haben, sind der Beklagten die Kosten, weil sie nach dem dargelegten Sach- und Streitstand insoweit unterlegen wäre.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.






BPatG:
Urteil v. 23.01.2007
Az: 4 Ni 37/05


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/bb73fdbc969b/BPatG_Urteil_vom_23-Januar-2007_Az_4-Ni-37-05




Diese Seite teilen (soziale Medien):

LinkedIn+ Social Share Twitter Social Share Facebook Social Share