Landgericht Bonn:
Beschluss vom 13. Januar 2012
Aktenzeichen: 6 T 83/11

(LG Bonn: Beschluss v. 13.01.2012, Az.: 6 T 83/11)

Die örtliche Zuständigkeit gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 InsO setzt im Falle einer nicht mehr werbenden Tätigkeit Abwicklungstätigkeiten von einigem Gewicht voraus.

Tenor

Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts E vom ...03.2011 - ... IN ...#/09 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Schuldnerin war bis zum ...07.20... unter der Nummer HRB ... im Handelsregister des Amtsgerichts U eingetragen. Sitz der Gesellschaft war D. Laut Gesellschafterbeschluss vom ...04.20... wurde der satzungsmäßige Sitz der Gesellschaft von D nach L verlegt. Am ...07.20... wurde die Schuldnerin beim Amtsgericht V unter der Nummer HRB ...# eingetragen.

Zuvor war auf Eigenantrag der Schuldnerin vom .../...09.20... beim Amtsgericht F (... IN ...#/...) ein Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der Schuldnerin anhängig gewesen, welches durch Rücknahme des Eigenantrags vom ...04.../...04.20... beendet wurde.

Ein weiteres Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der Schuldnerin beim AG F war auf Antrag des M, des ehemaligen Geschäftsführers der Schuldnerin, vom .../...09.20... eingeleitet worden und ist durch Rücknahme des Antrags beendet worden (... IN ...#/...).

Ein weiteres Insolvenzeröffnungsverfahren auf Antrag des Finanzamts F ist derzeit noch anhängig (... IN ...#/...). Das Finanzamt F stellte in diesem Verfahren Insolvenzantrag wegen Abgabenrückständen der Insolvenzschuldnerin in Höhe von 1.431.756,20 € - die entsprechenden (bestandskräftigen) Bescheide wurden der Schuldnerin spätestens im ersten Halbjahr 20... bekannt gemacht. In diesem Verfahren holte das AG F ein Gutachten zur Frage der örtlichen Zuständigkeit ein, welches Frau Q am ...04.20... erstellte. Mit Verfügung vom ...10.20... übersandte das Amtsgericht F die dortige Akte an das Amtsgericht E mit der Bitte um Mitteilung, ob Übernahmebereitschaft besteht.

Die Schuldnerin stellte mit Schreiben vom ...10.20... Insolvenzantrag beim Amtsgericht V, der an das Amtsgericht E als zuständiges Insolvenzgericht für den Bezirk weitergeleitet wurde. Dieser Insolvenzeröffnungsantrag ist Gegenstand des hiesigen Verfahrens. Das Amtsgericht E wies den Eröffnungsantrag der Schuldnerin mit Beschluss vom ...03.20... als unzulässig ab.

Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Schuldnerin. Diese ist der Ansicht, dass ihre unternehmerische Tätigkeit in L eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 2 InsO darstelle. Dies gelte insbesondere deshalb, weil der Gewerbebetrieb eben nicht eingestellt, sondern bis zur Regelung der steuerlichen und rechtlichen Belange und Beziehungen aufrechterhalten bleibe, was sich aus R 19 zu § 2 UStG als auch aus § 15 EStG ergebe; das gewerbliche Unternehmen ende (steuerrechtlich) nicht mit der Einstellung der werbenden Tätigkeit, sondern erst mit der letzten Abwicklungshandlung. Die steuerrechtliche Wertung sei auf § 3 InsO zu übertragen. Vorliegend habe die Schuldnerin weiterhin Abwicklungstätigkeiten entfaltet, die insbesondere darauf gerichtet gewesen seien, Ansprüche gegen M vorzubereiten bzw. durchzusetzen. Erst durch die Fälligstellung der Steuerverbindlichkeiten durch das Finanzamt F mit Insolvenzantrag vom ...09.20... sei die Zahlungsunfähigkeit eingetreten. Sie ist des Weiteren der Ansicht, dass wenn diese Fälligstellung nicht erfolgt wäre, die Forderungen gegen M mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der ersten Instanz durch ein Urteil des Landgerichts I tituliert worden wären. Für eine solche Rechtsverfolgung habe die Schuldnerin finanzielle Mittel Dritter erhalten. Die Sitzverlegung sei aus den vorgenannten Gründen nicht rechtsmissbräuchlich, so dass jedenfalls eine Zuständigkeit des AG E gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 InsO bestehe. Die Sitzverlegung sei erfolgt, damit der Sitz näher am Geschäftsort des Steuerberaters der Schuldnerin läge, der die Berichtigung der Jahresabschlüsse für die Jahre 19... - 20... vornehmen sollte - zur Vorbereitung der gegen M beabsichtigten Klage. Der Geschäftsführer der Schuldnerin halte sich zu diesem Zweck jeweils 3 Tage pro Woche in L auf. Zudem ergebe sich aus dem Ergebnis der Außenprüfung des Finanzamts T vom ...09.20..., dass in L der tatsächliche Geschäftssitz der Schuldnerin sei.

