Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen:
Beschluss vom 10. Februar 2014
Aktenzeichen: 13 E 494/12.T

(OVG Nordrhein-Westfalen: Beschluss v. 10.02.2014, Az.: 13 E 494/12.T)

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Berufsgerichts für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Köln vom 7. November 2011 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Rüge der Antragsgegnerin vom 9. Mai 2011 wegen Verletzung der Dokumentationspflicht sowie des Abstinenzgebots und das Ordnungsgeld in Höhe von 500 Euro aufrechterhalten bleiben.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.

Die 1976 geborene Antragstellerin ist als approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin tätig. Vom ...2009 bis zum ...2010 war die 1994 geborene M. I. bei ihr in therapeutischer Behandlung. Sie litt an ADS, einer Störung des Sozialverhaltens und der emotionalen Entwicklung, einer Lese- und Rechtschreibstörung sowie Konzentrationsproblemen. Vor Beginn und während der Therapie fanden auch Elterngespräche statt.

Die Mutter der Patientin, die seit dem 1. Januar 2008 in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis als Sekretärin für die Antragstellerin tätig war, hatte die Behandlung erbeten, die sodann im Einvernehmen von Tochter und Eltern durch die Antragstellerin durchgeführt wurde. Zum 30. November 2009 kündigte die Antragstellerin das Arbeitsverhältnis mit der Mutter. Aufgrund streitiger Lohnansprüche und wegen des Arbeitszeugnisses kam es zu einem arbeitsrechtlichen Rechtsstreit. Am 26. Januar 2010 wurde der Antragstellerin die Klage zugestellt, mit Schreiben vom 28. Januar 2010 teilte sie der Mutter von M. I. mit, dass sie die Therapie beenden müsse. Aufgrund des derzeitigen Konflikts zwischen den Eltern der Patientin und ihr sei keine Basis für ein tragfähiges Arbeitsbündnis gegeben. Es bestehe keine Möglichkeit, die notwendigen und für die Eltern auch bei der Krankenkasse beantragten Bezugspersonenstunden innerhalb der Therapie im für alle Beteiligten wertfreien und neutralen Rahmen durchzuführen. Die Grundlage für eine effektive Therapie, eine gute Beziehung zum Familiensystem, sei gestört. Eine Weiterbehandlung sei zum Beispiel in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz in H. oder in N. möglich.

Mit Schreiben vom 26. Februar 2010 erhob der Vater der Patientin bei der Antragsgegnerin "Förmliche Aufsichtsbeschwerde". Er rügte im Wesentlichen, die Antragstellerin habe die Behandlung seiner Tochter rechtswidrig abgebrochen. Ferner verlangte er Einsicht in die Behandlungsdokumentation. Mit Schreiben vom 27. Dezember 2010 beschwerte er sich beim Ministerium über die Untätigkeit der Antragsgegnerin. Daraufhin wies diese ihn mit Schreiben vom 11. Januar 2011 darauf hin, dass eine Beschwerde nur durch die Tochter erhoben werden könne. Mit Schreiben vom 15. Januar 2011 wiederholte M. I. die Beschwerde gegen die Antragstellerin, rügte den Abbruch der Therapie und verwies auf das frühere Schreiben des Vaters.

Unter dem 24. Februar 2011 gab die Antragsgegnerin der Antragstellerin Gelegenheit, zu der Beschwerde Stellung zu nehmen und wies dabei auf mögliche Verstöße gegen §§ 5 Abs. 3 Satz 3, 6 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 und Abs. 6 sowie § 3 Abs. 1 BO hin. In ihrer Stellungnahme vom 14. März 2011 führte die Antragstellerin aus, sie habe zunächst versucht, den arbeitsrechtlichen Konflikt mit der Mutter und dem als Sprachrohr auftretenden Vater von der Therapie zu trennen. Nach Erhalt der Klageschrift sei dies allerdings nicht mehr möglich gewesen, so dass sie sich entschlossen habe, die Therapie zu beenden. Dies habe sie auch der Beschwerdeführerin ausführlich erklärt. Insbesondere habe sie mit ihr erörtert, dass für eine optimale Therapie im Laufe der Zeit auch Elterngespräche notwendig seien, für die nun keine neutrale Grundlage mehr bestehe. Die Patientin habe etwas bedrückt gewirkt, ihres Erachtens die Entscheidung jedoch akzeptiert. Über den Therapiestand von M. habe aufgrund der Beschäftigung der Mutter in ihrer Praxis stets die Möglichkeit des Austausches bestanden, was auch bis zur ersten Krankschreibung von Frau I. am 3. September 2009 zeitweise formlos genutzt worden sei. Auch habe Frau I. bis zu diesem Zeitpunkt stets in die vollständige Akte Einsicht nehmen können.

Unter dem 9. Mai 2011 erteilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin aufgrund eines entsprechenden Vorstandsbeschlusses gemäß § 58a Abs. 1 HeilBerG eine Rüge und verhängte ein Ordnungsgeld in Höhe von 2.500 Euro. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Durch die Aufnahme der Therapie der Beschwerdeführerin unter Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses zur Mutter habe sie gegen §§ 6 Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 4, Abs. 6 BO verstoßen. Die Beschäftigung der Mutter sei eine entgeltliche Dienstleistung im Sinne einer Vorteilnahme gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 BO. Durch die fortbestehende Beschäftigung der Mutter seien außertherapeutische Kontakte nicht im Sinne des § 6 Abs. 4 BO auf das Nötige beschränkt und so gestaltet worden, dass eine therapeutische Beziehung möglichst wenig gestört werde. Vielmehr habe dies dazu geführt, dass letztlich die Therapie sogar abgebrochen werden musste. Des Weiteren habe sie die ihr nach § 8 Abs. 1 Satz 1 BO obliegende Schweigepflicht verletzt, indem sie der Mutter Einsicht in die Behandlungsakte der Beschwerdeführerin gewährt habe. Schließlich würden die eingereichten Behandlungsunterlagen nicht der Dokumentationspflicht des § 9 Abs. 1 BO gerecht, da keine Fallkonzeptualisierungen vorlägen.

