Bundespatentgericht:
Beschluss vom 1. Juni 2006
Aktenzeichen: 5 W (pat) 435/05

(BPatG: Beschluss v. 01.06.2006, Az.: 5 W (pat) 435/05)

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der Gebrauchsmusterabteilung I vom 23. März 2005 aufgehoben.

2. Das Gebrauchsmuster 297 23 696 wird gelöscht.

3. Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

I.

1. Die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin A... GmbH & Co. KG in B..., ist Inhaberin des (Streit-)Gebrauchsmusters 297 23 696, das - durch Abzweigung aus der europäischen Patentanmeldung EP 97 110 531.7 (=EP 0 816 554 A1) und damit verbundener Inanspruchnahme der inneren Prioritäten aus den deutschen Patentanmeldungen 196 25 663.1 vom 26. Juni 1996, 196 35 320.3 vom 30. August 1996 und 196 40 023.6 vom 27. September 1996 - am 26. Juni 1997 angemeldet worden ist und eine

"Vorrichtung zur Verzugskorrektur"

betrifft.

Die Eintragung des Streitgebrauchsmuster mit 16 Schutzansprüchen erfolgte am 18. März 1999.

Der eingetragene Schutzanspruch 1 lautet:

"Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn (11), wobei die Warenbahn (11) aus textilen Materialien, insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken besteht und wobei das Muster durch eine Vielzahl in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt angeordneter Mustereinheiten (23) gebildet wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung folgendes aufweist:

- eine Bilderfassungsvorrichtung (13, 13'), die das auf der Warenbahn (11) erkennbare Muster aufnimmt und Bildsignale erzeugt, insbesondere eine CCD-Kamera;

- eine Bildverarbeitungseinrichtung (15), der die Bildsignale (14) zugeführt werden und in der die Bildsignale (14) unter Erzeugung von Steuersignalen (29) verarbeitet werden; und - eine Bearbeitungssteuereinrichtung (18), in der eine anschließende Bearbeitungsprozedur (16, 17), insbesondere eine Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) eingestellt oder geregelt wird."

Wegen der auf diesen Schutzanspruch 1 rückbezogenen Schutzansprüche 2 bis 16 wird auf die Akte verwiesen.

Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin hat mit Schriftsatz vom 13. Januar 2004 die Löschung des Streitgebrauchsmusters wegen fehlender Schutzfähigkeit des Gebrauchsmustergegenstandes, nämlich mangels Neuheit, mangels erfinderischen Schritts bzw. mangels Ausführbarkeit, beantragt.

Sie nennt in diesem Zusammenhang zum Stand der Technik eine offenkundige Vorbenutzung des Meßsystems "OptoText" der C... GmbH (=Antragstellerin und Beschwerdeführerin) und bezieht sich außerdem auf folgende Druckschriften D1) FR 2 659 899 D2) EP 0 450 259 B1 D3) US 3 193 688 D4) EP 0 311 990 B1 D5) DE 36 39 636 A1 D6) EP 0 554 811 B1 D7) DE 43 12 452 A1.

Die Antragsgegnerin hat dem Löschungsantrag widersprochen und das Streitgebrauchsmuster im eingetragenen Umfang verteidigt.

Die Gebrauchsmusterabteilung I des Deutschen Patent- und Markenamtes hat nach Zwischenbescheid vom 7. Juni 2004 den Löschungsantrag mit Beschluss vom 23. März 2005 zurückgewiesen.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde der Antragstellerin gerichtet.

Sie nimmt in ihrer Beschwerdebegründung auf folgende weitere Unterlagen Bezug:

D15) Gutachten von Prof. Dr. Massen vom 15. September 2005 D16) Prospekt der Fa. Sick "Bildverarbeitungssystem VSI", Nr. 8 005 783.0289 D17) Massen u. a.: "Intelligent Sensor for Noncontact and Nondestructive Measurement of Shrinkage in Knitted and Woven Fabrics". Reprint from Melliand Textilberichte International Textile Reports English Edition, Juni 1985, 2 Bl.