II.

Die zulässige sofortige Beschwerde vom ...03.20... ist unbegründet.

Dem Amtsgericht ist darin zu folgen, dass der Insolvenzantrag der Schuldnerin unzulässig ist, da das Amtsgericht E örtlich unzuständig ist.

1.

Zunächst ist dem Amtsgericht darin zuzustimmen, dass kein etwaig bindender Verweisungsbeschluss des AG F vorliegt. Die formlose Abgabe mit der Anfrage, ob Übernahmebereitschaft bestünde, bindet nicht.

2.

Es liegt kein (ausschließlicher) örtlicher Gerichtsstand im Bezirk des AG E gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 InsO vor. Voraussetzung eines solchen Gerichtsstandes wäre, dass der Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners im Bezirk des Amtsgerichts E läge. Unter welchen Voraussetzungen eine solche wirtschaftliche Tätigkeit anzunehmen ist, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beantwortet. Insbesondere ist dabei umstritten, ob nach Beendigung der aktiven gewerblichen Tätigkeit, also sobald keine werbende Tätigkeit mehr entfaltet wird, noch eine Zuständigkeitsveränderung nach § 3 Abs. 1 S. 2 InsO dadurch herbeigeführt werden kann, dass die verbliebenen Geschäftsunterlagen vom Sitz der Schuldnerin als allgemeinem Gerichtsstand an einen Ort außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Insolvenzgerichts verbracht werden. Dabei hat sich das Zuständigkeitsproblem auf die Frage zugespitzt, ob "reine Abwicklungstätigkeit" noch als "selbständige wirtschaftliche Tätigkeit" i. S. v. § 3 Abs. 1 S.2 InsO angesehen werden kann, die eine Verlagerung der Zuständigkeit rechtfertigt. Die überwiegende Meinung hat sich auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass nach Einstellung der aktiven Betriebstätigkeit bzw. Eintritt der Insolvenzreife eine wirksame Verlegung des Mittelpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen ist mit der Folge, dass allein zuständiges Insolvenzgericht das Gericht am Satzungssitz (§ 3 Abs. 1 S.1 InsO) ist (OLG Stuttgart ZinsO 2009, 350; BayObLG ZIP 1999, 1714 = NJW-RR 2000, 349; ZinsO 2001, 517; ZIP 2003, 676; OLG Düsseldorf NZI 2000, 601; OLG Köln ZIP 2000, 672; OLG Celle OLGRep 2000, 205; OLG Hamm ZinsO 1999, 533; NZI 2000, 220; OLG Braunschweig OLGRep 2000, 105; NZI 2000, 266; OLG Naumburg InVo 2000, 12; ZIP 2001, 753; OLG Zweibrücken, InVo 2002, 367). Andererseits ist die Ansicht, dass auch eine solche Abwicklungstätigkeit- ggf unter Fortführung der Geschäftsbücher - als "wirtschaftliche Tätigkeit" angesehen werden kann (vgl. BGHZ 132, 195 zum früheren Recht), zumindest