Landgericht Stuttgart:
Beschluss vom 10. September 2008
Aktenzeichen: 21 O 408/05

(LG Stuttgart: Beschluss v. 10.09.2008, Az.: 21 O 408/05)

1. Für die Einführung neuer Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG während des Musterverfahrens bedarf es keines Erweiterungsantrags beim Prozessgericht und auch keiner Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG, soweit und solange sich das bereits im ursprünglichen Vorlagebeschluss festgehaltene Feststellungsziel nicht ändert.

2. Zulässiger Gegenstand eines Erweiterungsantrags gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG kann nur die Erweiterung des Vorlagebeschlusses um ein weiteres Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG sein, das entscheidungserheblich sein muss, nicht jedoch die Erweiterung oder Bekräftigung isolierter Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG.

3. Bei Anträgen auf Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 Kap-MuG muss das Prozessgericht zunächst prüfen, ob es bei der begehrten Erweiterung um ein neues Feststellungsziel geht oder lediglich um die Einführung weiterer Streitpunkte.

4. Bei der Abgrenzung zwischen Feststellungsziel und Streitpunkten i.S.d. KapMuG liegt nahe, die Parallele zum Streitgegenstandsbegriff der ZPO zu ziehen und das Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG mit dem jeweiligen Antrag, die Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG mit dem zur Begründung des Antrags formulierten Lebenssachverhalt zu vergleichen.

5. Ein Vorlagebeschluss gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG kann - ebenso wie ein Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 KapMuG - mehrere Feststellungsziele definieren.

6. Auf unzulässige Anträge auf Erweiterung eines Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG ist § 2 Abs. 1 KapMuG nicht entsprechend anwendbar. Einer öffentlichen Bekanntmachung bedarf es in diesem Fall nicht.

Tenor

1. Der Antrag der Kläger vom 22.08.2008 auf Erweiterung des Vorlagebeschlusses des Gerichts vom 03.07.2006 in Gestalt des berichtigten Beschlusses vom 20.07.2006 wird zurückgewiesen.

2. Eine öffentliche Bekanntmachung des Erweiterungsantrags der Kläger vom 22.08.2008 entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ist nicht veranlasst.

Gründe

A. Sachverhalt und Anträge

Die Kläger machen im Ausgangsverfahren Schadensersatzansprüche aus § 37 b Abs. 1 WpHG wegen einer nach ihrer Auffassung verspäteten Ad-hoc-Mitteilung über das vorzeitige Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Prof. [&] S. im Jahr 2005 geltend.

Das Gericht erließ am 03.07.2006 einen Vorlagebeschluss gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG zur Herbeiführung einer Entscheidung des OLG Stuttgart über das Feststellungsziel gleichgerichteter Musterfeststellungsanträge. Der Beschluss wurde am 20.07.2006 berichtigt. Auf Antrag der Kläger und der Beklagten wurden dem Oberlandesgericht verschiedene Fragen zur Entscheidung vorgelegt, wobei es sich um einen Antrag der Kläger und um verschiedene Hilfsanträge der Beklagten handelte. Unter anderem heißt es in dem Vorlagebeschluss:

Dem Oberlandesgericht Stuttgart wird das Verfahren vorgelegt, um im Rahmen des Feststellungsziels der Rechtzeitigkeit der ad-hoc-Mitteilung über das Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten Prof. [&] S. über folgende Anträge (Streitpunkte) zu entscheiden:

Es wird festgestellt,

1. dass spätestens seit Mitte Mai 2005 oder jedenfalls zu irgendeinem späteren Zeitpunkt vor dem 28.07.2005, 10:32 Uhr, insbesondere seit dem 15.7.2005, jedenfalls seit dem 19.7.2005 oder jedenfalls spätestens seit dem 27.7.2005 durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Herrn Prof. [&] S., eine Insiderinformation im Sinne des § 37 b Abs. 1 WpHG entstanden ist und die Beklagte diese nicht unverzüglich veröffentlicht hat.

&

6. weiter hilfsweise, dass die Beklagte weder vorsätzlich noch grob fahrlässig die rechtzeitige Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung zum vorzeitigen Ausscheiden ihres Vorstandsvorsitzenden unterlassen hat.

&

Der 9. Senat des OLG Stuttgart entschied durch Beschluss vom 15.02.2007 ohne Beweisaufnahme, dass durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten eine Insiderinformation im Sinne des § 37 b Abs. 1 WpHG erst am 28.7.2005 um ca. 9:50 Uhr entstanden sei und dass die Musterbeklagte diese unverzüglich veröffentlicht habe (OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.02.2007 - 901 Kap 1/06).

Der BGH hob diesen Beschluss jedoch durch Entscheidung vom 25.02.2008 auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den 20. Zivilsenat des OLG Stuttgart zurück (BGH, Beschluss vom 25.02.2008 - II ZB 9/07). Nach der BGH-Entscheidung muss durch Beweisaufnahme geklärt werden, ob der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Beklagten (wie von der Beklagten vorgetragen) im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat aufgrund einer umfassenden Nachfolgeregelung aus dem Amt ausgeschieden ist oder ob er (wie vom Musterkläger behauptet) einseitig den Rücktritt von seinem Amt als Vorstandsvorsitzender erklärt hat. Bei einer einseitigen definitiven Amtsniederlegung habe zweifellos bereits zu diesem Zeitpunkt eine Insiderinformation i.S. der §§ 13, 15 WpHG vorgelegen, deren unverzügliche Veröffentlichung die Musterbeklagte nach § 37 b Abs. 1 WpHG unterlassen hätte. Sollte das Oberlandesgericht jedoch nach Beweisaufnahme zu dem Ergebnis kommen, dass zwischen den Beteiligten eine einvernehmliche Aufhebung der Bestellung, ggf. in Verbindung mit einer gleichzeitigen Nachfolgeregelung, beabsichtigt bzw. vereinbart war, die zur Wirksamkeit zwingend einer Beschlussfassung durch den gesamten Aufsichtsrat bedurfte, so sei das Oberlandesgericht aus Rechtsgründen nicht gehindert, den Musterentscheid wiederum mit der gleichlautenden inhaltlichen Feststellung wie in der Entscheidung vom 15.02. 2007 zu treffen (BGH Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O., Umdruck Seite 9 f. Rn. 15, 18).

Dem Gericht ist bekannt, dass der 20. Senat des Oberlandesgerichts Stuttgart im Rahmen der mündlichen Verhandlung ab dem 19.09.2008 Beweis erheben wird.