Auf den Antrag der Antragstellerin, die ihr erteilte Rüge aufzuheben, hat das Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Köln - Berufsgericht - durch Beschluss vom 7. November 2011 das mit der Rüge verhängte Ordnungsgeld insoweit aufgehoben, als es einen Betrag von 500 Euro übersteigt und den Antrag auf gerichtliche Nachprüfung im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Antragstellerin habe gegen § 9 BO verstoßen, weil sie keine Fallkonzeptualisierung für M. I. erstellt habe. Insoweit sei die Antragstellerin durch eine Rüge mit einem maßvollen Ordnungsgeld in Höhe von 500 Euro zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten. Die übrigen mit der Rüge zur Last gelegten Verstöße lägen nicht vor. Die Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses mit der Mutter sei keine Vorteilnahme im Sinne des § 6 Abs. 3 BO, weil die Mutter nicht in einer Nötigungssituation eine Dienstleistung für die psychotherapeutische Behandlung geleistet habe. Die Aufnahme der Behandlung der Tochter unter Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses mit der Mutter verstoße auch nicht gegen § 6 Abs. 4 BO. Der Kernbereich des Abstinenzgebots sei das in § 6 Abs. 5 BO geregelte Verbot sexueller Kontakte. Was darüber hinaus als berufsrechtlicher Verstoß gegen das Abstinenzgebot zu gelten habe, sei im Einzelfall unter Abwägung der Gesamtumstände zu prüfen, wobei das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG zu berücksichtigen sei. Aus dem bloßen zeitlichen Nebeneinander des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses mit der Mutter und der Behandlung der Tochter folge kein Berufsrechtsverstoß. Es könne durchaus ein berechtigtes Interesse einer Mutter bestehen, die behandlungsbedürftige Tochter in die Behandlung ihrer Chefin zu geben, der sie vertraue. Soweit der psychische Konflikt nicht aus dem Verhältnis zu den Eltern stamme, sei weder hiergegen noch gegen die Einbindung der Eltern in die Therapie etwas einzuwenden. Hier habe die Antragsgegnerin nicht dargetan, dass aufgrund der erhobenen Diagnosen die Tatsache, dass es sich um die Tochter einer Angestellten handelte, der fachgerechten Durchführung der Behandlung abträglich gewesen wäre. Auch die Patientin und ihre Eltern hätten keine entsprechenden Beschwerden erhoben, sondern vielmehr gerügt, dass die Behandlung beendet worden sei. Das Abstinenzgebot müsse schon mit Blick darauf, dass es in § 6 Abs. 6 BO auf alle nahestehenden Personen erstreckt werde, einschränkend ausgelegt werden. Sonst könne der Personenkreis - bedingt durch Schule, Verein etc. - ein beträchtliches Ausmaß annehmen und gerade in kleinen Gemeinden zu einer empfindlichen Einschränkung der Berufsausübung führen. Schließlich habe die Antragstellerin nicht gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen, weil die einwilligungsfähige M. I. sie konkludent davon entbunden habe.

Die Antragsgegnerin hat gegen den am 23. November 2011 zugestellten Beschluss am 3. Mai 2012 Beschwerde erhoben, die sie auf die Feststellungen des Berufsgerichts zu den Verstößen gegen das Abstinenzgebot und die Schweigepflicht beschränkt hat. Zur Begründung führt sie aus: Aus der angegriffenen Entscheidung ergebe sich ein unzutreffendes, zu enges Verständnis des im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung essentiell wichtigen Abstinenzgebots. Maßgeblich müsse sein, ob der Therapieerfolg und die psychische Gesundheit des Patienten gefährdet werde. Weiter müsse die Rolle in den Blick genommen werden, die die Eltern als Bezugspersonen im Rahmen der Psychotherapie des Kindes spielten. Hier seien zwangsläufig vielfache, ausgedehnte außertherapeutische Kontakte zur Mutter voraussehbar gewesen; negative Auswirkungen auf die Therapeuten-Patienten-Beziehung seien deshalb dringend zu befürchten gewesen. Diese Annahmen würden bestätigt durch die übersandte sachverständige Stellungnahme des Prof. Dr. E. , Uniklinik L. , Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, vom 5. Juni 2012. Dass der psychische Konflikt, wie das Berufsgericht ausgeführt habe, gerade nicht aus dem Verhältnis zu den Eltern stamme, rechtfertige keine andere Betrachtung. Zum Zeitpunkt der Entscheidung, ob die Behandlung aufgenommen werde, sei nicht absehbar, welche Rolle die Eltern bei der psychischen Störung spielten. Zudem habe die Antragstellerin hier die Einbeziehung der Eltern in die Therapie für erforderlich gehalten, was voraussetze, dass die Bezugspersonen auf die neurotische Störung des Kindes einen bestimmten Einfluss hätten. Es liege auch ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 BO vor, da die Patientin die Antragstellerin nicht konkludent von ihrer Schweigepflicht entbunden habe. Sie habe angesichts der berufs- und strafrechtlichen Vorgaben zur Schweigepflicht davon ausgehen dürfen, dass die Antragstellerin sicherstelle, dass eine Einsicht ihrer Mutter in die Behandlungsunterlagen nicht möglich sei. Zudem habe die Antragstellerin der Patientin suggeriert, dass ein vor der Kenntnisnahme durch die Eltern geschützter Bereich bestehe, indem sie mit der Patientin besprochen habe, was im Rahmen der Elternsitzungen thematisiert werden dürfe.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Berufsgerichts für Heilberufe vom 7. November 2011 aufzuheben, soweit das Gericht Verstöße gegen § 6 Abs. 4 i.V.m. Abs. 6 sowie § 8 Abs. 1 Satz 1 BO verneint, und den Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Nachprüfung insoweit zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus: Die Antragsgegnerin habe ihr Beschwerderecht verwirkt. Sie habe erst am 3. Mai 2012 und damit mehr als fünf Monate nach Zustellung des erstinstanzlichen Beschlusses am 23. November 2011 Beschwerde erhoben, obwohl sie bereits unmittelbar nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses einen entsprechenden Vorstandsbeschluss gefasst habe. Zudem habe das Berufsgericht sie unter Hinweis auf die Rechtskraft des Beschlusses mit Schreiben vom 5. März 2012 zur Zahlung von Verfahrensgebühren aufgefordert. Zuvor habe sie bereits das Ordnungsgeld in Höhe von 500 Euro an die Antragsgegnerin gezahlt, ohne dass diese darauf hingewiesen hätte, dass sich die Angelegenheit damit noch nicht erledigt habe. Schließlich habe die Antragsgegnerin sie mit Schreiben vom 20. März 2012 auf die berufsgerichtliche Entscheidung verwiesen und Fragen an sie gerichtet, ohne darauf hinzuweisen, dass diese nicht akzeptiert und ein Beschwerdeverfahren durchgeführt werde.