als vertretbar qualifiziert worden, so dass jedenfalls eine Verweisung an das Insolvenzgericht am Abwicklungsort als bindend erachtet wurde (z. B. OLG Köln ZIP 2000, 672; OLG Celle OLGRep 2000, 205; anders NZI 2004, 260; OLG Frankfurt NZI 2000, 523; OLG Naumburg InVo 2000, 12 sowie die Beschlüsse des OLG Karlsruhe - 15 AR 35/03 - vom 16.10.2003, des OLG Brandenburg - 1 AR 60/03 - vom 8.8.2003 und des OLG Schleswig - 2 W 117/03 - vom 28.7.2003; anders NZI 2004,264). Vielfach sind allerdings auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen an das abgebende Gericht im Hinblick auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs, auf die Begründung des Abgabebeschlusses oder den Umfang der vorher erforderlichen Ermittlungen strenger geprüft worden mit der Folge, dass - jeweils als Einzelfallentscheidung- die Verbindlichkeit der Verweisung verneint wurde (z. B. BayObLG ZinsO 2001, 517; KG NZI 1999, 499; OLG Hamm ZinsO 1999, 533; NZI 2000, 220; OLG Braunschweig OLGRep 2000, 105; OLG Rostock ZinsO 2001, 1064; OLG Naumburg ZIP 2001, 753; OLG Frankfurt ZIP 2002, 1956 sowie die Beschlüsse des BayObLG vom 25.7.2003 (1Z AR 72/03), vom 13.8.2003 (1Z AR 84/03) und vom 19.9.2003 (1Z AR 102/03), des OLG Hamm (1Sbd 71/03) vom 31.7.2003, des OLG Rostock (3 UH 10/03 und 3 UH 11/03) jeweils vom 11.8.2003 und des OLG Dresden (1 AR 69/03) vom 9.9.2003). Teilweise wird auch vertreten, dass - ohne Einschränkungen - das Abwicklungsstadium noch eine wirtschaftliche Tätigkeit begründe, da die Anforderungen, die an eine Vollbeendigung des Unternehmens zu stellen sind, erheblich seien (Schleswig-Holsteinisches OLG ZinsO 2010, 574). Teilweise wird dahingehend differenziert, dass die Abwicklungstätigkeit "Außenwirkung" entfalten müsste, um noch als wirtschaftliche Tätigkeit angesehen zu werden (Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Auflage, § 3, Rn. 7b, m.w.N.). Jedenfalls im Falle der "gewerbsmäßigen Unternehmensbestattung" herrscht Einigkeit, dass im Hinblick auf den Normzweck der Zuständigkeitsregelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechende Abwicklungstätigkeiten nicht als "selbständige wirtschaftliche Tätigkeit" qualifiziert werden können, weil sonst einer - in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig abgelehnten - rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung Vorschub geleistet würde (vgl. Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2007, Rn. 38 ff; BayObLG NZI 2004, 148; Schleswig-Holsteinisches OLG NZI 2004, 264).