Die Kläger meinen, die Feststellungen durch den BGH (damit dürften die Ausführungen in den Gründen der Entscheidung vom 25.02.2008 gemeint sein) träfen zwar zu, griffen jedoch im Ergebnis zu kurz. Die Kläger beantragen nunmehr mit Schriftsatz vom 22.08.2008 eine Entscheidung über ihren Antrag auf Ergänzung des Vorlagebeschlusses des Gerichts vom 03.07.2006. Sie beantragen die Ergänzung im Rahmen des Feststellungsziels zu 1 um folgende Streitpunkte:

1. Es wird festgestellt, dass die Befassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten mit der Absicht von Herrn Prof. [&] S., vor Ablauf des Zeitraums seiner Bestellung (31.12.2008) aus dem Amt des Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten auszuscheiden, bereits am 17.05.2005, jedenfalls jedoch zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem 28.07.2005 insbesondere ab dem 01.06.2005 bzw. ab dem 18.07.2005 eine veröffentlichungspflichtige Insiderinformation gem. § 13 WpHG war.

2. Es wird festgestellt, dass die Musterbeklagte es mindestens leichtfertig unterlassen hat, die in Ziffer 1 bezeichnete Insiderinformation unverzüglich im Sinne des § 15 WpHG zu veröffentlichen.

Der Beklagten wurde mit Verfügung vom 25.08.2008 Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 05.09.2008,

den Antrag zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, der Antrag sei unzulässig, weil das Landgericht Stuttgart der falsche Adressat für den Erweiterungsantrag sei. Der Antrag sei im laufenden Musterverfahren vor dem OLG Stuttgart zu stellen. Es fehle die Erweiterungsbefugnis, weil ein neues Feststellungsziel betroffen sei. Im Übrigen fehle es an der Entscheidungserheblichkeit und Sachdienlichkeit.

Im Übrigen wird hinsichtlich des weiteren Vortrags auf die vorgelegten Schriftsätze und Anlagen verwiesen.

B. Unzulässigkeit der Ergänzungsanträge

I. Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Musterkläger

Der gestellte Erweiterungsantrag Ziff. 1 ist unzulässig.

Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 KapMuG liegen insoweit nicht vor, weil es an einem zulässigen Gegenstand der Erweiterung des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 fehlt. Der Erweiterungsantrag war daher in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 KapMuG durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen.

Nach Auffassung des Gerichts kann zulässiger Gegenstand eines Erweiterungsantrags gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG nur die Erweiterung des Vorlagebeschlusses um ein weiteres Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG sein, das entscheidungserheblich sein muss, nicht jedoch die Erweiterung oder Bekräftigung isolierter Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG (vgl. dazu unten 1.). Die Auslegung des Erweiterungsantrags Ziff. 1 ergibt jedoch, dass es dem Antragsteller dabei insbesondere um die Betonung bestimmter isolierter Streitpunkte geht, die bereits im Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 berücksichtigt und vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses mit umfasst sind (vgl. dazu unten 2.). Soweit der gestellte Erweiterungsantrag Ziff. 1 ein eigenständiges neues Feststellungsziel enthält, ist die begehrte Feststellung im Übrigen nicht entscheidungserheblich. Eine Klärung der im Erweiterungsantrag aufgeworfenen Fragen ist, soweit diese Fragen entscheidungserheblich sind, bereits durch eine Entscheidung über das Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 im Rahmen des Musterverfahrens zu erwarten (vgl. dazu unten 3.).

1. Zulässiger Gegenstand der Erweiterung eines Vorlagebeschlusses gemäß § 13 KapMuG

a. Gesetzeswortlaut

Das KapMuG differenziert zwischen sogenannten Feststellungszielen und Streitpunkten. Feststellungsziele eines Musterverfahrens können gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nur das Vorliegen oder Nichtvorliegen anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen sein. Streitpunkte sind dagegen gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die der Begründung des Feststellungsziels dienen und die im Musterfeststellungsantrag anzugeben sind. So bilden etwa die einzelnen Punkte, weshalb nach Auffassung der Kläger eine Kapitalmarktinformation fehlerhaft sein soll oder weshalb ihre Veröffentlichung nach Auffassung der Kläger ab einem bestimmten Zeitpunkt pflichtwidrig unterlassen worden sein soll, verschiedene Streitpunkte, nicht aber unterschiedliche Streitgegenstände und damit keine unterschiedlichen Feststellungsziele (so z.B. für die verschiedenen Angriffe gegen Prospektangaben LG Frankfurt, Beschluss vom 11.07.2006 - 3/7 OH 1/06, 3-7 OH 1/06, zit. nach Juris Rn. 16).

Nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 KapMuG können die Beteiligten des Musterverfahrens im Rahmen des Feststellungsziels des Musterverfahrens bis zum Abschluss des Musterverfahrens ergänzend die Feststellung weiterer Streitpunkte begehren. Der Wortlaut des § 13 Abs. 1 KapMuG spricht dafür, dass es bei der Ergänzung um die Einführung weiterer Streitpunkte gehen soll. Über die Erweiterung des Vorlagebeschlusses muss dann, wie sich aus § 13 Abs. 2 KapMuG ergibt, das Prozessgericht entscheiden, das den Vorlagebeschluss erlassen hat.

b. Literaturmeinungen

In der Literatur wird aber der Gesetzeswortlaut des § 13 Abs. 1 KapMuG für verunglückt gehalten (Reuschle, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, Einführung S. 41). Der Wille des Gesetzgebers komme im Gesetzeswortlaut nur rudimentär zum Ausdruck (Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar, München 2007, § 13 Rn. 1). In der Tat wirft der Normwortlaut zahlreiche Fragen auf.

Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung besteht ein Regelungsdefizit, weil der eindeutige Wortlaut des § 13 KapMuG die Einführung weiterer Feststellungsziele nicht erfasse. An die Einführung weiterer Feststellungsziele habe der Gesetzgeber bei der endgültigen, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens veränderten und in einem beschleunigten Verfahren verabschiedeten Norm nicht gedacht. Der Erweiterungsantrag müsse sich auf weitere Streitpunkte im Rahmen des Feststellungsziels beziehen, wobei der Rechtsausschuss des Bundestages übersehen habe, dass es Fallkonstellationen gebe, in denen die Einführung von Streitpunkten ohne die Erweiterung des Feststellungsziels um zusätzliche Teilfragen unmöglich sei. Weitere Feststellungsziele müssten und könnten im Wege der Änderung des Streitgegenstands des Musterverfahrens gemäß § 263 ZPO eingeführt werden (Reuschle, in Hess/Reuschle/Rimmelspacher, Kölner Kommentar KapMuG, § 13 Rn. 5, 6, 10, 13, 25).

