VerfGH des Landes Berlin:
Beschluss vom 19. Oktober 1995
Aktenzeichen: 64/95

(VerfGH des Landes Berlin: Beschluss v. 19.10.1995, Az.: 64/95)

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer war in der Hauptverhandlung am 17. und 19. Januar 1995 Verteidiger des seinerzeit Angeklagten S.M.. Nachdem sein Mandant freigesprochen worden war, beantragte er, die seinem Mandanten aus der Landeskasse zu ersetzenden Kosten mit 1.336,87 DM festzusetzen. Der Freigesprochene hat seinen Erstattungsanspruch an den Beschwerdeführer abgetreten.

Mit Beschluß vom 11. April 1995 hat d. Amtsgericht Tiergarten in Berlin gemäß Art. 1 des Gesetzes vom 23. September 1990 (BGBl. II S. 885) i. V. m. Art. 8 und Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 26 a Satz 1 des (Einigungs-) Vertrages vom 31. August 1990 die sich nach § 83 Abs. 1 und 2 BRAGG ergebenden Gebühren um 20 vom Hundert gekürzt. Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hat das Landgericht Berlin mit Beschluß vom 16. Juni 1995 als unbegründet verworfen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers. Er macht geltend, es sei verfassungswidrig, die sich nach der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte ergebende Gebühr deshalb um 20 vom Hundert zu kürzen, weil er seine Kanzlei in dem Teil Berlins habe, der zum Beitrittsgebiet gehöre. Für die hierin liegende Benachteiligung gegenüber den Kollegen, die ihren Kanzleisitz im anderen Teil Berlins hätten, gebe es keine vernünftigen Gründe (mehr). Dies gelte hier umso mehr, als Schuldner der Gebühr nicht sein Mandant, sondern die Landeskasse sei, für die schlechtere wirtschaftliche und soziale Bedingungen nicht als Grund für die Ungleichbehandlung angeführt werden könnten.

II.

Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.

Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 1 Abs. 3 VvB i.V.m. Grundrechten des Grundgesetzes rügt, ist seine Beschwerde unzulässig. Art. 1 Abs. 3 VvB wiederholt die sich aus Art. 1 Abs. 3 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Bindung der Organe des Landes Berlin an die Grundrechte und an das Bundesrecht. Das eröffnet indes nicht den Weg zur (beachtlichen) Rüge einer Verletzung subjektiver Rechte des Bundesrechts vor dem Verfassungsgerichtshof (vgl. u.a. Beschluß vom 8. September 1993 - VerfGH 59/93 -).

Mit Blick auf die geregte Verletzung des Art. 6 Abs. 1 VvB, durch den die umfassende Gleichheitsgarantie für alle Menschen mit demselben Umfang wie durch Art. 3 Abs. 1 GG verbürgt wird (vgl. etwa Beschluß vom 17. Februar 1993 - VerfGH 53/92 -), scheitert die Verfassungsbeschwerde nicht schon daran, daß das Landgericht bei seiner Entscheidung § 83 Abs. 1 und 2 BRAGO in der durch das Inkrafttreten des Gesetzes vom 23. September 1990 bewirkten Fassung und damit Bundesrecht angewandt hat. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (vgl. im einzelnen Beschluß vom 2. Dezember 1993 - VerfGH 89/93 - NJW 1994, 436 m.w.N.) steht der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, daß ihr Gegenstand Gerichtsentscheidungen sind, welche auf der Anwendung von Bundesrecht beruhen. Der Verfassungsgerichtshof ist grundsätzlich berechtigt, Entscheidungen Berliner Gerichte am Maßstab solcher in der Verfassung von Berlin verbürgten Individualrechte zu messen, die bundesverfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten entsprechen. Solche Individualrechte sind, soweit sie inhaltlich mit den Grundrechten des Grundgesetzes übereinstimmen, auch dann von der rechtsprechenden Gewalt des Landes Berlin zu beachten, wenn diese Bundesrecht anwendet.

Im vorliegenden Fall geht es nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers allerdings nicht oder doch nicht in erster Linie darum, ob die mit der Gebührenentscheidung befaßten Gerichte bei der Anwendung von Bundesrecht den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 VvB in landesverfassungsrechtlich gebotener Weise beachtet haben. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage der Verfassungsmäßigkeit der bundesrechtlichen Bestimmung selbst, die die Gebührenkürzung anordnet. Insoweit macht der Beschwerdeführer sinngemäß geltend, namentlich das Landgericht habe eine nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbarte Norm des Bundesrechts angewandt und ihn dadurch in verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Weise ungleich behandelt. Auch das berührt jedoch die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht. Denn der Verfassungsgerichtshof ist befugt, bei der Überprüfung der auf Bundesrecht beruhenden Entscheidungen der Berliner Verwaltungsbehörden und Gerichte am Maßstab der mit den Grundrechten des Grundgesetzes inhaltsgleichen Grundrechte der Verfassung von Berlin inzident die Übereinstimmung des entscheidungserheblichen Bundesrechts mit dem Bundesverfassungsrecht zu überprüfen. Er ist wie jedes andere Gericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet, ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, auf seine Vereinbarkeit - hier: mit dem vom Grundgesetz und der Berliner Verfassung inhaltsgleich verbürgten Gleichbehandlungsgrundsatz zu überprüfen und dann, wenn er eine solche Vereinbarkeit verneint, sein Verfahren auszusetzen und das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen (vgl. Beschluß vom 12. Juli 1994 - VerfGH 94/93 - DVBl. 1994, 1189 = NVwZ 1995, 784 = NJ 1995, 29). Ein solcher Fall ist hier indes nicht gegeben; die in Art. 1 des Gesetzes vom 23. September 1990 i.V.m. Art. 8 und Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 26 a Satz 1 des (Einigungs-)Vertrags vom 31. August 1990 angeordnete Gebührenkürzung verstößt nicht gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung.

Wie der Beschwerdeführer selbst nicht in Zweifel zieht, haben im Jahre 1990 einleuchtende und vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls für eine entsprechende Differenzierung zwischen Rechtsanwälten mit Sitz im Beitrittsgebiet und solchen mit Sitz außerhalb des Beitrittsgebiets gesprochen. Durch diese Differenzierung wurde nämlich den besonderen wirtschaftlichen Verhältnissen der im Beitrittsgebiet ansässigen Rechtsanwälte und Rechtssuchenden in einer dem angestrebten Zweck namentlich hinsichtlich des Umfangs angemessenen Weise Rechnung getragen. Das reicht aus annehmen zu dürfen, die in Rede stehende Ungleichbehandlung sei sachlich gerechtfertigt und verstoße deshalb nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Allerdings ist dem Beschwerdeführer einzuräumen, daß dieser Rechtfertigungsgrund in einem bestimmten Zeitpunkt seine die Differenzierung legitimierende Kraft einbüßen dürfte. Dieser Zeitpunkt ist jedoch erst gekommen, wenn eindeutige und verläßliche Daten belegen, daß die wirtschaftliche Gesamtsituation der im Beitrittsgebiet ansässigen Rechtsanwälte und Rechtssuchenden der der außerhalb des Beitrittsgebiets ansässigen Rechtsanwälte und Rechtssuchenden zumindest nahezu entspricht und deshalb für die unterschiedliche Behandlung kein Raum mehr ist. An solchen Daten fehlt es bisher. Der Beschwerdeführer hat weder solche Daten vorgetragen noch auch nur andeutungsweise eine entsprechende Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse substantiiert behauptet.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 33 f. VerfGHG.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar.






VerfGH des Landes Berlin:
Beschluss v. 19.10.1995
Az: 64/95


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