Die Kammer schließt sich der Auffassung an, dass auch Abwicklungstätigkeiten mit Außenwirkung von einigem Gewicht bei Schuldnern, die keine werbende Tätigkeit mehr entfalten, eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 2 InsO darstellen (so wohl auch Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Auflage, § 3, Rn. 7b; Schmerbach in FK-InsO, 5. Auflage, § 3, Rn. 9b). Abwicklungstätigkeiten mit Außenwirkung von einigem Gewicht liegen nur vor, wenn der Schuldner noch Tätigkeiten entfaltet, die gegenüber einer nicht unerheblichen Anzahl von außenstehenden Dritten und in einem erheblichen Umfang gegenüber solchen Dritten wirken, so z.B. wenn noch umfangreiche Abwicklungsmaßnahmen vorgenommen werden, indem noch restliche Warenbestände verkauft werden, Rechnungen erstellt und versandt werden, Forderungen eingezogen werden etc. Rein interne Vorgänge wie Buchungsarbeiten, Erstellung bzw. Berichtigung des Jahresabschlusses, etc. sind dabei unerheblich. Schlichte Korrespondenz mit den Gläubigern ist ebenfalls unerheblich. Dieses Verständnis des § 3 Abs. 1 S. 2 InsO ist dadurch begründet, dass in der Regel nur eine noch werbende Tätigkeit eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der genannten Vorschrift begründen kann und nur in Ausnahmefällen eine wirtschaftliche Tätigkeit bei einer nicht mehr werbenden Tätigkeit angenommen werden kann. Bei einer werbenden Tätigkeit tritt eine wirtschaftliche Tätigkeit klar erkennbar zutage und kann damit vom Insolvenzgericht - welches die tatsächlichen Verhältnisse zu überprüfen hat - am sichersten überprüft werden. Bei einer mangelnden werbenden Tätigkeit und nur noch verbliebener Abwicklungstätigkeit ist daher nur in Ausnahmefällen eine wirtschaftliche Tätigkeit zu bejahen (vgl. Schmerbach in FK-InsO, 5. Auflage, § 3, Rn. 9b). Ein solcher Ausnahmefall ist folglich nur in engen Grenzen anzunehmen. Als Kriterium der Grenzziehung erscheint die Außenwirkung geeignet, da wirtschaftliche Tätigkeit in der Regel von Außenwirkung im geschäftlichen Verkehr geprägt ist. Nach Auffassung der Kammer ist das Merkmal der Außenwirkung aber noch dahingehend zu ergänzen, dass diese von einigem Gewicht sein muss, damit nicht jede noch so kleine Tätigkeit oder gegenüber auch nur einem Dritten schon den Ausnahmefall begründen kann, was dazu führen würde, dass der Ausnahmefall eben kein solcher mehr wäre. Die gegen eine solche rechtliche Bewertung gerichteten Ausführungen der Schuldnerin unter Verweis auf die steuerrechtliche Bewertung der wirtschaftlichen Tätigkeit sind unerheblich. Das Steuerrecht vermag für das Verständnis des § 3 Abs. 1 S. 2 InsO keine erhellenden Argumente zu bieten. Die Interessenlage ist nicht vergleichbar. Im Rahmen von § 3 Abs. 1 S. 2 InsO gilt es, zuständigkeitsverändernde Umstände eher eng auszulegen, um der u.U. rechtsmissbräuchlichen Erwerbung eines neuen Gerichtsstands entgegenzuwirken. Die weite Auslegung des Steuerrechts zur Annahme einer wirtschaftlichen (bzw. gewerblichen) Tätigkeit ist insoweit unpassend und kann nicht übertragen werden.