Nach anderer Auffassung beruht der Hinweis in § 13 Abs. 1 KapMuG auf die weiteren Streitpunkte, die nach dem Normwortlaut festgestellt werden sollen, auf einem offenkundigen Versehen des Gesetzgebers. Das ergebe sich sowohl aus den Gesetzesmaterialien als auch aus der Stellung des § 13 KapMuG innerhalb der Systematik des Musterverfahrens. Soweit es im Rahmen des Feststellungsziels lediglich um die Untermauerung der anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Tatbestandsvoraussetzungen durch weitere Streitpunkte geht, bedürfe es keines Vorlagebeschlusses durch das Prozessgericht. Vielmehr könnten Musterkläger, Musterbeklagter und die Beigeladenen im Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht innerhalb des Feststellungsziels neue Streitpunkte darlegen. § 13 Abs. 1 KapMuG ermögliche jedoch die Erweiterung des Verfahrensgegenstandes zur Einführung weiterer Feststellungsziele, d.h. die Erweiterung des Feststellungsziels (Fullenkamp, in Vorwerk, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 5, 6, 8; wohl auch Plaßmeier, NZG 2005, 609 ff., 612; für die Anwendung des § 13 KapMuG zur Erweiterung um weitere Feststellungsziele auch Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 101 und wohl auch Varadinek/Asmus, ZIP 2008, 1309 ff., 1312 f.).

Maier-Reimer, der sich ebenfalls für eine korrigierte Lesart des § 13 KapMuG ausspricht, differenziert noch weiter: Die Einführung weiterer Streitpunkte innerhalb desselben Feststellungsziels sei (im Gegensatz zur Einführung neuer Feststellungsziele) ohne Erweiterung des Vorlagebeschlusses möglich, setze aber voraus, dass das Prozessgericht dies für sachdienlich hält. Dies müsse informell vom Oberlandesgericht mit dem Prozessgericht geklärt werden (Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 101).

c. Auslegung des § 13 Abs. 1 KapMuG

Nach Auffassung des Gerichts bedarf es für die Einführung neuer Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG während des Musterverfahrens keines Erweiterungsantrags beim Prozessgericht und auch keiner Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG, soweit und solange sich das bereits im ursprünglichen Vorlagebeschluss festgehaltene Feststellungsziel nicht ändert. Es kann bei § 13 Abs. 1 KapMuG nur um die Ergänzung des Musterverfahrens durch Entscheidung über ein weiteres Feststellungsziel gehen, nicht um die Feststellung weiterer Streitpunkte (im Ergebnis wie hier wohl Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 6). Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

aa. Bereits der Regierungsentwurf zum KapMuG (BT-Drs. 15/5091, S. 1 ff.) differenzierte in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 RegE-KapMuG zwischen Feststellungszielen und Streitpunkten, wobei der Begriff des Feststellungsziels in der damaligen Fassung des § 1 Abs. 1 noch nicht legaldefiniert war. Auch nach der damaligen Fassung sollte Ziel eines Musterverfahrens die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens einer anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Voraussetzung sein, wie der Wortlaut der §§ Abs. 1 und 4 Abs. 1 RegE-KapMuG zeigt (BT-Drs. 15/5091, S. 5 f., 8). An der Beschreibung der Zielrichtung des Musterverfahrens, nämlich der für mehrere Ausgangsverfahren verbindlichen Klärung eines Feststellungsziels, hat sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nichts geändert.

Die Möglichkeit der Erweiterung des Gegenstandes des Musterverfahrens war bereits im Regierungsentwurf vorgesehen. § 13 RegE-KapMuG sah folgendes vor (vgl. BT-Drs. 15/5091, S. 8):

Die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens weiterer anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 können der Musterkläger und der Musterbeklagte begehren, soweit das Oberlandesgericht dies für sachdienlich erachtet. Satz 1 gilt entsprechend, wenn mindestens zehn Beigeladene eine derartige Feststellung begehren.

Die gemäß § 13 RegE-KapMuG als Gegenstand der Ergänzung vorgesehene Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens (weiterer) Anspruchsvoraussetzungen entspricht der heutigen Definition des Feststellungsziels in § 1 Abs. 1 Satz KapMuG, abgesehen von der in der Gesetzesfassung noch hinzugekommenen Möglichkeit, auch Rechtsfragen als Feststellungsziele des Musterverfahrens zu definieren.

Die Veränderung des Wortlauts des § 13 KapMuG gegenüber dem Regierungsentwurf beruht auf einer Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages (vgl. dazu Reuschle, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, S. 146; Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 5). Aufgrund der Empfehlungen des Rechtsausschusses wurde in § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG durch den Klammerzusatz klargestellt, was als Feststellungsziel im Sinne des Gesetzes anzusehen sei. Wie sich aus dem Bericht des Rechtsausschusses ergibt, ging es bei der Änderung des § 13 KapMuG um eine Ausrichtung der Formulierung an den legaldefinierten Begriffen Feststellungsziel und Streitpunkt in § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 KapMuG (BT-Drs. 15/5695, Seite 24). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der beabsichtigten Anpassung der Formulierung an die in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 des Gesetzes eingefügten Begriffe auch eine inhaltliche Veränderung oder gar Neukonzeption des Musterverfahrens verbunden sein sollte (wie hier Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 5).

bb. Die Möglichkeit zur Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele, wie sie im ursprünglichen § 13 RegE-KapMuG bereits vorgesehen war, sollte nach der Begründung des Regierungsentwurfs einer umfassenden Erledigung der (bei den Prozessgerichten anhängigen) Rechtsstreite dienen. Bei § 13 RegE-KapMuG handle es sich um eine zu den §§ 263 ff. ZPO spezielle Möglichkeit der Erweiterung des Streitgegenstandes des Musterverfahrens. Daneben sei ein Rückgriff auf die Vorschriften der Klageänderung im Musterverfahren ausgeschlossen (Regierungsbegründung, BT-Drs. 15/5091, S. 28).

Bei Überlegungen zum Sinn und Zweck des § 13 KapMuG ist auch die Sperrwirkung des Musterverfahrens gemäß § 5 KapMuG zu berücksichtigen (vgl. zum Folgenden Reuschle, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, Einführung S. 36). Mit Erlass des (ersten) Vorlagebeschlusses ist gemäß § 5 KapMuG die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 7 KapMuG auszusetzenden Verfahren unzulässig. Durch diese Sperrwirkung soll ausgeschlossen werden, dass ein Prozessgericht durch einen Vorlagebeschluss ein Musterverfahren zu derselben oder zu einer weiteren Anspruchsvoraussetzung einleitet, wenn bereits ein Musterverfahren für die auszusetzenden Rechtsstreite eingeleitet worden ist. Parallel laufende Musterverfahren sollen aus prozessökonomischen Gründen vermieden werden. Stellt sich nach Erlass des Vorlagebeschlusses aufgrund weiteren Vortrags heraus, dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer weiteren anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Voraussetzung (also eines neuen Feststellungsziels i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 1 KapMuG) in einem der Ausgangsrechtsstreite entscheidungserheblich ist, so soll - solange das Musterverfahren noch andauert - nach entsprechender Erweiterung des Vorlagebeschlusses (durch das Prozessgericht) eine einheitliche und gemäß § 16 Abs. 1 KapMuG bindende Feststellung auch zu diesem neuen Feststellungsziel erreicht werden, und zwar im noch anhängigen Musterverfahren.