Die Beschwerde greife auch in der Sache nicht durch. Eine Kündigung der Mutter, um die Tochter behandeln zu können, sei rechtswidrig gewesen. Die Behandlung der Tochter habe sie nicht ablehnen können, da hierfür nach Kassenarztrecht ein triftiger Grund erforderlich sei, der nicht vorliege. Eine Verletzung des Abstinenzgebots sei nicht gegeben. § 6 Abs. 4 BO sei keine Verbotsnorm, sondern enthalte lediglich eine Empfehlung zum Verhältnis zwischen Patient und Therapeut. Die Behandlung von Angehörigen eines Angestellten falle sicherlich nicht unter diese Vorschrift. Die Ausführungen des renommierten Psychologen Prof. Dr. E. gingen an den Besonderheiten des vorliegenden Falls vorbei und stellten eher eine allgemeine Auskunft dar. Insbesondere könne danach bei - wie hier - fehlender gestörter Eltern-Kind-Beziehung die geschilderte Konstellation keinen oder einen vernachlässigbaren negativen Einfluss auf die Therapie haben. Ein Schweigepflichtverstoß sei ebenfalls nicht feststellbar. Die Antragstellerin habe in ihrer Stellungnahme vom 14. März 2011 nur angegeben, dass die Möglichkeit des Austausches und der Akteneinsicht bestanden hätten. Die Antragsgegnerin habe aber nicht dargelegt, zu welchen Zeiten und inwiefern die Antragstellerin gegen ihre Schweigepflicht verstoßen und die Mutter Einsicht in die Akten genommen habe. Im Übrigen sei die Patientin nach den Gesamtumständen damit einverstanden gewesen, dass ihre Mutter die Möglichkeit habe, die Patientenakte einzusehen bzw. Inhalte der Therapie zu erfahren.

Selbst wenn eine Berufspflichtverletzung vorliegen sollte, fehle es an der erforderlichen berufsrechtlichen Relevanz und an einem Verschulden. Ein etwaiger Verstoß liege unterhalb der Schwelle eines minderschweren Pflichtenverstoßes und es wäre ausreichend gewesen, die Antragstellerin abzumahnen. Selbst bei Anwendung größtmöglicher Sorgfalt sei nicht zu erkennen gewesen, dass die Behandlung der Patientin bzw. die Beschäftigung der Mutter gegen das Abstinenzgebot verstoße. Schließlich müsse berücksichtigt werden, dass die Beschwerdeführerin keinen Schaden genommen habe. Der von ihr gerügte Abbruch der Therapie sei kein Berufsrechtsverstoß. Allein die im Rahmen der Stellungnahme der Antragstellerin gegenüber der Kammer abgegebenen Erklärungen hätten zum vorliegenden Verfahren geführt.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt ihrer Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin.

II.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, hat aber im Ergebnis keinen Erfolg.

I. Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht entgegen, dass sie erst am 3. Mai 2012 und damit mehr als fünf Monate nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses am 23. November 2011 erhoben worden ist.

1. Die Beschwerde gegen einen Beschluss, mit dem über einen Antrag auf Nachprüfung der Rüge entschieden worden ist, ist nicht fristgebunden. Das Heilberufsgesetz sieht weder in § 58a noch an anderer Stelle eine Frist für die Erhebung der Beschwerde vor. Die Beschwerde selbst ist im Heilberufsgesetz nicht näher geregelt. § 105 Abs. 1 HeilBerG verweist auf die Vorschriften der Strafprozessordnung, also insbesondere auf die §§ 304 ff. Die nach § 304 Abs. 1 StPO statthafte Beschwerde,

vgl. Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2005 - 13 E 466/04.T. €, NWVBl. 2005, 473 = MedR 2006, 68,

ist aber an keine Frist gebunden. Ein Fall der sofortigen Beschwerde nach § 311 StPO, die binnen einer Woche einzulegen ist, ist ebenfalls nicht gegeben, da dies eine ausdrückliche Bestimmung voraussetzt.

Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 56. Auflage 2013, § 311 Rn. 1.

2. Die Beschwerde ist auch nicht wegen Verwirkung des Beschwerderechts unzulässig. Die Verwirkung eines strafprozessualen Beschwerderechts ist für Ausnahmefälle anerkannt, in denen der Beschwerdeberechtigte längere Zeit untätig bleibt, obwohl er die Umstände und die Rechtslage kennt. Dass der Berechtigte erst mit erheblicher Zeitverzögerung sein Recht wahrnimmt, führt als solches allerdings noch nicht zur Verwirkung. Zum Zeitablauf hinzu kommen muss, dass der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt, sofern dadurch eine Situation geschaffen wird, auf die der jeweilige Gegner vertrauen, sich einstellen und einrichten darf.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 - 2 BvR 255/67 -, BVerfGE 32, 305; OLG Oldenburg, Beschluss vom 16. November 2006 - 1 Ws 551/06 -, juris; Meyer-Goßner, StPO, a. a.O., Rn. 6 vor § 296.

So liegt der Fall hier nicht. Es kann offen bleiben, ob die Beschwerdeerhebung nach fünf Monaten das Zeitmoment erfüllt. Es fehlt jedenfalls an dem erforderlichen Vertrauenstatbestand. Die von der Antragstellerin angeführte Kostenanforderung durch das Berufsgericht vom 6. März 2012, in dem auf die Rechtskraft des Beschlusses hingewiesen wurde, ist der Antragsgegnerin nicht zuzurechnen und nicht geeignet, schutzwürdiges Vertrauen der Antragstellerin in eine (endgültige) Akzeptanz der Entscheidung durch die Antragsgegnerin zu wecken. Auf den Umstand, dass der Vorstand kurz nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses die Beschwerdeerhebung beschlossen, die Antragsgegnerin diesen Beschluss aber nicht zeitnah umgesetzt hat, kann die Antragstellerin sich ebenfalls nicht berufen. Es ist schon nichts dafür ersichtlich, dass der Vorstandsbeschluss ihr überhaupt bekannt gewesen ist. Andernfalls hätte sie im Übrigen nicht darauf vertrauen dürfen, dass dieser nicht befolgt werde. Der Umstand, dass die Antragsgegnerin nach Zahlung des Ordnungsgeldes an sie keine Reaktion gezeigt, insbesondere einen Hinweis an die Antragstellerin unterlassen hat, dass noch ein Rechtsmittel zu erwarten sei, ist ebenfalls nicht geeignet, einen Vertrauenstatbestand dahingehend zu schaffen, dass die Sache nunmehr erledigt sei. In ihrer offenbar auf die Kostenanforderung des Gerichts gestützten Annahme, der Beschluss des Berufsgerichts sei rechtskräftig, konnte die Antragstellerin sich schließlich auch nicht durch das Schreiben der Antragsgegnerin vom 20. März 2012 bestärkt sehen. Die Antragstellerin hat zutreffend angeführt, dass er sich zu einer beabsichtigten Beschwerde nicht verhält. Allerdings lassen die Ausführungen darauf schließen, dass die Antragsgegnerin den Beschluss nicht akzeptiert, soweit die Schweigepflichtverletzung sowie der Verstoß gegen das Abstinenzgebot in Rede stehen. Die Antragsgegnerin führt aus, dass die Kammer von den entsprechenden Verstößen ausgehe, und beabsichtigte durch die gestellten Fragen offenbar eine weitere Aufklärung des Sachverhalts. Hierfür hätte keine Veranlassung bestanden, wenn die Antragsgegnerin von einer Beschwerde hätte absehen wollen.

