Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 26. September 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 1426/01

Tenor

1. Der Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. Juli 2001 - L 5 B 145/98 ER - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

2. Auf Antrag der Beschwerdeführerin wird bis zur erneuten Entscheidung des Landessozialgerichts die aufschiebende Wirkung der zum Sozialgericht Hamburg gegen den Bescheid des Landesarbeitsamts Nord vom 12. Januar 1998 - IIIc3-7442-Zl. 1/98 - in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Dezember 1998 - IIIc2-9033-W 12/98 - erhobenen Klage - S 13 AL 5/99 - angeordnet.

3. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2 und 3 wird nicht zur Entscheidung angenommen. Damit erledigt sich zugleich ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

4. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren auf 15.000 DM (in Worten: fünfzehntausend Deutsche Mark) und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 8.000 DM (in Worten: achttausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes.

I.

1. Der Beschwerdeführerin wurde vom Landesarbeitsamt Nord unter Androhung eines Zwangsgeldes von 2.000 DM untersagt, Pflegekräfte an Pflegeeinrichtungen zu verleihen, weil ihr die Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung nach Art. 1 § 1 des Gesetzes zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung fehle. Ihr Antrag, die aufschiebende Wirkung der gegen den Widerspruchsbescheid erhobenen Klage anzuordnen, hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht Hamburg führte in der durch die Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung aus, es könne dahingestellt bleiben, ob der Beschwerdeführerin ohne vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, die eine Entscheidung in der Hauptsache nachträglich nicht mehr beseitigen könne. Nach dem Ergebnis der gebotenen summarischen Prüfung spreche gegenwärtig mehr gegen als für einen Erfolg im Hauptsacheverfahren. Die Weisungsgebundenheit der Pflegekräfte gegenüber den Pflegeeinrichtungen sei ein starkes Indiz dafür, dass sie nicht einer selbständigen Tätigkeit, sondern einer abhängigen Beschäftigung als Arbeitnehmer nachgingen. Sollten die Pflegekräfte die Freiheit haben, die ihnen angebotene Tätigkeit anzunehmen oder abzulehnen, nehme die Beschwerdeführerin jedenfalls unerlaubte Arbeitsvermittlung wahr.

2. Die Beschwerdeführerin und deren Gesellschafter, die Beschwerdeführer zu 2 und 3, rügen mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips sowie der Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Sie beantragen, im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Die Beschwerdeführer zu 2 und 3 machen darüber hinaus einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG geltend.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat der Senatorin für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Freien und Hansestadt Hamburg und der Gegnerin des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Senatorin hat sich zur Dauer des Hauptsacheverfahrens geäußert. Die Gegnerin des Ausgangsverfahrens hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2 und 3 ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie ist unzulässig erhoben. Die Beschwerdeführer zu 2 und 3 waren am Ausgangsverfahren nicht beteiligt und sind nicht Adressat der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung.

2. Die Kammer nimmt hingegen die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung ihres Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 79, 69 <74>; 93, 1 <13>; 51, 268 <284 ff.>).

a) Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Ihr steht nicht der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) entgegen. Dieser Grundsatz fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinn hinaus die ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine drohende Grundrechtsbeeinträchtigung zu verhindern oder eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverstöße zu erwirken (vgl. BVerfGE 81, 22 <27> m.w.N.). Für Entscheidungen in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes folgt daraus, dass der Rechtsweg in der Hauptsache auszuschöpfen ist, sofern das Hauptsacheverfahren eine ausreichende Möglichkeit bietet, dem behaupteten Verfassungsverstoß abzuhelfen (vgl. BVerfGE 86, 15 <22>). Das ist hier aber nicht der Fall. Die Beschwerdeführerin sieht gerade in der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes eine Grundrechtsverletzung; eine Abhilfe durch das Hauptsacheverfahren kommt nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 79, 69 <73> m.w.N.). Die mit der Untersagung der angenommenen Arbeitnehmerüberlassung verbundenen Nachteile können durch die spätere Hauptsacheentscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Der Beschluss des Landessozialgerichts verletzt die Beschwerdeführerin wegen einer unvollständigen Interessenabwägung in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

aa) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; stRspr). Der in dieser Vorschrift verbürgte Anspruch auf eine umfassende und wirksame gerichtliche Kontrolle in allen bestehenden Instanzen hat gerade in Eilverfahren erhebliche Bedeutung. Insofern kommt dem gerichtlichen Rechtsschutz namentlich hier die Aufgabe zu, irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren abschließenden gerichtlichen Überprüfung entstehen können, soweit als möglich auszuschließen und der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen vorzubeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sie sich im Nachhinein als rechtswidrig erweisen (vgl. BVerfGE 93, 1 <13>; stRspr). Zwar garantiert Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es vielmehr rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfGE 65, 1 <70 f.> m.w.N.). Sowohl bei Anfechtungs- als auch bei Vornahmesachen ist vorläufiger Rechtsschutz aber dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 <74> m.w.N.). Aus diesem Grund hat das Gericht regelmäßig eine Abwägung zwischen dem Interesse der öffentlichen Gewalt am Vollzug ihrer Entscheidungen und dem privaten Interesse des Betroffenen an einem Vollzugsaufschub bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren vorzunehmen (vgl. BVerfGE 53, 30 <67>; 51, 268 <286>; BVerfG, NVwZ-RR 1991, S. 365).

bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht. Das Landessozialgericht verkennt die Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 GG, indem es seine Entscheidung nach summarischer Prüfung allein auf das wahrscheinliche Fehlen eines Anordnungsanspruchs stützt, ohne sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob die Anordnung der aufschiebenden Wirkung geboten ist, um den Eintritt schwerer und unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteile zu vermeiden. Von Verfassungs wegen ist es zwar nicht zu beanstanden, wenn die Gerichte bei der Interessenabwägung die Erfolgsaussichten der Hauptsache berücksichtigen. Die summarische Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs ersetzt aber nicht die Feststellung, ob das Individualinteresse aus anderen dargelegten oder offenkundigen Gründen Vorrang vor dem Gemeinwohlinteresse genießt (vgl. BVerfG, NVwZ-RR 1999, S. 217 <218>; BVerfG, NVwZ 1996, S. 58 <60>).

Auf den Vortrag der Beschwerdeführerin, die Untersagungsverfügung wirke sich existenzvernichtend aus, ist das Landessozialgericht nicht eingegangen. Es hat sich vielmehr darauf beschränkt, das Vorliegen eines Anordnungsgrundes offen zu lassen. Damit hat es der Beschwerdeführerin effektiven Rechtsschutz verweigert. Dabei fällt vor allem ins Gewicht, dass das Landessozialgericht nicht von einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 <67>) der Untersagungsverfügung ausgeht, ihm vielmehr ein Unterliegen der Beschwerdeführerin im Hauptsacheverfahren lediglich wahrscheinlicher erscheint, und die beanstandete Tätigkeit im Zweifel als unerlaubte Arbeitsvermittlung qualifiziert, deren Untersagung jedoch nicht Gegenstand des im Hauptsacheverfahren angefochtenen Bescheids ist.

Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß und ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Auf die weiteren erhobenen Rügen kommt es danach nicht mehr an.

Da die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses noch nicht zur aufschiebenden Wirkung führt, war diese bis zur erneuten Entscheidung des Landessozialgerichts anzuordnen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit dem vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.






BVerfG:
Beschluss v. 26.09.2001
Az: 1 BvR 1426/01


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