Das spricht für die Interpretation, dass § 13 KapMuG unter den dort genannten Voraussetzungen eine Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele ermöglicht, z.B. wenn sich während eines Ausgangsverfahrens vor dem Prozessgericht herausstellt, dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen weiterer Anspruchsvoraussetzungen entscheidungserheblich ist, dass die entsprechende Feststellung für mehrere Verfahren von Bedeutung ist und dass die Erweiterung sachdienlich ist. Ob dabei die Einführung neuer Feststellungsziele zusätzlich noch davon abhängt, dass die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1, Abs. 2 KapMuG und des § 4 Abs. 1 KapMuG erfüllt sind, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben.

cc. Die Definition des Verfahrensgegenstandes eines Musterverfahrens nach dem KapMuG, die sich aus dem systematischen Zusammenhang der §§ 1, 4 und 14 KapMuG erschließen lässt, ist ein weiteres Argument für die hier vertretene Auffassung. § 13 Abs. 1 KapMuG spricht zwar von der Feststellung weiterer Streitpunkte. Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags ist jedoch gemäß § 1 Abs. 1 KapMuG nicht etwa die Feststellung von Streitpunkten, die in § 1 Abs. 2 KapMuG legaldefiniert sind als tatsächliche und rechtliche Umstände, die zur Begründung des Feststellungsziels dienen und die deshalb (nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 KapMuG allein als Begründungselemente) im Antrag angegeben werden müssen. Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags ist vielmehr die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen als Feststellungsziel. Das ergibt sich aus der Legaldefinition des Begriffs Feststellungsziel und dem eindeutigen Wortlaut des § 1 Abs. 1 KapMuG. Dementsprechend ist Gegenstand des Musterentscheids nicht etwa die Feststellung einzelner Streitpunkte (verstanden im Sinne der Definition in § 1 Abs. 2 KapMuG), sondern die Entscheidung über das Feststellungsziel. Das ergibt sich aus § 14 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 KapMuG.

Gemäß § 16 Abs. 1 S. 2 KapMuG ist der Musterentscheid der Rechtskraft insoweit fähig, als über den (in der Norm nicht ausdrücklich definierten) Streitgegenstand des Musterverfahrens entschieden ist. Der Musterentscheid entfaltet gemäß § 16 Abs. 1 Satz 3 KapMuG Bindungswirkung unabhängig davon, ob ein einzelner Streitpunkt von einem Beigeladenen (also Beteiligtem eines der ausgesetzten Verfahren, vgl. §§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 3 KapMuG) selbst im Ausgangsrechtsstreit ausdrücklich vorgetragen wurde oder nicht. Der Streitgegenstand des Musterverfahrens wird zwar in der Tat durch die Feststellungsziele und die Streitpunkte, also den zugrundeliegenden tatsächlichen Lebenssachverhalt, gemeinsam umschrieben (so Vollkommer, in Hess / Reuschle / Rimmelspacher, Kölner Kommentar KapMuG a.a.O. § 4 Rn. 88; für die Erstreckung der Bindungswirkung auch auf die behandelten Streitpunkte Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 103). Insoweit liegt nahe, die Parallele zum Streitgegenstandsbegriff der ZPO zu ziehen und das Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG mit dem jeweiligen Antrag, die Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG mit dem zur Begründung des Antrags formulierten Lebenssachverhalt zu vergleichen. Das ändert jedoch nichts daran, dass im Musterverfahren nicht über die Feststellung einzelner Streitpunkte, d.h. einzelner Elemente des zur Begründung unterbreiteten Lebenssachverhalts, entschieden wird, wenn diese Streitpunkte nicht selbst als Feststellungsziele formuliert sind. Entschieden wird vielmehr im Ergebnis über die vorgelegten Anträge, die als Feststellungsziele gemäß § 1 Abs. 1 KapMuG formuliert sind, d.h. etwa über entscheidungserhebliche Rechtsfragen oder Anspruchsvoraussetzungen. Die zur Begründung unterbreiteten Elemente des Lebenssachverhalts (also die Streitpunkte) sind in der Regel gerade nicht mit den Anspruchsvoraussetzungen identisch.

Die Feststellung weiterer Streitpunkte, von der in § 13 Abs. 1 KapMuG wörtlich die Rede ist und die nach dem Normwortlaut als Gegenstand einer Ergänzung des Vorlagebeschlusses in Betracht kommen soll, würde im Übrigen einen systematischen Fremdkörper im Rahmen des bereits laufenden Musterverfahrens darstellen. Über den vorangegangenen Vorlagebeschluss soll nur das als Feststellungsziel definierte Vorliegen bestimmter entscheidungserheblicher Anspruchsvoraussetzungen festgestellt werden, der Tenor des Musterentscheids gemäß § 14 KapMuG dürfte sich also letztlich auf die im Vorlagebeschluss definierten Feststellungsziele beschränken (so auch Wolf, in Vorwerk/Wolf, KapMuG a.a.O. § 14 Rn. 6). Soweit eine Anspruchsvoraussetzung, die als Feststellungsziel definiert ist, alternativ durch mehrere Streitpunkte erfüllt werden kann, reicht es nach dem Sinn und Zweck des KapMuG, eine bindende und für mehrere Ausgangsverfahren maßgebliche Entscheidung über diese Anspruchsvoraussetzung selbst herbeizuführen. Daher dürfte es z.B. bei mehreren alternativ zur Begründung geeigneten Streitpunkten ausreichen, wenn das Oberlandesgericht im konkreten Fall das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzung bereits aufgrund der im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse über einen einzelnen Streitpunkt bejahen kann und dies im Tenor ausspricht (ebenso im Ergebnis Wolf, in Vorwerk/Wolf, KapMuG a.a.O. § 14 Rn. 8), sofern dem nicht Besonderheiten der Ausgangsverfahren entgegenstehen (vgl. Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 104). Eine Feststellung des zugrunde liegenden Sachverhalts durch das Oberlandesgericht im Tenor des Musterentscheids scheint nach der Konzeption des Gesetzgebers nicht vorgesehen und auch vom Sinn und Zweck der Norm nicht erforderlich. Käme man aufgrund des Normwortlauts des § 13 Abs. 1 KapMuG nun zu dem Ergebnis, dass im Falle einer Ergänzung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 KapMuG ausnahmsweise losgelöst vom eigentlichen Feststellungsziel auch einzelne Streitpunkte festgestellt werden müssten, dann könnte dies darauf hinauslaufen, dass der lediglich zur Begründung des Feststellungsziels dienende Lebenssachverhalt im Tenor des Musterentscheids festgehalten werden müsste. Dies dürfte nicht dem Inhalt eines Musterentscheids nach den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechen.