D18) DIN 53 894, Febr. 1979, S. 1, 3 D19) Nickolay u. a.: "Automatische Warenschau", Studie für die Textilindustrie, Juni 1993, Studienteil ca. 120 Seiten, Firmenartikel ca. 90 Seiten Ein Druckexemplar des Prospektes gemäß D16 wurde von der Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung zu den Akten gereicht.

Für das Erscheinungsdatum und die Verteilung des Prospekts bietet sie Zeugenbeweis an.

Die Antragsgegnerin verteidigt das Streitgebrauchsmuster nach Hauptantrag mit den eingetragenen Schutzansprüchen 1 bis 16, hilfsweise im Umfang der in der in der mündlichen Verhandlung überreichten Schutzansprüche 1 bis 16 - Hilfsantrag I, weiter hilfsweise im Umfang der in der in der mündlichen Verhandlung überreichten Schutzansprüche 1 bis 15 - Hilfsantrag II, alternativ hilfsweise im Umfang der in der in der mündlichen Verhandlung überreichten Schutzansprüche 1 bis 15 - Hilfsantrag III, äußerst hilfsweise im Umfang der in der in der mündlichen Verhandlung überreichten Schutzansprüche 1 bis 4 und der weiteren, in der eingetragenen Fassung beibehaltenen Schutzansprüche 5 bis 16 - Hilfsantrag IV.

Im Übrigen bestreitet die Antragsgegnerin das Erscheinungsdatum und die Offenkundigkeit des Prospekts der Fa. Sick (D16) mit Nichtwissen.

Die Schutzansprüche 1 zu den Hilfsanträgen I bis IV lauten wie folgt:

Hilfsantrag I:

"Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn (11), wobei die Warenbahn (11) aus textilen Materialien, insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken besteht und wobei das Muster durch eine Vielzahl in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt angeordneter Mustereinheiten (23) gebildet wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung folgendes aufweist:

- eine Bilderfassungsvorrichtung (13, 13'), die das auf der Warenbahn (11) erkennbare Muster aufnimmt und Bildsignale erzeugt, insbesondere eine CCD-Kamera;

- eine Bildverarbeitungseinrichtung (15), der die Bildsignale (14) zugeführt werden und in der die Bildsignale (14) unter Erzeugung von Steuersignalen (29) verarbeitet werden; und - eine Bearbeitungssteuereinrichtung (18), in der eine anschließende Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) geregelt wird."

Hilfsantrag II:

"Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn (11), wobei die Warenbahn (11) aus textilen Materialien, insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken besteht und wobei das Muster durch eine Vielzahl in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt angeordneter Mustereinheiten (23) gebildet wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung folgendes aufweist:

- eine Bilderfassungsvorrichtung (13, 13'), die das auf der Warenbahn (11) erkennbare Muster aufnimmt und Bildsignale erzeugt, insbesondere eine CCD-Kamera;

- eine Bildverarbeitungseinrichtung (15), der die Bildsignale (14) zugeführt werden und in der die Bildsignale (14) unter Erzeugung von Steuersignalen (29) verarbeitet werden; und - eine Bearbeitungssteuereinrichtung (18), in der eine anschließende Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) geregelt wird, wobei zwei Bilderfassungsvorrichtungen (13, 13', 24, 24') jeweils am Ein- und/oder Auslauf (31, 32) vorgesehen sind, wobei die beiden am Ein- und/oder Auslauf vorgesehenen Bilderfassungsvorrichtungen einen unterschiedlichen Bildausschnitt (30) des Musters aufnehmen."

Hilfsantrag III:

"Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn (11), wobei die Warenbahn (11) aus textilen Materialien, insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken besteht und wobei das Muster durch eine Vielzahl in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt angeordneter Mustereinheiten (23) gebildet wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung folgendes aufweist:

- eine Bilderfassungsvorrichtung (13, 13'), die das auf der Warenbahn (11) erkennbare Muster aufnimmt und Bildsignale erzeugt, insbesondere eine CCD-Kamera;

- eine Bildverarbeitungseinrichtung (15), der die Bildsignale (14) zugeführt werden und in der die Bildsignale (14) unter Erzeugung von Steuersignalen (29) verarbeitet werden; und - eine Bearbeitungssteuereinrichtung (18), in der eine anschließende Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) geregelt wird, wobei die Bildverarbeitungseinrichtung (15) eine Speichereinrichtung zum Speichern von in einem vorhergehenden Schritt zugeführten Informationen (21) über das zu erkennende Muster aufweist."