Nach den genannten Voraussetzungen liegt keine wirtschaftliche Tätigkeit der Schuldnerin in L vor. Unstreitig entfaltet die Schuldnerin schon seit dem Jahre 20... keine werbende Tätigkeit mehr. Die nach Ansicht der Schuldnerin als solche anzusehende wirtschaftliche Tätigkeit liegt nach ihrem Sachvortrag darin, dass sie in L in Zusammenarbeit mit ihrem Steuerberater Abwicklungstätigkeiten dahingehend entfalte, die Jahresabschlüsse der Jahre 19... - 20... zu berichtigen. Dies seien notwendige Vorbereitungsarbeiten für die beabsichtigte - klageweise - Geltendmachung einer Forderung aus §§ 30, 31 GmbHG gegen den ehemaligen Geschäftsführer M, welche auf 2,8 Mio. DM zu beziffern sei. Für die entsprechenden Vorbereitungsarbeiten habe die Schuldnerin finanzielle Unterstützung "Dritter" erhalten. Der Sitz in L sei die Verwaltungszentrale der Schuldnerin. Er halte sich als Geschäftsführer der Schuldnerin mindestens jeweils 3 Tage pro Woche in L auf. Aus diesem Sachvortrag - als wahr unterstellt - ergibt sich, dass die Schuldnerin in L allenfalls Abwicklungsmaßnahmen mit Außenwirkung gegenüber M entfaltet und auch nur in sehr geringem Maße, da nach dem eigenen Sachvortrag bisher immer noch nur die Vorbereitungsmaßnahmen - Berichtigung der Jahresabschlüsse - laufen und keine aktive Tätigkeit nach außen gegenüber M. Dabei kann offen bleiben, ob die Tätigkeiten gegenüber M überhaupt als Tätigkeiten mit Außenwirkung anzusehen sind, da sich diese immerhin gegen den ehemaligen Geschäftsführer richten und damit als "quasiintern" anzusehen sein dürften. Jedenfalls liegt ein solch geringes Maß und auch nur gegenüber einem etwaig außenstehenden Dritten vor, dass keine Außenwirkung von einigem Gewicht vorliegt. Die etwaige schlichte Korrespondenz mit Gläubigern ist unerheblich, s.o. Gleiches gilt für die rein internen Vorgänge der Berichtigung der Jahresabschlüsse. Mithin liegen insgesamt lediglich Abwicklungstätigkeiten von (sehr) geringem Gewicht vor, welche nicht die Annahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 2 InsO begründen. Es kann demnach offen bleiben, ob der Bewertung der Sachverständigen Q im Verfahren AG F, ... IN ...#/... im Gutachten vom ...04.20... zu folgen ist, wonach mangels Briefkastenschild der Schuldnerin nicht einmal eine Briefkastenfirma bezüglich der Schuldnerin in L vorliege oder ob sich aus dem Ergebnis der Außenprüfung des Finanzamts T, Bl. ...#, ...# GA, jedenfalls ergibt, dass sich in L ein Büro mit den Geschäftsunterlagen der Schuldnerin befindet. Jedenfalls begründet die dargelegte Tätigkeit der Schuldnerin in L keine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 2 InsO.

3.

Es liegt auch kein (ausschließlicher) örtlicher Gerichtsstand im Bezirk des AG E gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 InsO vor.

Dem Amtsgericht ist im Ergebnis darin zu folgen, dass § 3 Abs. 1 S. 1 InsO keine Zuständigkeit des AG E begründet. Nach allgemeiner Ansicht begründet eine rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung, dass keine Zuständigkeit gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 InsO am neuen Sitz der Gesellschaft begründet wird (vgl. Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2007, Rn. 38 ff; Schmerbach in FK-InsO, 5. Auflage, § 3, Rn. 18 ff.; BayObLG NZI 2004, 148; Schleswig-Holsteinisches OLG NZI 2004, 264). Dabei gibt es vielfältige Gründe für eine solche rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung (vgl. zum Überblick Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2007, Rn. 38 ff.). Zunächst ist jedoch zu prüfen, ob die Gesellschaft einen ordnungsgemäßen satzungsändernden Beschluss hinsichtlich der Sitzverlegung gefasst hat (Schmerbach in FK-InsO, 5. Auflage, § 3, Rn. 19 m.w.N.). Die Rechtsprechung zu § 4a Abs. 2 GmbHG, auf die auch das Amtsgericht insoweit Bezug nimmt und danach zur Unwirksamkeit der Sitzverlegung kommt, ist allerdings veraltet, da § 4a Abs. 2 GmbHG mit Wirkung zum ...12.20... aufgehoben wurde und nicht auf die Beschlussfassung am ...04.20... anwendbar ist mangels Übergangsvorschriften. Sofern eine GmbH sich im Stadium der Abwicklung befindet, kann diese nach der anwendbaren Fassung des § 4a GmbHG zwar grundsätzlich noch ihren Geschäftssitz wirksam verlegen, jedoch nur in den sich aus dem Wesen der Liquidation ergebenden Grenzen. Diese Grenzen werden nicht mehr gewahrt, wenn die GmbH sich im Stadium der Abwicklung befand und nicht mehr werbend am Markt tätig war und zugleich zahlungsunfähig war zum Zeitpunkt der Sitzverlegung; dann ist der Satzungsänderungsbeschluss gemäß § 4a GmbHG i.V.m. § 241 Nr. 3 Fall 3 AktG analog nichtig (KG Berlin ZIP 2011, 1566; vgl. OLG Stuttgart ZinsO 2009, 350 m.w.N.).