Wäre die Feststellung weiterer Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG im Rahmen eines Erweiterungsantrags gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG ein zulässiges Feststellungsziel, dann bestünde zudem die Gefahr, dass über einen solchen Antrag die gewollte, in § 16 Abs. 1 KapMuG geregelte Bindungswirkung des Musterentscheids bezogen auf das ursprüngliche Feststellungsziel faktisch unterlaufen wird (z.B. bei einem Erweiterungsantrag nach Erlass des Musterentscheids, aber noch vor dessen Rechtskraft).

dd. Außerdem hat der Gesetzgeber das Musterverfahren als Fortführung der ersten Tatsacheninstanz angesehen (Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs. 15/5091, S. 49; vgl. Vorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 1 Rn. 27). Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, den Sachvortrag im Musterverfahren zu ergänzen: Auf das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht sind gemäß § 9 Abs. 1 KapMuG grundsätzlich die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der ZPO entsprechend anzuwenden. Der Musterkläger und die Musterbeklagte können jedenfalls im Musterverfahren weiter vortragen (wie hier Parigger, in Vorwerk/Wolf, a.a.O. § 9 Rn. 14), ganz unabhängig von der Frage, ob der Sachverhalt, der im Ausgangsverfahren vorgetragen wurde, im Musterverfahren durch neu vorzulegende, vorbereitende Schriftsätze aufzubereiten ist (so Parigger, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O., § 9 Rn. 13). Für das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht schreibt § 14 Abs. 1 S. 1 KapMuG eine mündliche Verhandlung vor. Nach Auffassung von Parigger soll während des Musterverfahrens durch das Oberlandesgericht darauf hingewirkt werden, dass ungenügende Angaben ergänzt werden und alle Erklärungen abgegeben und unter Beweis gestellt werden, die für den Inhalt des Feststellungsziels erheblich sind (Parigger, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 9 Rn. 24). Dies entspricht dem Gedanken des § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO. Der Gesetzgeber ging zudem davon aus, dass auch die Beigeladenen im Verfahren vor dem Oberlandesgericht den Vortrag des Musterklägers oder des Musterbeklagten schriftsätzlich ergänzen können. Das ergibt sich aus § 10 KapMuG. Eine etwaige Beschränkung des Verfahrensstoffs oder der Beweiserhebung auf diejenigen Streitpunkte und Beweismittel, die im Musterfeststellungsantrag genannt wurden, kommt im KapMuG nicht zum Ausdruck.

Wenn aber die Möglichkeit zur Ergänzung des Sachvortrags während des Musterverfahrens besteht, kann dies nur bedeuten, dass die im Rahmen des Musterverfahrens ggf. zu klärenden tatsächlichen Umstände im Sinne von Streitpunkten gemäß § 1 Abs. 2 KapMuG als Vorfragen zur Entscheidung über das Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG nicht etwa durch den Vorlagebeschluss des Prozessgerichts endgültig festgelegt, begrenzt oder gleichsam eingefroren sind (vgl. auch dazu Vorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 1 Rn. 26).

Ein Erweiterungsbeschluss, der lediglich weitere Streitpunkte enthielte, erscheint deshalb weder notwendig noch zweckmäßig. Könnte das Prozessgericht durch Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG entscheiden, dass noch bestimmte weitere, erst nach Beginn des Musterverfahrens vorgetragene Sachverhaltselemente (im Sinne von Streitpunkten) zu berücksichtigen seien, eröffnete dies den Klägern u.U. sogar die Möglichkeit, durch taktisch gestellte Erweiterungsanträge die gemäß § 9 Abs. 1 KapMuG auch im Musterverfahren anwendbaren Präklusionsvorschriften der ZPO zu umgehen. Jedenfalls wäre dann klärungsbedürftig, ob das Oberlandesgericht trotz Präklusion des neuen Sachvortrags im Rahmen des Musterverfahrens gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG an die Erweiterung des Vorlagebeschlusses gebunden ist oder ob die Bindung an den Erweiterungsbeschluss die Anwendung der Präklusionsvorschriften unberührt lässt.

ee. Der Einbeziehung weiterer Feststellungsziele in ein anhängiges Musterverfahren über eine Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1, Abs. 2 KapMuG steht auch nicht entgegen, dass in der Literatur vereinzelt die Auffassung vertreten wird, ein Musterfeststellungsantrag könne immer nur ein Feststellungsziel zum Gegenstand haben, und bei unterschiedlichen Feststellungszielen seien mehrere Musterverfahren durchzuführen (Gundermann/Härle, VuR 2006, 457 ff., 459). Das Gericht teilt diese Auffassung nicht. Vielmehr kann ein Vorlagebeschluss gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG mehrere Feststellungsziele definieren (wie hier Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 91). Das ergibt sich erstens aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 S. 1 KapMuG, der nicht von einer einzigen Anspruchsvoraussetzung, sondern von Anspruchsvoraussetzungen spricht, zweitens aus dem Sinn und Zweck des § 13 KapMuG, der eine umfassende Erledigung der Rechtsstreite dienen soll (vgl. Regierungsbegründung, BT-Drs. 15/5091, S. 28), und lässt sich drittens auch mit einer entsprechenden Anwendung des § 260 ZPO über § 3 Abs. 1 EGZPO begründen. Für einen Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG kann nichts anderes gelten.

2. Prüfung des Erweiterungsantrags der Kläger

a. Vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses umfasste Streitpunkte

Nach der hier vertretenen Auffassung muss das Prozessgericht bei Anträgen auf Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG zunächst prüfen, ob es bei der begehrten Erweiterung um ein neues Feststellungsziel geht oder lediglich um die Einführung weiterer Streitpunkte. Durch den Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Musterkläger werden im Wesentlichen Streitpunkte konkretisiert, die nach dem Verständnis des Gerichts bereits vom Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 mit umfasst sind. Insoweit ist der Erweiterungsantrag unzulässig.