Hilfsantrag IV:

"Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn (11), wobei die Warenbahn (11) aus textilen Materialien, insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken besteht und wobei das Muster durch eine Vielzahl in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt angeordneter Mustereinheiten (23) gebildet wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung folgendes aufweist:

- eine Bilderfassungsvorrichtung (13, 13'), die einen Ausschnitt des auf der Warenbahn (11) erkennbaren Musters aufnimmt, wobei dieser Ausschnitt die gesamte Breite der Warenbahn überdeckt und Bildsignale erzeugt, insbesondere eine CCD-Kamera;

- eine Bildverarbeitungseinrichtung (15), der die Bildsignale (14) zugeführt werden und in der die Bildsignale (14) unter Erzeugung von Steuersignalen (29) verarbeitet werden; und - eine Bearbeitungssteuereinrichtung (18), in der eine anschließende eine Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) geregelt wird."

Wegen der jeweils rückbezogenen Schutzansprüche wird nochmals auf den Akteninhalt verwiesen.

Die Antragstellerin beantragt, den Beschluss des Deutschen Patent- und Markenamtes vom 23. März 2005 aufzuheben und das Streitgebrauchsmuster zu löschen.

Die Antragsgegnerin stellt den Antrag, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise die Beschwerde im Rahmen der nach Hilfsantrag I bis IV in der mündlichen Verhandlung überreichten Schutzansprüche zurückzuweisen.

Ergänzend bittet die Antragsgegnerin um einen richterlichen Hinweis gemäß § 139 I S. 2 ZPO; falls auch die gestellten Hilfsanträge die Schutzfähigkeit des Streitgebrauchsmusters nach Ansicht des Senats nicht zu begründen vermögen, um Gelegenheit für die Stellung weiterer Hilfsanträge mit anderen Merkmalskombinationen zu erhalten.

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Der geltend gemachte Löschungsgrund aus § 15 Abs. 1 Nr. 1 GebrMG ist gegeben.

1. Die Antragsgegnerin verteidigt das Streitgebrauchsmuster in zulässiger Weise. Die Schutzansprüche in der erteilten Fassung liegen dem Hauptantrag zugrunde. Zu den Hilfsanträgen I bis III gehören Schutzansprüche 1, die durch zulässiges Streichen von Fakultativangaben zu Merkmalen und Zusammenfassungen von Ansprüchen gebildet sind. Der zum Hilfsantrag IV gehörende Schutzanspruch 1 ist durch Aufnahme von Merkmalen aus der Beschreibung des Streitgebrauchsmusters in zulässiger Weise beschränkt worden. Die auf den jeweiligen Schutzanspruch 1 rückbezogenen Schutzansprüche sind inhaltsgleich beibehalten worden und demzufolge ebenfalls zulässig.

2. Das Streitgebrauchsmuster bezieht sich auf eine Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn, wobei die Warenbahn aus textilen Materialien, insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken besteht und wobei das Muster durch eine Vielzahl in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt angeordneter Mustereinheiten gebildet wird.

Nach den Angaben in der Beschreibungseinleitung sind eine Verzugskorrekturvorrichtung und ein entsprechendes Verfahren bekannt, bei dem zur Verzugskorrektur die Lage der Kett- und Schussfäden erfasst wird. Diese Art der Verzugskorrektur wird insoweit als problematisch geschildert, da hierbei der optische Eindruck von auf der Warenbahn befindlichen Mustereinheiten nicht berücksichtigt werde.

Vor diesem Hintergrund wird die dem Gegenstand des Streitgebrauchsmusters zugrundeliegende Aufgabe darin gesehen, eine schnellere, zuverlässigere und kostengünstigere Bearbeitung einer mit einem Muster versehenen Warenbahn zu ermöglichen.