II. Die von der Antragsgegnerin erklärte Beschränkung der Beschwerde auf einzelne Vorwürfe scheidet wegen der Einheit des Berufsvergehens aus. Anders als im Strafprozess, in dem die Berufung gemäß § 318 Satz 1 StPO auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden kann, werden im berufsgerichtlichen Verfahren - vergleichbar dem Disziplinarrecht - nicht einzelne Pflichtverletzungen gemaßregelt, sondern wird das Verhalten insgesamt gewürdigt und mit einer einheitlichen Maßnahme geahndet. Aus dem materiellrechtlichen Grundsatz der Einheit des Berufsvergehens folgt, dass ein Rechtsmittel nicht auf bestimmte Anschuldigungspunkte bzw. Vorwürfe beschränkt werden kann. Dies gilt auch für das Verfahren auf Nachprüfung der Rüge nach § 58a Abs. 4 Satz 1 HeilBerG, in dem - wie im berufsgerichtlichen Verfahren nach den §§ 59 ff. HeilBerG - das Berufsgerichts das gerügte Verhalten des Antragstellers insgesamt rechtlich zu bewerten hat.

Vgl. OVG Berlin-Bbg., Senat für Heilberufe, Urteil vom 9. Dezember 2008 - 90 H 4.07 -, juris; Willems, Die Rüge durch die Heilberufskammer, MedR 2010, 770 (776); ders., Das Verfahren vor den Heilberufsgerichten, 2009, Rn. 433 ff., 596 ff.

III. Das Berufsgericht hat den nach § 58a Abs. 4 Satz 1 HeilBerG zulässigen Antrag der Antragstellerin auf Aufhebung der Rüge vom 9. Mai 2011 im Ergebnis zu Recht abgelehnt und das von der Antragsgegnerin mit der Rüge verhängte Ordnungsgeld zu Recht, aber teilweise mit unzutreffender Begründung auf 500 Euro herabgesetzt. Die Antragstellerin hat nicht nur ihre Dokumentationspflicht (nachfolgend 1.), sondern entgegen der Auffassung des Berufsgerichts auch das Abstinenzgebot (2.) verletzt. Die Vorwürfe der Vorteilsnahme (3.) sowie der Schweigepflichtverletzung (4.) greifen hingegen nicht. Dies führt nicht zu einer Teilaufhebung der Rüge, aber zu einer Herabsetzung des Ordnungsgeldes auf 500 Euro (5.).

Nach § 58a Abs. 1 Satz 1 HeilBerG kann der Kammervorstand Kammerangehörige, die die ihnen obliegenden Berufspflichten verletzt haben, rügen, wenn die Schuld gering ist und der Antrag auf Einleitung eines berufsgerichtlichen Verfahrens nicht erforderlich erscheint. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

1. Die Rüge ist hinsichtlich des Vorwurfs, die Antragstellerin habe gegen ihre Dokumentationspflicht aus § 9 Abs. 1 der Berufsordnung der Psychotherapeutenkammer NRW vom 25. April 2008 (im Folgenden: BO) verstoßen, zu Recht ergangen.

Zwar genügt die Rüge insoweit nicht den verfahrensrechtlichen Anforderungen, weil die Antragstellerin zu diesem Vorwurf vor Erteilung der Rüge nicht angehört worden ist. Es entspricht den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen, dass dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben wird, vor einer berufsrechtlichen Maßnahme zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können. Dies setzt voraus, dass der Betroffene von dem Sachverhalt und dem Verfahren, in dem dieser verwertet werden soll, überhaupt Kenntnis erhält.

Vgl. zu diesem Erfordernis Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Urteil vom 23. September 2009 - 6t A 2297/07.T -, GesR 2010, 103 = juris, Rn. 36 ff.

Das Anhörungsschreiben vom 24. Februar 2011 - das im Übrigen auch die Verhängung einer Rüge nicht ausdrücklich thematisiert - erwähnt diese Berufspflichtverletzung nicht. Die Antragstellerin hatte deshalb keine Möglichkeit, sich substantiiert gegen den Vorwurf zur Wehr zu setzen. Allerdings ist ein Verstoß gegen diese rechtsstaatlichen Anforderungen im berufsgerichtlichen Überprüfungsverfahren geheilt worden, in dem die Antragstellerin ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu dieser Berufspflichtverletzung zu äußern. Die unterbliebene Anhörung hat sich auch nicht entscheidungserheblich ausgewirkt, da der Sachverhalt von Anfang an klar und ebenso wie dessen rechtliche Bewertung unstreitig war.

Die Antragstellerin hat gegen § 9 Abs. 1 BO verstoßen, indem sie die Behandlung der M. I. nicht ausreichend dokumentiert hat. Nach dieser Vorschrift sind Psychotherapeuten verpflichtet, die psychotherapeutische Behandlung, Psychodiagnostik und Beratung zu dokumentieren (Satz 1). Diese Dokumentation muss mindestens Datum, anamnestische Daten, Diagnosen, Fallkonzeptualisierungen, psychotherapeutische Maßnahmen sowie gegebenenfalls Ergebnisse psychometrischer Erhebungen enthalten (Satz 2). Gegen diese Pflicht hat die Antragstellerin schuldhaft verstoßen, indem sie keine Fallkonzeptualisierung erstellt hat. Dies hat sie auch eingeräumt. Zur weiteren Begründung wird auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen, denen die Beteiligten nicht entgegengetreten sind.

2. Die Antragsgegnerin hat weiter zu Recht angenommen, dass die Antragstellerin schuldhaft das Abstinenzgebot des § 6 BO verletzt hat, indem sie M. I. trotz des bestehenden Arbeitsverhältnisses mit der Mutter behandelt hat.