Die Formulierung des Ergänzungsantrags Ziff. 1 im Schriftsatz der Kläger vom 22.08.2008 lässt zwei wesentliche Elemente erkennen, nämlich zum einen die Befassung des Aufsichtsrats der Beklagten mit der bereits im Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 bezeichneten Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden, vorzeitig auszuscheiden, zum andern das Begehren, es solle festgestellt werden, dass diese Befassung des Aufsichtsrats ab einem bestimmten Zeitpunkt eine veröffentlichungspflichtige Insiderinformation gewesen sei. Die Kläger tragen selbst zur Begründung ihres Erweiterungsantrags im Schriftsatz vom 22.08.2008 auf Seite 4 vor, dass sie die Befassung des Aufsichtsrats mit der Absicht des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, vorzeitig auszuscheiden, als weitere Streitpunkte ansehen, die vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 umfasst seien. Auf Seite 6 der Antragsschrift vom 22.08.2008 formulieren die Kläger, die Feststellungen des BGH im Beschluss vom 25.02.2008 seien zwar zutreffend, griffen aber gemessen am Feststellungsziel & zu kurz, weil im Rahmen des Feststellungsantrags Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 sämtliche Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden & auf ihre Qualität als Insiderinformation zu untersuchen seien. Diese Ausführungen lassen den Schluss zu, dass die Kläger selbst ihren Erweiterungsantrag Ziff. 1 nicht als neues Feststellungsziel, sondern als Konkretisierung von Streitpunkten verstanden wissen wollen.

Grundsätzlich musste bereits der ursprüngliche Musterfeststellungsantrag die öffentliche Kapitalmarktinformation hinreichend konkretisieren, deren unterlassene Veröffentlichung den Schadensersatzanspruch ausgelöst haben soll (Vorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O., § 1 Rn. 30). In dem Feststellungsziel nach Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 ist allgemein davon die Rede, durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Herrn Prof. [&] S. sei ab spätestens Mitte Mai 2005 nach Auffassung der Musterkläger eine veröffentlichungspflichtige Kapitalmarktinformation entstanden. Unter diese Vorgänge als veröffentlichungspflichtige Kapitalmarktinformation lässt sich - abstrakt - sowohl die Tatsache oder die Absicht des Ausscheidens selbst als auch die Befassung des Aufsichtsrats der Beklagten mit dieser Tatsache oder Absicht subsumieren. Schon aus den Gründen des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006, insbesondere zum Feststellungsziel Ziff. 1, ergibt sich, dass insbesondere die Gespräche des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten am 12.05.2005 mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Musterbeklagten und die Information weiterer Aufsichtsratsmitglieder in der Folgezeit, die spätere Befassung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrats am 27.07.2005 und des Aufsichtsrates selbst am folgenden Tag zu den tatsächlichen Umständen gehören, die von den Musterklägern als Streitpunkte vorgetragen wurden. Diese Streitpunkte wurden bereits bei Erlass des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 berücksichtigt und dort ausdrücklich erwähnt.

Die Befassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten mit der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt vorzeitig aus seinem Amt auszuscheiden, und die verschiedenen Stadien der Gespräche mit Mitgliedern des Aufsichtsrates über diese Absicht, können im Hinblick auf etwaige Ansprüche der Musterkläger gem. § 37b Abs. 1 WpHG als eines von mehreren denkbaren Elementen der (zunehmenden) Konkretisierung einer Information über nicht öffentlich bekannte Umstände i.S.d. § 13 Abs. 1 WpHG gesehen werden. Bereits Pläne, Vorhaben und Absichten einer Person können zwar veröffentlichungspflichtige Insiderinformationen im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG sein. Bei einer zukunftsbezogenen Information (wie etwa der Absicht des einvernehmlichen Ausscheidens) kann es sich aber nur dann um eine konkrete Information im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG und damit eine Insiderinformation handeln, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden darf, dass sie in Zukunft eintreten werde, und wenn sie darüber hinaus (bereits) kursrelevant ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O. - Umdruck Seite 11 Rn. 20). Damit ist jedoch die nunmehr bezeichnete Befassung des Aufsichtsrats nur ein Teilausschnitt der tatsächlichen Umstände, die bereits im Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 als Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden bezeichnet sind. Mit der bloßen Befassung des Aufsichtsrats mit der Absicht des vorzeitigen Ausscheidens ist damit kein neues, eigenständiges Feststellungsziel verbunden.

Auch hinsichtlich des konkreten Zeitraums der relevanten Vorgänge ergibt sich aus dem Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Musterkläger keine Erweiterung des bisherigen Feststellungsziels gemäß Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses, denn dieser erstreckt sich bereits allgemein auf Vorgänge ab Mitte Mai 2005, während Gegenstand des Erweiterungsantrags Ziff. 1 die Befassung des Aufsichtsrats ab dem 17.05.2005 sein soll.

Das Gericht geht davon aus, dass bereits aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 im Musterverfahren sämtliche (im Vorlagebeschluss näher bezeichneten) Umstände im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten (jedenfalls die sich aus dem Vorlagebeschluss vom 3.7.2006 und dem vorausgegangenen Vortrag der Beteiligten ergebenden Streitpunkte) daraufhin überprüft werden, ob diese Umstände dazu führen, dass im Zusammenhang mit den Absichten des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Insiderinformation im Sinne des § 37 b Abs. 1 WpHG bzw. § 13 Abs. 1 WpHG in der im Jahr 2005 geltenden Fassung entstanden ist. Soweit die Musterkläger also die Rechtsauffassung vertreten, aufgrund der Befassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten mit der Absicht des vorzeitigen Ausscheidens des Vorstandsvorsitzenden sei zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Veröffentlichungspflicht gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG entstanden, wurden die damit aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen bereits aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt. Das Gericht geht davon aus, dass diese Fragen durch den Musterentscheid gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG geklärt werden.

Der Musterkläger bemängelt in der Begründung seines Antrags auf Ergänzung gemäß § 13 KapMuG, dass die Feststellungen des Oberlandesgerichts in der Entscheidung vom 15.02.2007 (901 Kap 1/06) bzw. des Bundesgerichtshofs im Beschluss vom 25.02.2008 (II ZB 9/07) im Ergebnis gemessen am Feststellungsziel des Feststellungsantrags Ziff. 1 zu kurz griffen (Seite 6 des Erweiterungsantrags vom 22.08.2008). Inwieweit diesem Einwand gegen die bisherige Verfahrensweise oder Schwerpunktsetzung im Rahmen des Musterverfahrens nachgegangen wird, muss jedoch dem Oberlandesgericht vorbehalten bleiben.

b. Kein neues eigenständiges Feststellungsziel

Dem Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Kläger vom 22.08.2008 fehlt im Übrigen ein vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 abgrenzbares neues, eigenständiges Feststellungsziel.