Die hierzu im eingetragenen Schutzanspruch 1 angegebene Lösung lässt sich (in Anlehnung an die Merkmalsanalyse der Antragsstellerin im Gutachten gemäß D15, Seite 16) wie folgt gliedern:

1. Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit einem Muster bedruckten oder anderweitig mit optisch erkennbaren Mustern versehenen Warenbahn (11), 2. wobei die Warenbahn (11) aus textilen Materialien besteht, 2.1 insbesondere Geweben, Gewirken oder Gestricken 3. und wobei das Muster durch eine Vielzahl von Mustereinheiten (23) gebildet wird 3.1 und wobei die Mustereinheiten in einer Längsrichtung zur Warenbahn nacheinander wiederholt werden, 4. die Vorrichtung weist eine Bilderfassungsvorrichtung (13, 13') auf, 5. insbesondere eine CCD-Kamera 5.1 die Bilderfassungsvorrichtung nimmt das auf der Warenbahn (11) erkennbare Muster auf und 5.2 erzeugt Bildsignale, 6. die Vorrichtung weist eine Bildverarbeitungseinrichtung (15) auf 6.1 der die Bildsignale (14) zugeführt werden und 6.2 in der die Bildsignale (14) unter Erzeugung von Steuersignalen (29) verarbeitet werden;

7. die Vorrichtung weist eine Bearbeitungssteuereinrichtung (18) auf, 7.1 in der eine anschließende Bearbeitungsprozudur (16, 17), 7.2 insbesondere eine Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, 7.3 der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) eingestellt oder geregelt wird.

Die technische Lehre des Schutzanspruchs 1 ist für den Fachmann, einen Textilingenieur mit mehrjähriger praktischer Tätigkeit, der in Fragen der Mustererkennung durch einen einschlägig berufserfahrenen Informatiker mit Hochschulausbildung beraten wird, nachvollziehbar. Hierbei ist zu beachten, dass die fakultativen Merkmale 2.1, 5 und 7.2 nicht zwingend zur beanspruchten Lehre gehören. Hinweise bezüglich der im Schutzanspruch 1 offen gelassenen Ausgestaltung der Bilderfassungsvorrichtung (Zahl der Einzelköpfe und deren Anordnung) lassen sich der Beschreibung entnehmen. Die zur Gewinnung der Steuersignale (Merkmal 6.2) neben den Bildsignalen (Merkmale 4, 5.1, 5.2) zusätzlich einsetzbaren Signale bzw. Informationen sind ebenfalls in der Beschreibung (S. 9, 2. Abs.) angegeben.