Nach § 6 Abs. 1 BO haben Psychotherapeuten die Pflicht, ihre Beziehungen zu Patienten und deren Bezugspersonen professionell zu gestalten und dabei jederzeit die besondere Verantwortung gegenüber ihren Patienten zu berücksichtigen. Nach § 6 Abs. 3 BO sollen Psychotherapeuten außertherapeutische Kontakte zu Patienten auf das Nötige beschränken und so gestalten, dass eine therapeutische Beziehung möglichst wenig beeinträchtigt wird. Die abstinente Haltung erstreckt sich nach § 6 Abs. 6 BO auch auf die Personen, die einem Patienten nahestehen, bei Kindern und Jugendlichen insbesondere auf deren Eltern und Sorgeberechtigte.

Das Abstinenzgebot, ein in der Psychotherapie allgemein anerkannter Grundsatz, bezieht sich damit nicht nur auf die in § 6 Abs. 5 BO untersagten sexuellen Kontakte zwischen Therapeuten und Patienten. Es gebietet, auch wenn § 6 Abs. 3 BO als Sollvorschrift formuliert ist, eine weitergehende Enthaltsamkeit des Therapeuten gegenüber seinen Patienten (und ggf. ihm nahestehender Personen) außerhalb der Therapie.

In der Psychotherapie kommt der systematischen Berücksichtigung und der kontinuierlichen Gestaltung der Therapeut-Patient-Beziehung eine zentrale Bedeutung zu. Eine tragende - je nach Therapieansatz, Symptomatik, Persönlichkeit und Kommunikationsstil des Patienten unterschiedlich ausgestaltete - therapeutische Beziehung ist Voraussetzung für den Therapieerfolg und der wichtigste Wirkfaktor.

Vgl. dazu Holm-Hadulla, in: Senf/Broda (Hrsg.), Praxis der Psychotherapie, 4. Auflage 2007, Kapitel 10, S. 97 ff.

Die Abstinenz ist ein wesentliches Merkmal dieser therapeutischen Beziehung und der Haltung des Therapeuten seinem Patienten gegenüber. Trotz der Nähe und Intimität, die im psychotherapeutischen Dialog entsteht, sind die Grenzen der psychotherapeutischen Arbeitsbeziehung zu wahren und es ist sorgfältig mit der Verletzlichkeit und der Abhängigkeit des Patienten vom Therapeuten umzugehen. Der Therapeut darf die Vertrauensbeziehung zu seinem Patienten insbesondere nicht ausnutzen bzw. missbrauchen oder versuchen, aus den Kontakten persönliche oder wirtschaftliche Vorteile zu ziehen.

Vgl. Jakl/Gutmann, MedR 2011, 259 (260); de Brito Santos-Dodt, Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg, Abstinenz: die verantwortungsbewusste Gestaltung der therapeutischen Beziehung, März 2006.

Die abstinente Haltung des Therapeuten in der Psychotherapie dient dem Ziel, dem Patienten den Freiraum zu verschaffen, ohne Rücksicht auf die persönliche Situation des Therapeuten diesem die eigene Situation zur Bearbeitung anvertrauen zu können. Störungen der therapeutischen Arbeitsbeziehung sind durch den grundsätzlichen Verzicht auf gleichzeitige private Kontakte vorzubeugen. Das Abstinenzgebot beruht auf gesicherten Erkenntnissen über Wirkfaktoren in bonafide-Psychotherapien.

Stellpflug/Berns, Musterberufsordnung für die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, 2. Auflage 2008, § 6 MBO, Rn. 134 ff.

Die Basis des Abstinenzgebots liegt in der Rollenzuweisung als Helfender und Hilfesuchender in der Behandlung und der daraus resultierenden Asymmetrie. Vielfach kommt es bei psychotherapeutischen Behandlungen zu tiefergehenden emotionalen Prozessen (Übertragungen), die diese Rollenunterschiede verstärken. Verlässt der Behandler die psychotherapeutische Arbeitsebene, so wird die Rollenverteilung aufgelöst oder jedenfalls auf für den Patienten schwer entwirrbare Weise vermischt. Auch ohne diese Übertragungen besteht ein erhebliches, strukturelles Machtgefälle zwischen Psychotherapeut und Patient, das eine intensive Abhängigkeit und auch Verletzlichkeit des Patienten begründet.

Vgl. Francke, Psychotherapeutenjournal 2006, 238; Kniesel, Rechtsprobleme beim Bruch des psychotherapeutischen Abstinenzgebots, 1997, S. 26 ff.; Schleu/Hillebrand/Gutmann, in: Hutterer-Krisch (Hrsg.), Grundriss der Psychotherapieethik, 2007, Kapitel 9, S. 363 (379 ff.).

Aufgrund der spezifischen Rolle des psychotherapeutischen Heilbehandlers und der daraus folgenden Asymmetrie stellt Abstinenz eine einseitige Pflicht dar, die auch dann gilt, wenn der Patient außertherapeutische Kontakte wünscht oder mit diesen einverstanden ist.

Vgl. Stellpflug/Berns, Musterberufsordnung für die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, 2. Auflage 2008, § 6 MBO, Rn. 136.

Die Beachtung des Abstinenzgebots ist auch Teil eines grundlegenden ethischen Prinzips der Psychotherapie, des Prinzips der Nichtschädigung des Patienten.

Vgl. Birnbacher/Kottje-Birnbacher, in: Senf/Broda (Hrsg), a. a. O., Kapitel 57, S. 761 (762 ff.); Schleu/Hillebrand/Gutmann, in: Hutterer-Krisch (Hrsg.), a. a. O., Kapitel 9, S. 363 (371).

Hiervon ausgehend dient die Abstinenz dem Erhalt der Objektivität des Therapeuten und damit dem Therapieerfolg, vor allem aber dem Schutz der seelischen Gesundheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Patienten, der in einer Abhängigkeitsbeziehung zum Therapeuten steht.

Nach den ethischen Prinzipien der American Psychological Association verzichtet der Therapeut auf das Eingehen multipler Beziehungen, die vernünftigerweise erwarten lassen, dass seine Objektivität, Kompetenz und die Effektivität in der Ausübung seiner Arbeit in Frage gestellt werden, sowie wenn erwartet werden muss oder die Gefahr besteht, dass dabei ein Schaden für den Patienten entsteht oder dieser sich ausgenutzt fühlen könnte. Solche multiple Beziehungen werden auch dann angenommen, wenn der Therapeut in einer beruflichen (therapeutischen) Beziehung zu einer Person steht und zugleich eine Beziehung mit einer nahestehenden Person dieser Person besteht.