Nach dem Wortlaut des gestellten Erweiterungsantrags der Kläger soll festgestellt werden, dass und ggf. ab welchem Zeitpunkt die Befassung des Aufsichtsrats (mit der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, vorzeitig auszuscheiden) selbst als veröffentlichungspflichtige Insiderinformation zu qualifizieren ist. Selbst wenn man davon ausginge, dass beim Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 schwerpunktmäßig die Tatsache oder Absicht des vorzeitigen Ausscheidens des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten (und jedenfalls nicht schwerpunktmäßig die Befassung des Aufsichtsrats) als veröffentlichungspflichtige Insiderinformation zu prüfen ist, erstreckt sich die Formulierung des Feststellungsziels Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses doch auch auf die Befassung des Aufsichtsrats mit dieser Thematik. Wenn aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 festgestellt werden soll, ob und ggf. wann durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden eine Insiderinformation im Sinne des § 37b Abs. 1 WpHG entstanden ist, so ist damit nicht näher eingegrenzt, ob es sich bei dieser Insiderinformation um das vorzeitige Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden (oder um dessen interne Absicht dazu) handelt oder (schon) um die Befassung des Aufsichtsrats als Vorstufe.

3. Fehlende Entscheidungserheblichkeit

Selbst wenn man die Frage nach der Befassung des Aufsichtsrats als ein eigenständiges und als ein neues Feststellungsziel werten müsste, das neben dem Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 im Musterverfahren geprüft werden solle, wäre der Erweiterungsantrag Ziff. 1 vom 22.08.2008 unzulässig. Denn die Einführung eines neuen Feststellungsziels durch Ergänzung des Vorlagebeschlusses würde gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG die Entscheidungserheblichkeit dieses weiteren Feststellungsziels voraussetzen. Daran fehlte es jedoch nach derzeitigem Stand des Verfahrens, soweit es den Klägern nunmehr auf die (zusätzliche) Feststellung ankommt, neben (oder unabhängig von) der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden zum vorzeitigen Ausscheiden sei (auch) die Befassung des Aufsichtsrats mit dieser Absicht seit 17.05.2005 eine gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG veröffentlichungspflichtige Insiderinformation gewesen.

a. Situation bei Fehlen einer einseitigen definitiven Amtsniederlegung

Der BGH hat in der Entscheidung vom 25.02.2008 ausgeführt, dass nur bei gegenseitigem Einvernehmen zwischen dem Gesamtaufsichtsrat und dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten dessen jederzeitiges Ausscheiden als Vorstandsmitglied verbunden mit der Bestellung eines Amtsnachfolgers (am 28.07.2005) ohne weiteres möglich war und (in diesem Fall) eines zustimmenden Beschlusses des Gesamtaufsichtsrats gemäß §§ 108, 84 Abs. 1, 2 AktG bedurfte. Nachdem aus formalen Gründen eine Beschlussfassung in der Aufsichtsratssitzung am 28.07.2005 nicht möglich gewesen wäre, wenn auch nur ein einziges Mitglied des Aufsichtsrats der Beschlussfassung an diesem Tag widersprochen hätte, ließ der BGH ausdrücklich unbeanstandet, dass nach der Würdigung des Oberlandesgerichts Stuttgart in der Entscheidung vom 15.02.2007 ein verständiger Anleger (im Hinblick auf die Frage der notwendigen Wahrscheinlichkeit der Realisierung der Absichten) zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass (bis zur Beschlussfassung an dem Tag) noch offen war, ob der Aufsichtsrat sofort zu einer Entscheidung im Sinne des Vorschlags kommen würde oder ob die Thematik vertagt würde (BGH, Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O., Umdruck Seite 13, Rn. 26).

Steht nach Durchführung des Musterverfahrens durch Musterentscheid des Oberlandesgerichts auf den Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 fest, dass allein durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden seit Mitte Mai 2005, jedenfalls vor dem 28.07.2005 noch keine (hinreichend konkretisierten) tatsächlichen Umstände entstanden sind, die damals bereits die Qualität einer nach § 15 WpHG veröffentlichungspflichtigen Insiderinformation i.S.d. § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG erreichten, dann ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Befassung des Aufsichtsrats mit diesen dann nicht veröffentlichungspflichtigen Absichten hätte gemäß § 15 Abs. 1 WpHG (zuvor) veröffentlicht werden müssen; es würde dann an einer veröffentlichungspflichtigen Insiderinformation und am pflichtwidrigen Unterlassen als Anspruchsvoraussetzungen des § 37 b Abs. 1 WpHG fehlen. Auch aus der Entscheidung des BGH vom 25.02.2008 (a.a.O.), die zum vorliegenden Rechtsstreit ergangen ist, ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass in Erwägung zu ziehen wäre, dass bereits die bloße (abstrakte) Befassung des Aufsichtsrats mit der Thematik als Tatsache (unabhängig vom Konkretisierungsgrad oder der Realisierungswahrscheinlichkeit der Zukunftspläne) hätte veröffentlicht werden müssen.

Die Kläger meinen, dass (allein) die bezeichnete Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden bereits vor der Aufsichtsratssitzung am 28.07.2005 als Insiderinformation anzusehen war (etwa ab einem bestimmten Zeitpunkt der Befassung einzelner Aufsichtsratsmitglieder oder des Gesamtgremiums, z.B. wegen angeblich stillschweigenden Einverständnisses einzelner Mitglieder mit der bevorstehenden personellen Umbesetzung, wie von den Klägern auf Seite 7 ff. des Schriftsatzes vom 22.08.2008 angedeutet). Wird dies vom Oberlandesgericht in einem künftigen Musterentscheid auf den Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 so festgestellt, und wird weiter im Rahmen der Feststellungsziele Ziff. 1 und Ziff. 3 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 festgestellt, dass diese Insiderinformation hätte frühzeitiger veröffentlicht werden müssen als tatsächlich geschehen, dann ist derzeit nicht erkennbar, weshalb es für Ansprüche der Musterkläger gem. § 37 b Abs. 1 S. 1 WpHG noch auf die Frage ankommen sollte, ob neben der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden zum vorzeitigen Ausscheiden auch die Befassung des Aufsichtsrats mit dieser Absicht hätte veröffentlicht werden müssen.