3. Der Gegenstand des Schutzanspruchs 1 nach Hauptantrag ist nicht schutzfähig.

Der nächstkommende Stand der Technik geht aus dem Prospekt der Fa. Sick gemäß D16 hervor. Bei einem solchen Prospekt ist nach der Rechtsprechung des BPatG (vgl. BPatGE 38, 206 m. w. N.) von seiner alsbaldigen Verteilung an interessierte Kunden auszugehen, sofern nicht entgegenstehende Anhaltspunkte (z. B. eine überraschende Einstellung der Produktion oder wesentliche Veränderungen des Produkts, vgl. BPatG, BlfPMZ 1991, 349, insbes. S. 351, li. Sp., 2. Abs.) einen vom gewöhnlichen Verlauf abweichenden Gang der Geschehnisse nahelegen. D16 umfasst 2 doppelseitig bedruckte Blätter und enthält auf der letzten Seite (S. 4) den Hinweis "Änderungen vorbehalten", ferner diverse Adressen von Niederlassungen der Fa. Sick, darunter sechs in deutschen Städten, und den Druckvermerk "8 005 783.0289". Die letzten 4 Ziffern dieses Vermerks lassen auf das Druckdatum "Februar 1989" schließen. Dass der Druck des besagten Prospektes auf jeden Fall vor 1994 erfolgt ist, geht aus der noch 4-stelligen Postleitzahl der deutschen Vertretungen der Fa. Sick hervor, da ab 1994 5-stellige Postleitzahlen in Deutschland verwendet wurden. Es ist somit davon auszugehen, dass Druck und beginnende Verteilung des Prospektes nach D16 in zeitlicher Nachbarschaft zum mutmaßlichen Druckdatum "Februar 1989", zumindest jedoch vor dem Jahr 1994 erfolgt sind. Der aufgedruckte Hinweis "Änderungen vorbehalten" belegt, dass die den in Rede stehenden Prospekt herausgebende Fa. Sick auch nach dessen Druck weiterhin aktiv war, so dass der gewöhnliche Verlauf in Verbindung mit der Erstellung und Verteilung von Firmenprospekten anzunehmen ist, d.h. im konkreten Fall, dass der Prospekt gemäß D16 vor 1996 und somit vor dem für die Prioritäten des Streitgebrauchsmusters relevanten Jahr der Öffentlichkeit ohne Einschränkung zugänglich war. Dieser Prospekt ist auch als eigenständiger Stand der Technik zu betrachten (vergl. Busse, PatG, 6. Aufl., § 3 Rdn. 5 GebrMG i. V. m. § 3 Rdn. 26 PatG), so dass bereits aus diesem Grund die von der Antragsgegnerin geltend gemachte Einschränkung des Offenbarungsgehaltes dieses Prospektes durch ED 11 (Betriebsanleitung "VIDEO SHRINK INSPECTOR" der Fa. Sick, Stand 11. Mai 1989) nur auf die Messtechnik, d. h. ohne Nutzung einer aus den Messwerten gebildeten Steuergröße für den Produktionsvorgang, nicht gegeben ist. Im Übrigen wird in der besagten Betriebsanleitung gemäß ED 11 auch auf die Ermittlung einer Stellgröße für die direkte Prozesssteuerung (S. 5) und auf die Ausregelung der gesamten Ausrüst- oder Produktionsstraße (S. 6) Bezug genommen, so dass neben der Mustererfassung auch entsprechende Eingriffe in die Produktion der Betriebsanleitung gemäß ED 11 zu entnehmen sind.

Auf Grund dieser Überlegungen ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der Prospekt vor dem maßgeblichen Prioritätstag an interessierte Kunden verteilt wurde. Die Angaben der Antragsgegnerin - angebliches unseriöses Verhalten der Fa. Sick in früheren Auseinandersetzungen - vermochten nach Ansicht des Senats einen vom gewöhnlichen Verlauf abweichenden Gang der Geschehnisse nicht nahezulegen, so dass auf die Einholung des angebotenen Zeugenbeweises verzichtet werden konnte.

Das in D16 beschriebene Bildverarbeitungssystem VSI ist nach den Angaben auf dem Deckblatt (S. 1) und dem nachfolgenden Blatt (S: 2), li. Sp., für eine "Sichere Produktionskontrolle" bei textilen, regelmäßig strukturierten Oberflächen einsetzbar. Unter diese Charakterisierung fallen auch aus textilen Materialien bestehende Warenbahnen, deren Muster durch eine Vielzahl von Mustereinheiten gebildet sind.