Vgl. American, Psychological Association, Ethical Principles of Psychologists and Code of Conduct, www.apa.org, abgerufen am 16.1.2013)

In das Abstinenzgebot sind wegen der Besonderheit der therapeutischen Beziehung gemäß § 6 Abs. 6 BO auch nahe stehenden Personen einbezogen, die typischerweise über Einflussmöglichkeiten verfügen.

Vgl. Stellpflug/Berns, Musterberufsordnung für die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, 2. Auflage 2008, § 6 MBO, Rn. 145.

Während § 6 Abs. 5 BO für die Abstinenz in sexueller Hinsicht klar bestimmt, dass jeglicher sexueller Kontakt von Therapeuten zu ihren Patienten unzulässig ist, lässt sich das Abstinenzgebot im Übrigen nur im Einzelfall ausfüllen. Hierbei sind sowohl die - auch grundrechtlich geschützten - Interessen des Patienten als auch die Berufsfreiheit des Therapeuten zu berücksichtigen. Es wäre mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar, wenn die Berufsordnung dem Therapeuten jegliche soziale Kontakte insbesondere zu einem Patienten nahestehenden Personen untersagte.

Hiervon ausgehend hat die Antragstellerin das Abstinenzgebot verletzt, indem sie M. I. in Behandlung genommen hat, obwohl deren - auch in die Behandlung einbezogene - Mutter bei ihr in der Praxis angestellt war. Während die Kündigung der Mutter von ihr nicht verlangt werden konnte, hätte sie aber zulässigerweise unter Hinweis auf das Abstinenzgebot die Behandlung ablehnen dürfen und müssen. Dass Tochter und Eltern mit der Therapie durch die Antragstellerin einverstanden waren und das Arbeitsverhältnis die Therapie während ihrer Durchführung offenbar nicht beeinträchtigt hat, ist ebenso unerheblich wie der Umstand, dass das Leiden der Tochter angeblich nichts mit dem Elternhaus zu tun hatte. Das Abstinenzgebot hat eine präventive Funktion: Interessenkonflikte sollen abgewendet und Gefahren für den Therapieerfolg und die Gesundheit des Patienten vorgebeugt werden. Ein Arbeitsverhältnis ist ein besonderes Näheverhältnis, das stets die Gefahr von Konflikten birgt - was sich hier auch bestätigt hat. Insbesondere steht der Angestellte - unabhängig vom Umfang seiner Tätigkeit - in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Arbeitgeber. Vor diesem Hintergrund verstößt es regelmäßig gegen das Abstinenzgebot, wenn ein Therapeut seine eigenen Mitarbeiter behandelt. Für deren minderjährige Kinder gilt gemäß § 6 Abs. 6 BO im Regelfall nichts anderes. Kinder, zumal psychisch erkrankte, sind besonders schutzbedürftig und unterliegen den in der Regel erheblichen Einflussmöglichkeiten ihrer Eltern.

Therapeuten sind nach § 3 Abs. 1 BO verpflichtet, dem ihnen entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Das Vertrauensverhältnis (vgl. auch § 5 Abs. 1 und 3 BO) zwischen Therapeut und minderjährigem Patienten kann aber beeinträchtigt sein, wenn ein Näheverhältnis zwischen Therapeut und dessen Mitarbeiter besteht, der zugleich Elternteil des Patienten ist.

Hinzu tritt, dass bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen regelmäßig - so auch hier - die Eltern in Elterngesprächen in die Therapie eingebunden werden. Dafür, dass ausnahmsweise eine Behandlung zulässig gewesen wäre, sind schließlich keine Anhaltspunkte ersichtlich.

Die Ausführungen des von der Antragsgegnerin beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. E. bestätigen die vorstehenden Annahmen. Er führt in seiner Stellungname vom 5. Juni 2012 aus, die Anstellung der Mutter in der Praxis könne sich generell negativ auf die Patient-Therapeuten-Beziehung und den Therapieerfolg auswirken, weil für die Patientin psychisch immer präsent sei, dass die Therapeutin mit der Mutter der Patientin in einem weiteren Interaktionsprozess stehe. Fälle, in denen Aspekte der Autonomieentwicklung und der Beziehungsgestaltung keine Rolle spielten, seien in der Jugendlichentherapie die Ausnahme. Die - der Regel entsprechende - Einbeziehung der Eltern in die Therapie spricht hier dafür, dass ein solcher Ausnahmefall, in denen diese Aspekte keine Themen der Therapie sind, nicht vorliegt. Die € hier erfolgte - Einbeziehung der Mutter in die Therapie erhöhe das Risiko des negativen Einflusses der Konstellation auf die Behandlung. Schließlich weist der Gutachter darauf hin, dass Störungen der Eltern-Jugendlichen-Beziehung unter Umständen auch erst im Laufe des therapeutischen Prozesses sichtbar werden können. Die Antragstellerin musste sie daher auch hier für möglich halten. Substantiierte Einwände gegen diese überzeugenden sachverständigen Ausführungen hat die Antragstellerin nicht erhoben. Den Einwand, die Stellungnahme gehe an den Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles vorbei, teilt der Senat nicht, auch wenn sich darin zwangsläufig allgemeine Ausführungen finden.

Zur Überzeugung des Senats hat die Antragstellerin auch schuldhaft gehandelt. Angesichts der geschilderten besonderen Bedeutung des Abstinenzgebots in der Psychotherapie hätte die Antragstellerin besondere Sorgfalt an den Tag legen und aufgrund ihrer Ausbildung und des geltenden Berufsrechts erkennen müssen, dass sie die Behandlung der Patientin nicht übernehmen durfte.

3. Demgegenüber ist der Vorwurf der Antragsgegnerin nicht berechtigt, die Beschäftigung der Mutter der Patientin sei eine nach § 6 Abs. 3 Satz 2 BO unzulässige entgeltliche Dienstleistung. Nach dieser Vorschrift ist die Annahme von entgeltlichen oder unentgeltlichen Dienstleistungen im Sinne einer Vorteilnahme unzulässig. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Die Antragstellerin hat nicht für die Therapie von M. I. einen Vorteil angenommen. Vielmehr hat die Mutter der Patientin bereits lange vor Therapiebeginn (und -anbahnung) Sekretärinnentätigkeiten geleistet und hierfür von der Antragstellerin einen angemessenen Arbeitslohn erhalten. Die Antragstellerin hatte aufgrund des bestehenden Arbeitsvertrags einen rechtlich begründeten Anspruch auf die Dienstleistungen. Eine Nötigungssituation bestand ebensowenig wie auch nur ein Zusammenhang mit der Therapie der Tochter, die erst später wegen des Vertrauensverhältnisses der Mutter zur Antragstellerin nachgefragt wurde, als ein Therapiebedarf bestand. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen, denen die Beteiligten nicht entgegengetreten sind.