b. Situation bei einseitiger Amtsniederlegung

Zur fehlenden Entscheidungserheblichkeit des Erweiterungsantrags Ziff. 1 vom 22.08.2008 käme man auch, wenn sich im Musterverfahren ergeben sollte, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Beklagten (bereits vor der Aufsichtsratssitzung am 28.07.2005) sein Amt durch einseitige, definitive Erklärung niedergelegt hat. Die Wirksamkeit einer einseitigen Amtsniederlegung würde den Zugang der Erklärung bei einem Aufsichtsratsmitglied voraussetzen, wobei es für das Wirksamwerden nicht darauf ankommt, ob die Amtsniederlegung auf einen wichtigen Grund gestützt wird und ob im konkreten Fall ein wichtiger Grund objektiv vorgelegen hätte (BGH, Urteil vom 08.02.1993 - II ZR 58/92, BGHZ 121, 257 ff.; vgl. auch BGH Urteil vom 14.07.1980 - II ZR 161/79, BGHZ 78, 82 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.02.2007, a.a.O. Rn. 84; wie hier Hüffer, AktG Kommentar, 8. Aufl. München 2008, § 84 Rn. 36). Wäre es im Mai 2005 - wie vom Musterkläger behauptet - zu einer wirksamen einseitigen Amtsniederlegung gekommen, so hätte bereits ab diesem Zeitpunkt eine Insiderinformation vorgelegen, deren unverzügliche Veröffentlichung dann von der Beklagten unterlassen worden wäre (BGH, Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O. Umdruck Seite 9 Rn. 15). Für die Haftung der Beklagten gemäß § 37 b Abs. 1 WpHG wäre dann unerheblich, ob und ggf. wann nach einem etwaigen Zugang der Amtsniederlegungserklärung bei einem Aufsichtsratsmitglied (auch) die übrigen Aufsichtsratsmitglieder damit befasst worden sind.

II. Erweiterungsantrag Ziff. 2 der Kläger

Der Erweiterungsantrag Ziff. 2 vom 22.08.2008 erfüllt mangels Entscheidungserheblichkeit und mangels Sachdienlichkeit, im Übrigen auch wegen Fehlens eines eigenständigen neuen Feststellungsziels nicht die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 KapMuG.

1. Fehlende Entscheidungserheblichkeit und Sachdienlichkeit

Der Erweiterungsantrag Ziff. 2 bezieht sich auf den Grad des Verschuldens bei der - nach Auffassung der Kläger pflichtwidrig unterlassenen - rechtzeitigen Veröffentlichung der in Ziffer 1, also im Erweiterungsantrag Ziff. 1 des Schriftsatzes vom 22.08.2008 bezeichneten Insiderinformation. Nachdem jedoch der Erweiterungsantrag Ziff. 1 aus den genannten Gründen unzulässig ist, fehlt für eine isolierte Vorlage des Erweiterungsantrags Ziff. 2 die Grundlage. Die isolierte Vorlage ist nicht sachdienlich.

Außerdem entspräche das im Antrag genannte Feststellungsziel des mindestens leichtfertigen Unterlassens der Veröffentlichung weder einer anspruchsbegründenden noch einer anspruchsausschließenden Voraussetzung der im Ausgangsverfahrens geltend gemachten Schadensersatzansprüche gemäß § 37 b Abs. 1 WpHG. Auch in § 37 b Abs. 2 WpHG ist nicht von mindestens leichtfertigem Unterlassen die Rede. Vielmehr sind Ansprüche gemäß § 37 b Abs. 2 WpHG ausgeschlossen, wenn der Emittent nachweist, dass die Unterlassung nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruht.

2. Kein weiteres Feststellungsziel

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Begriff der Leichtfertigkeit mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen ist (vgl. Löwisch, in Staudinger, BGB Kommentar, 2004, § 276 Rn. 92 mit Hinweis auf die Verwendung des Begriffs in § 435 HGB), und ob der Erweiterungsantrag Ziff. 2 abweichend vom Wortlaut so verstanden werden soll, dass der Beklagten mindestens grobe Fahrlässigkeit in Bezug auf die in Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses umschriebene unterlassene Veröffentlichung vorzuwerfen sei. Denn selbst wenn der Erweiterungsantrag so ausgelegt werden könnte, fehlte es - mit Blick auf Feststellungsziel Ziff. 6 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 - bei einem modifizierten Erweiterungsantrag Ziff. 2 an einem für die Ergänzung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG erforderlichen weiteren (neuen) Feststellungsziel. Bei pflichtwidrig unterlassener Veröffentlichung der Insiderinformation ergäbe sich bereits aufgrund einer Entscheidung des Oberlandesgerichts zu Feststellungsziel Ziff. 6 des Vorlagebeschlusses, ob sich die Beklagte exkulpieren kann. Die formulierten Feststellungsziele wären im entscheidungserheblichen Umfang materiell identisch, wenn auch das Feststellungsziel Ziff. 6 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 negativ, das Feststellungsziel Ziff. 2 des Erweiterungsantrags positiv formuliert ist. Einer Erweiterung im Sinne von § 13 KapMuG bedarf es nicht.

C. Verfahrensfragen

I. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung

Die Entscheidung über die Zurückweisung des Erweiterungsantrags konnte nach Anhörung der Beklagten (analog § 1 Abs. 2 S. 4 KapMuG) durch Beschluss entsprechend § 13 Abs. 2, Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 3 S. 2 KapMuG ergehen. Einer mündlichen Verhandlung bedurfte es gemäß § 128 Abs. 4 ZPO i.V.m. § 3 Abs. 1 EGZPO nicht, zumal der Erweiterungsantrag erst nach mündlicher Verhandlung im Ausgangsverfahren gestellt wurde (vgl. Kruis, in Hess/Reuschle/Rimmelspacher, Kölner Kommentar a.a.O. § 1 Rn. 252; ebenso LG Frankfurt, Beschluss vom 11.07.2006 - 3/7 OH 1/06, 3-7 OH 1/06, zit. nach Juris, Rn. 23, 24; a.A. Reuschle, Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, S. 31).

II. Keine öffentliche Bekanntmachung

Nachdem die beiden Ergänzungsanträge als unzulässig zurückzuweisen waren, bedarf es keiner öffentlichen Bekanntmachung der gestellten Ergänzungsanträge. Dies wird durch Ziffer 2 des Tenors der Entscheidung lediglich klargestellt.

§ 13 KapMuG schreibt eine vom Prozessgericht veranlasste öffentliche Bekanntmachung des eingegangenen Antrags über die Erweiterung des Vorlagebeschlusses nicht vor. Nach dem Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 KapMuG und nach der Gesetzessystematik dürfte diese Vorschrift jedoch bei Ergänzungsanträgen gemäß § 13 KapMuG entsprechend anzuwenden sein. Allerdings schreibt § 2 Abs. 1 KapMuG eine Veröffentlichung im elektronischen Bundesanzeiger unter der Rubrik Klageregister nur bei zulässigen Musterfeststellungsanträgen vor. Jedenfalls bei unzulässigen Ergänzungsanträgen besteht kein Bedürfnis, die Unterbrechungswirkung des § 3 KapMuG durch Bekanntmachung des Erweiterungsantrags herbeizuführen.






LG Stuttgart:
Beschluss v. 10.09.2008
Az: 21 O 408/05


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/a9288820cbe8/LG-Stuttgart_Beschluss_vom_10-September-2008_Az_21-O-408-05




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