Somit zeigt D16 zunächst eine Vorrichtung zur Bearbeitung einer mit Mustern versehenen Warenbahn nach den Merkmalen 1, 2 und 3 des Schutzanspruchs 1 gemäß Hauptantrag. Bei der auf der nachfolgenden Prospektseite (S. 3) in der unteren Figur dargestellten Vorrichtung zur Bearbeitung solcher Warenbahnen ist eine aus zwei Optikköpfen bestehende und Bildsignale abgebende Bilderfassungseinrichtung zur Messwertaufnahme, d.h. zur Mustererfassung, vorgesehen, so dass bei der Vorrichtung gemäß D16 auch die Merkmale 4, 5.1 und 5.2 realisiert sind. Die Bildsignale werden einem Prozessor zugeführt und zur Erzeugung einer Regelgröße verwendet. Dieser Prozessor erfüllt demnach die Funktion der Bildverarbeitungseinrichtung entsprechend den Merkmalen 6, 6.1 und 6.2. Die besagte Regelgröße dient der Beeinflussung eines Bearbeitungsprozesses und wird hierzu der entsprechenden Steuerung zugeführt (S. 3, le. Abs., untere Figur), so dass bei der bekannten Vorrichtung auch die Merkmale 7, 7.1 und 7.3 gegeben sind. Nachdem die fakultativen Merkmale 2.1, 5 und 7.2, wie bereits erwähnt, nicht zu berücksichtigen sind, unterscheidet sich die Vorrichtung nach Schutzanspruch 1 des Streitgebrauchsmusters von jener gemäß D16 lediglich durch die in Merkmal 3.1 konkret angegebene Wiederholung der Mustereinheiten in Längsrichtung zur Warenbahn. Hierzu ist in Kenntnis von D16 kein erfinderischer Schritt erforderlich, da bei der dortigen Vorrichtung bereits auf eine regelmäßige Strukturierung textiler Oberflächen, d. h auf die Wiederholung von Mustereinheiten, Bezug genommen wird.

Der Gegenstand des Schutzanspruchs 1 nach Hauptantrag ist somit nicht schutzfähig.

4. Die Gegenstände der Schutzansprüche 1 nach den Hilfsanträgen I bis IV sind ebenfalls nicht schutzfähig.

4.1 Hilfsantrag 1 Der Schutzanspruch 1 nach Hilfsantrag I unterscheidet sich in den Merkmalen 7.1 bis 7.3 von der Fassung nach Hauptantrag durch Streichungen, die nachfolgend durch Fettdruck und Schrägstriche kenntlich gemacht sind:

7.1 in der eine anschließende / Bearbeitungsprozudur (16, 17), 7.2 insbesondere eine / Verzugskorrektur (Richten) oder ein Rapportentsprechendes Bearbeiten, 7.3 der Warenbahn (11) entsprechend den Steuersignalen (29) /eingestellt oder/geregelt wird.

In D16 wird auf S. 2, li. Sp. auf die Produktionskontrolle u. a. bezüglich Längs- und Querverzug bei den zu produzierenden textilen Oberflächen hingewiesen, wobei steuernd (vergl. S. 2, re. Sp. 1. Abs.) oder regelnd (vergl. S. 3, Textteil zu der unteren Figur) in den Produktionsablauf eingegriffen werden kann. Hierbei stellt die Korrektur des Längsverzugs ein Rapportentsprechendes Bearbeiten dar. Folglich sind die durch die Änderungen in den Merkmalen 7.1 bis 7.3 angegebenen Maßnahmen durch D16 nahegelegt und der Gegenstand des Schutzanspruchs 1 nach Hilfsantrag I nicht schutzfähig.

4.2. Hilfsantrag II Der Schutzanspruch 1 nach Hilfsantrag II unterscheidet sich von der Fassung nach Hilfsantrag I durch Anfügung des Merkmals 8. wobei zwei Bilderfassungsvorrichtungen (13, 13', 24, 24') jeweils am Ein- und/oder Auslauf (31, 32) vorgesehen sind, wobei die beiden am Ein- und/oder Auslauf vorgesehenen Bilderfassungsvorrichtungen einen unterschiedlichen Bildausschnitt (30) des Musters aufnehmen.