4. Hinsichtlich des Vorwurfs, die Antragstellerin habe ihre Schweigepflicht nach § 8 Abs. 1 BO verletzt, ist die Rüge schon aus formellen Gründen rechtswidrig.

Auch bezüglich dieses Vorwurfs ist die Antragstellerin vor Erteilung der Rüge nicht angehört worden. Das Schreiben vom 24. Februar 2011 erwähnt diese Berufspflichtverletzung nicht. Grundlage dieses Vorwurfs ist wohl die Bemerkung der Antragstellerin in ihrer Stellungnahme vom 14. März 2011, die Mutter habe aufgrund des Arbeitsverhältnisses stets Einsicht in die vollständige Akte gehabt. Dass sie hierauf den Vorwurf einer Berufspflichtverletzung stützt, hat die Antragsgegnerin der Antragstellerin vor Erteilung der Rüge nicht mitgeteilt. Ob diese Verletzung rechtsstaatlicher Anforderungen im berufsgerichtlichen Überprüfungsverfahren geheilt worden ist, kann offen bleiben. Dies erscheint allerdings deshalb zweifelhaft, weil die unterlassene Anhörung sich in entscheidungserheblicher Weise auf die formelle Rechtmäßigkeit der Rüge ausgewirkt hat: Wegen des unklaren, nicht weiter aufgeklärten Sachverhaltes fehlt es an einer Konkretisierung der vorgeworfenen Berufspflichtverletzung in der Rüge.

Vgl. zu einem ähnlichen Fall Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Urteil vom 23. September 2009 - 6t A 2297/07.T -, GesR 2010, 103.

Die Rüge ist deshalb jedenfalls wegen fehlender Bestimmtheit formell rechtswidrig. Eine Rüge muss den Gegenstand des als eine Berufspflichtverletzung vorgeworfenen Verhaltens eindeutig benennen und die Grenzen des dazu unterbreiteten Tatsachenstoffs genau umreißen. Insoweit gilt für den notwendigen Inhalt einer Rüge, deren Erlass gemäß § 58a Abs. 1 Satz 1 HeilBerG in der Entscheidungsfreiheit der Antragsgegnerin liegt, nichts anderes als für den Inhalt eines Antrags auf Eröffnung des berufsgerichtlichen Verfahrens nach § 71 Abs. 1 HeilBerG. Die Antragsschrift hat in persönlicher und sachlicher Hinsicht den Gegenstand festzulegen, über den das Berufsgericht zu entscheiden hat. Sie darf sich in der Kennzeichnung der Tat nicht darauf beschränken, den Gesetzeswortlaut wiederzugeben sowie Tatzeit, Tatort und das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen mitzuteilen. Sie muss vielmehr konkrete Tatumstände nennen. Dies hat in Verbindung mit den abstrakten gesetzlichen Merkmalen und außerhalb der Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen zu geschehen. Es müssen die Tatsachen, auf die sich der Vorwurf einer Verletzung von Berufspflichten stützt, konkret ausgeführt werden. Auch die Ermessensbetätigung nach § 58a Abs. 1 Satz 1 HeilBerG muss sich auf die konkrete Feststellung verletzter Berufspflichten beziehen. Nur diese Entscheidung unterliegt der berufsgerichtlichen Nachprüfung (§ 58a Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 HeilBerG). Auch § 58a Abs. 2 Satz 1 HeilBerG setzt die Konkretisierung des Vorwurfs voraus: Wird wegen desselben Sachverhalts ein berufsgerichtliches Verfahren eingeleitet, erlischt das Rügerecht. Die gerügte Berufspflichtverletzung muss hiernach bereits zu Abgrenzungszwecken eindeutig bezeichnet sein. Maßgebend ist der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte. Unklarheiten müssen hierbei zu Lasten der Verwaltung gehen.

Vgl. Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Urteile vom 18. Februar 2009 - 6t A 898/07.T -, NWVBl. 2009, 385, und vom 23. September 2009 - 6t A 2297/07.T -, juris, sowie Beschlüsse vom 21. Juni 2005 - 13 E 402/04.T - und vom 28. November 2005 - 13 E 401/04.T -; Willems, MedR 2010, 770 (773).

Diesen Bestimmtheitsanforderungen wird die angefochtene Rüge nicht gerecht, soweit der Antragstellerin eine Schweigepflichtverletzung vorgeworfen wird. Allein aufgrund der allgemeinen Aussage, die Antragstellerin habe "durch die Gewährung von Einsicht in die Behandlungsakte der Beschwerdeführerin durch deren Mutter" die ihr obliegende Schweigepflicht verletzt, lässt sich nicht feststellen, an welche konkreten Verhaltensweisen die Antragsgegnerin die Berufspflichtverletzung knüpft. Der Vorwurf wird in keiner Weise zeitlich und inhaltlich konkretisiert; es ist nicht ersichtlich, von welchem Tatsachenstoff und damit welchem Tatgeschehen die Antragsgegnerin ausgeht. Der Rügebescheid verhält sich nicht zur Tathandlung, dem Offenbaren des fremden Geheimnisses (vgl. § 203 StGB), d.h. weder dazu, ob die Antragstellerin der Mutter ausdrücklich Einsicht in die Behandlungsakte gewährt hat, ob diese nur als Angestellte die Möglichkeit dazu hatte und ob sie auch tatsächlich Einsicht genommen hat, noch dazu, welche anvertrauten Informationen über die Patientin die Antragstellerin weitergegeben haben soll.