Diese letztgenannten Voraussetzungen sind nach dem eigenen Sachvortrag der Schuldnerin - wenngleich nicht nach ihrer (falschen) Rechtsansicht - erfüllt. Unstreitig war die Schuldnerin zum Zeitpunkt der Sitzverlegung durch Gesellschafterbeschluss vom ...04.20... in der Abwicklungsphase und nicht mehr werbend tätig. Die Schuldnerin ist zwar der Ansicht, dass sie bei Rücknahme ihres Insolvenzantrags am ...04.20.../...04.20... nicht zahlungsunfähig gewesen sei und entsprechend auch bei Beschlussfassung am ...04.20... nicht zahlungsunfähig gewesen sei. Diese Rechtsansicht beruht allerdings auf einer Verkennung des Rechtsbegriffs der Zahlungsunfähigkeit. Zahlungsunfähigkeit liegt nach der Legaldefinition des § 17 Abs. 2 S. 1 InsO vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH (BGHZ 163, 134 m.w.N.) liegt Zahlungsunfähigkeit i.d.S. regelmäßig vor, wenn binnen drei Wochen mehr als 10% der Gesamtverbindlichkeiten nicht bedient werden. Vorliegend bestanden nach dem eigenen Sachvortrag der Schuldnerin Steuerschulden durch entsprechende bestandskräftige Bescheide der Steuerbehörden in Höhe von ca. 1,8 Mio. DM (bzw. sogar über 1,4 Mio. Euro entsprechend der Forderungsanmeldung des Finanzamts F im Verfahren ... IN ...#/...) seit Herbst 20... und dem 1. Halbjahr 20... (Bl. ...#, ...#, ...# GA). Dem standen keine nennenswerten liquiden Mittel gegenüber, so dass diese Steuerschulden in der Folge ihrer Festsetzung durch die genannten Bescheide nicht von der Schuldnerin beglichen wurden und bis heute nicht beglichen sind. Mithin lag spätestens seit Mitte des Jahres 20... Zahlungsunfähigkeit aufgrund dieser fälligen Zahlungsverpflichtungen vor, die die Schuldnerin nicht in der Lage war und ist zu erfüllen. Soweit die Schuldnerin insoweit eine Berechnung vornimmt, wonach unter Berücksichtigung der ihr gegenüber M angeblich zustehenden Ansprüche ein Eigenkapital von 0,1 Mio. DM bestünde, kann die Kammer dem nicht folgen, da dies an der Sache vorbeigeht, jedenfalls bezüglich der (entscheidenden) Frage der Zahlungsunfähigkeit. Die etwaigen Ansprüche gegen M sind für die Frage der Zahlungsunfähigkeit unerheblich, da es insoweit nur auf liquide bzw. schnell liquide zu machende Vermögenswerte ankommt, mit denen die Verbindlichkeiten zeitnah zu bedienen (gewesen) wären. Nach der eigenen Darstellung der Schuldnerin würde die gerichtliche Durchsetzung der Forderung gegen M 2 bis 4 Jahre dauern, zumal noch gar nicht die oben genannten für die Klage erforderlichen "Vorarbeiten" abgeschlossen sind, obwohl diese schon jahrelang laufen, worauf das Amtsgericht zu Recht hinweist. Ebenso entspricht es nicht der Rechtslage, soweit die Schuldnerin davon redet, dass erst durch den Insolvenzantrag des Finanzamts F vom ...09.20... die Steuerforderung "fällig gestellt" worden sei. Die Forderung war seit Bekanntgabe des entsprechenden Bescheids gegenüber der Schuldnern, jedenfalls seit Bestandskraft des entsprechenden Bescheids, fällig (vgl. § 220 AO), also seit spätestens Mitte des Jahres 20... Die Forderung wurde nicht etwa erst durch den Insolvenzantrag am ...09.20... fällig. Dass das Finanzamt seit Mitte 20... bis zum ...09.20... keine Schritte zur Vollstreckung der bereits fälligen Forderung ergriff, hat keine Relevanz für die Fälligkeit und die damit verbundene Frage der Zahlungsunfähigkeit, sondern ergibt sich wohl eher aus dem praktischen Umstand, dass das Finanzamt wohl davon ausging, dass bereits ein Insolvenzverfahren lief, in dem es seine Forderung sodann hätte anmelden können (und müssen anstelle der Ergreifung von Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen), nachdem dem Finanzamt noch am ...09.20... telefonisch mitgeteilt worden sein soll, dass das Verfahren ... IN ...#/... noch laufe, wie sich aus dem Antragsschreiben des Finanzamts F vom ...09.20... im Verfahren AG F, ... IN ...#/... ergibt. Eine Stundung der Steuerschulden hat die Schuldnerin nicht vorgetragen, und eine solche ist auch weder ersichtlich noch wahrscheinlich. Der Inhalt des genannten Antragsschreibens des Finanzamts F vom ...09.20... spricht dagegen. Soweit die Schuldnerin vortrug, dass ihr Mittel von (nicht genannten) Dritten zur Verfügung gestellt worden wären nach Rücknahme des Insolvenzantrags beim AG F zwecks Verfolgung der Forderung gegen M, reichen diese Mittel jedenfalls nicht aus, um die Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen, sondern diese dürften nach dem Sachvortrag der Schuldnerin allenfalls bei ca. 50.000,00 € gelegen haben - zur Deckung der Kosten der genannten "Vorarbeiten". Mithin rechtfertigen die Ausführungen der Schuldnerin keine abweichende Beurteilung; die Schuldnerin war und ist seit spätestens Mitte des Jahres 20... zahlungsunfähig und damit insolvenzreif. Es kann offen bleiben, ob die Schuldnerin zudem überschuldet ist, wofür einiges spricht.