Nach D16, S. 2, mittl. Spalte und S. 3, 1. Abs. können bis zu 4 Bilderfassungseinrichtungen in Gestalt von Optikköpfen eingesetzt werden. Die Verteilung dieser Optikköpfe auf den Ein- und/oder Auslauf der Bearbeitungsvorrichtung und die Ausrichtung der Optikköpfe auf unterschiedliche Bildausschnitte ergibt sich für den Fachmann aus dem Kontrollziel und der gewählten Bearbeitungsprozedur. Ist eine Warenbahn auf Verzug zu kontrollieren (S. 2, li. Sp. 1. Abs.), so sind die optisch erfassten Bildausschnitte so zu wählen, dass der entsprechende Verzug festgestellt werden kann. Ob nur jeweils auf einer Seite der Bearbeitungsvorrichtung (d. h. Ein- oder/Auslauf) oder auf beiden Seiten (Ein- und Auslauf) Optikköpfe angebracht werden, hängt von der Art der Messung ab. Bei Einsatz der Soll/Ist-Messung ist nur der Ein- oder Auslauf mit Optikköpfen zu bestücken, da bei der Bildung der Stell- bzw. Regelgröße die von den Optikköpfen abgegebenen Bilder und gespeicherte Referenzwerte herangezogen werden. Für die Ist/Ist-Messung werden hierfür die Bilder der ein- und auslaufseitigen Optikköpfe verwendet (S. 3, Textspalte). Auch die Vorgehensweise nach Merkmal 8 wird dem Fachmann aus den eben genannten Gründen durch D16 nahegelegt. Folglich ermangelt auch der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag II des erfinderischen Schritts und ist demzufolge nicht schutzfähig.

4.3. Hilfsantrag III Der Schutzanspruch 1 nach Hilfsantrag III unterscheidet sich von der Fassung nach Hilfsantrag I durch Anfügung des Merkmals 8. wobei die Bildverarbeitungseinrichtung (15) eine Speichereinrichtung zum Speichern von in einem vorhergehenden Schritt zugeführten Informationen (21) über das zu erkennende Muster aufweist.

Eine diesem Merkmal entsprechende Vorgehensweise ist bereits aus D16 bekannt, da auch bei der dortigen Vorrichtung "einmal festgelegte Messparameter", d. h. Informationen über das Muster einer zu bearbeitenden Warenbahn gespeichert werden können (S. 2, re. Sp. 4. Abs.). Somit ist auch der Gegenstand des Schutzanspruchs 1 nach Hilfsantrag III mangels erfinderischen Schrittes nicht schutzfähig.

4.4. Hilfsantrag IV Die Änderung des Schutzanspruchs 1 nach Hilfsantrag IV gegenüber der Anspruchsfassung nach Hilfsantrag I lässt sich durch die nachfolgende Umformulierung des Merkmals 5.1 wiedergeben:

5.1 die Bilderfassungseinrichtung nimmt einen Ausschnitt des auf der Warenbahn erkennbaren Musters auf, wobei dieser Ausschnitt die gesamte Breite der Warenbahn überdeckt.

In D16 ist, wie bereits erwähnt, die Kontrolle auf Längs- und Querverzug angesprochen (vergl. S. 2, li. Sp. 1. Abs.). Hierbei wird der Fachmann die von der Bilderfassungseinrichtung (mit gegebenenfalls mehreren Optikköpfen) aufzunehmenden Ausschnitte nach Länge und Breite so dimensionieren, dass der nachfolgende steuernde Eingriff in den Produktionsablauf den bestmöglichen Erfolg zeigt. Der Fachmann wird hierbei im Bedarfsfall auch die gesamte Warenbahnbreite von der Bilderfassungseinrichtung aufnehmen lassen. Erfinderisches Handeln ist hierfür in Kenntnis von D16 nicht erforderlich. Demnach beruht auch der Gegenstand des Schutzanspruchs nach Hilfsantrag IV nicht auf einem erfinderischen Schritt und ist demzufolge nicht schutzfähig.

Da der Senat keine Möglichkeit gesehen hat, die Schutzfähigkeit des Streitgebrauchsmusters durch eine weitere Anspruchsfassung zu begründen, bestand für den erbetenen Hinweis gemäß § 139 I. S. 2 ZPO keine Veranlassung.

5. Es wurde weder geltend gemacht noch war für den Senat erkennbar, dass den jeweils rückbezogenen Schutzansprüchen nach Haupt- und Hilfsanträgen ein erfinderischer Eigengehalt zukommt. Diese rückbezogenen Schutzansprüche fallen somit mit den jeweiligen Hauptansprüchen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 18 Abs. 2 GebrMG i. V. m. § 84 Abs. 2 PatG, § 91 Abs. 1 ZPO. Die Billigkeit erfordert keine andere Entscheidung.






BPatG:
Beschluss v. 01.06.2006
Az: 5 W (pat) 435/05


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