Abgesehen davon greift der Vorwurf auch in der Sache nicht durch. Eine Verletzung des § 8 Abs. 1 BO scheidet schon deshalb aus, weil eine Schweigepflicht der Antragstellerin im Verhältnis zur Mutter der Patientin nicht bestand. Nach dieser Vorschrift sind Psychotherapeuten zur Verschwiegenheit über Behandlungsverhältnisse verpflichtet und über das, was ihnen im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit durch und über Patienten anvertraut und bekannt geworden ist. Wie auch § 8 Abs. 5 BO zeigt, wonach Mitarbeiter über die gesetzliche Verpflichtung zur Verschwiegenheit zu belehren sind, gilt dies - wohl aufgrund konkludenter Schweigepflichtentbindungen der Patienten gegenüber dem Psychotherapeuten - nur eingeschränkt gegenüber den eigenen Mitarbeitern, die zwangsläufig Kenntnisse über die Patienten und deren Unterlagen erlangen und deshalb selbst der Schweigepflicht unterliegen. Es bestand davon ausgehend schon nach allgemeinen Grundsätzen keine umfassende Schweigepflicht in Bezug auf die Behandlungsakte gegenüber der bei der Antragsstellerin beschäftigten Mutter der Patientin. Die Patientin musste davon ausgehen, dass ihre Mutter Einsicht in die Akte bekommen könnte, wogegen sie nach den Umständen dieses Falls offenbar nichts einzuwenden hatte. Das Berufsgericht hat deshalb jedenfalls nach Würdigung der Einzelfallumstände zu Recht angenommen, dass die gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 BO einwilligungsfähige 15- bzw. 16jährige Tochter konkludent in die Kenntnisnahme eingewilligt und die Antragstellerin in Bezug auf ihre Mutter von der Schweigepflicht entbunden hat. Die Behandlung ist im Einverständnis von Mutter, Vater, Tochter und Therapeutin erfolgt. Die Patientin hat die vertraute Atmosphäre bei der Arbeitgeberin ihrer Mutter gewählt. Die Eltern waren in die Therapie eingebunden. Weder sie noch ihre Tochter haben eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht gerügt. Ergänzend wird auf die zutreffenden Ausführungen des Berufsgerichts verwiesen, die durch das Beschwerdevorbringen nicht in Frage gestellt werden.

5. Der Umstand, dass sich nur zwei von vier Vorwürfen, die die Antragsgegnerin erhoben und mit der Rüge belegt hat, als berechtigt erweisen, führt weder zur Teilaufhebung der Rüge noch - unter Verweis auf einen Ermessensfehler - zur Aufhebung der Rüge insgesamt, sondern lediglich zur Herabsetzung des zusammen mit der Rüge auferlegten Ordnungsgelds.

Im Verfahren nach § 58a Abs. 4 Satz 1 HeilBerG findet zwar, so der Wortlaut der Bestimmung, eine "berufsgerichtliche Nachprüfung" der Rüge, d.h. der erfolgten Ahndung einer Berufspflichtverletzung durch die Kammer, statt. Gleichwohl trifft das Berufsgericht eine eigene (Ermessens-)Entscheidung. Im Rügeverfahren des § 58a HeilBerG, das den Kammern als eigenständiges Verfahren alternativ zum Eröffnungsantrag zur Verfügung steht, um berufsrechtswidriges Verhalten zu ahnden, tritt die Verhängung einer Maßnahme durch die Kammer an die Stelle der materiellen Beurteilung des Berufspflichtverstoßes und dessen Ahndung durch berufsgerichtliches Urteil. Die Kammer übt also nicht - wie beim Eröffnungsantrag - nur das Initiativrecht aus, die Ahndung eines beruflichen Fehlverhaltens einzuleiten, sondern ahndet selbst. Im Falle eines Antrags des Kammerangehörigen auf berufsgerichtliche Nachprüfung bildet die Rüge den Prüfungsgegenstand. Sie ist damit, das zeigen im Übrigen auch die ausführlicheren Parallelvorschriften §§ 74, 74a BRAO, eher einem Verwaltungsakt vergleichbar, der einer gerichtlichen Nachprüfung zugeführt wird. Gleichwohl ist der Prüfungsumfang des Berufsgerichts im Verfahren nach § 58a Abs. 4 Satz 1 HeilBerG wegen der Besonderheiten des berufsgerichtlichen Verfahrens ein weitergehender. Das Berufsgericht überprüft nicht lediglich die materielle Beurteilung des Berufspflichtverstoßes durch die Kammer, sondern trifft eine eigenständige Entscheidung. Es ist mangels abweichender Vorgaben auch im Verfahren nach § 58a Abs. 4 Satz 1 HeilBerG - wie im berufsgerichtlichen Verfahren nach den §§ 59 ff. HeilBerG - Sache des Berufsgerichts, das gerügte Verhalten des Antragstellers in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären und rechtlich zu bewerten. Führt die gerichtliche Prüfung zu dem Ergebnis, dass die tatsächliche und/oder rechtliche Sicht der Kammer nur teilweise zutrifft, ist es Aufgabe des Gerichts, selbst darüber zu befinden, ob es gleichwohl bei der von der Kammer verhängten Sanktion verbleibt oder eine Milderung oder Aufhebung geboten ist. Eine Teilaufhebung der Rüge wäre mit dem Grundsatz der Einheit des Berufsvergehens nicht vereinbar.

Vgl. OVG Berlin-Bbg., Senat für Heilberufe, Urteil vom 9. Dezember 2008 - 90 H 4.07 -, juris; Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Beschluss vom 11. Dezember 2013 - 13 E 1568/09.T -; Willems, MedR 2010, 770 (776).

Hiervon ausgehend verbleibt es bei der verhängten Rüge, die zur Überzeugung des Senats wegen der schuldhaften Verletzung der Dokumentationspflicht und des Abstinenzgebots gerechtfertigt ist. Insbesondere liegen diese Berufspflichtverletzungen oberhalb der Grenze berufsrechtlicher Relevanz. Es stehen keine reinen Sorgfaltsverstöße und eine daraus möglicherweise resultierende bloße Verletzung der Grundpflicht der gewissenhaften Berufsausübung (§ 29 Abs. 1 HeilBerG) in Rede, sondern hinreichend gewichtige Verletzungen von in der Berufsordnung konkretisierten Berufspflichten.

Vgl. dazu Landesberufsgericht für Heilberufe, Beschluss vom 29. September 2010 - 6t E 1060/08.T -, MedR 2011, 467.

Da sich aber nur diese zwei von insgesamt vier Vorwürfen aufrechterhalten lassen, ist das Ordnungsgeld herabzusetzen. Mit Blick auf das Gewicht der zwei Berufspflichtverletzungen - die Verletzung des Abstinenzgebots betrifft insbesondere keine sexuellen Kontakte -, den Umstand, dass die Antragstellerin bisher berufsrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, sowie die Besonderheit, dass die Patientin nicht die Behandlung, sondern allein deren Abbruch gerügt und damit durch die Therapie selbst offenbar keinen Schaden genommen hat, erachtet der Senat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein Ordnungsgeld in Höhe von 500 Euro für tat- und schuldangemessen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 107 HeilBerG in entsprechender Anwendung.

Der Beschluss ist unanfechtbar.






OVG Nordrhein-Westfalen:
Beschluss v. 10.02.2014
Az: 13 E 494/12.T


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/81c03bd4168f/OVG-Nordrhein-Westfalen_Beschluss_vom_10-Februar-2014_Az_13-E-494-12T




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