Demzufolge ist der Sitzverlegungsbeschluss vom ...04.20... gemäß § 4a GmbHG i.V.m. § 241 Nr. 3 Fall 3 AktG analog nichtig, und die Schuldnerin hat ihren Sitz nicht in L, sondern weiterhin im Bezirk des AG F.

Es kann demnach offen bleiben, ob die Sitzverlegung auch rechtsmissbräuchlich gewesen wäre - wenn sie wirksam gewesen wäre, wobei für die Annahme von Rechtsmissbrauch durchaus einiges spricht entsprechend der durchaus nachvollziehbaren Ausführungen des Amtsgerichts im angegriffenen Beschluss. Es dürfte der Bewertung der Sachverständigen Q in ihrem Gutachten vom ...04.20... im Verfahren AG F ... IN ...#/... zuzustimmen sein, wonach die vorliegenden Indizien in der Gesamtschau im erheblichen Maße insbesondere dafür sprechen, dass die Schuldnerin den Sitz verlegte, um nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des Finanzamts F zu sein, wofür inzident insbesondere auch das Finanzgerichtsverfahren, FG J, ... K ...#/..., spricht und wohl auch, um nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des AG F und unter "Aufsicht" der Sachverständigen Q zu stehen. Hierfür spricht insbesondere der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Rücknahme des Insolvenzantrags beim AG F am ...04.20.../...04.20... und Beschluss zur Sitzverlegung am ...04.20... sowie die offenkundig negative Einstellung des Geschäftsführers der Schuldnerin gegenüber dem Finanzamt F.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO vorliegen. Aufgrund der uneinheitlichen Rechtsprechung der Instanzgerichte zur Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Abwicklungstätigkeit einer nicht werbend tätigen Gesellschaft die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 S. 2 InsO erfüllt, erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Es kann entsprechend offen bleiben, ob noch § 7 InsO a.F. Anwendung findet.

Gegenstandswert: 4.000,00 (§ 58 GKG, §§ 23 Abs. 3 S. 2, 28 Abs. 3 RVG analog)






LG Bonn:
Beschluss v. 13.01.2012
Az: 6 T 83/11


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