Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 17. November 1999
Aktenzeichen: 1 BvR 1708/99

(BVerfG: Beschluss v. 17.11.1999, Az.: 1 BvR 1708/99)

Tenor

Die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) werden dadurch verletzt, daß das Hanseatische Oberlandesgericht es unterlassen hat, über die am 12. Februar 1997 eingelegte weitere sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zu entscheiden.Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 15.000 DM (in Worten: fünfzehntausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen eine überlange Dauer des Verfahrens beim Hanseatischen Oberlandesgericht über eine am 12. Februar 1997 eingelegte sofortige weitere Beschwerde.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Eigentümer einer Wohnung, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau bewohnt. Er fühlte sich durch Geräusche, die aus der darüberliegenden Wohnung hereindrangen, belästigt, und stellte im August 1984 beim Amtsgericht den Antrag, die Lärmbelästigung zu untersagen. Einen im September des folgenden Jahres gestellten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung lehnte das Amtsgericht ab, weil eine sofortige Regelung nicht notwendig sei. Am 6. Januar 1987 wies es auch den Antrag in der Hauptsache zurück. Ein Anspruch auf Unterlassung bestehe nur, wenn die Geräusche über das unvermeidliche Maß hinausgingen. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluß des Amtsgerichts sofortige Beschwerde ein und stellte erneut einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Der Antrag blieb erfolglos, die sofortige Beschwerde wurde am 8. März 1988 zurückgewiesen. Auf die sofortige weitere Beschwerde des Beschwerdeführers hin hob das Oberlandesgericht am 4. Juli 1991 die Beschlüsse von Amts- und Landgericht auf. Die Gerichte hätten die Beweislast verkannt. Der Beschwerdeführer brauche nur zu beweisen, daß auf seine Wohnung eingewirkt und sein Eigentum beeinträchtigt werde.

Nach weiterer Beweisaufnahme wies das Amtsgericht den Antrag des Beschwerdeführers am 21. Juni 1993 erneut zurück. Die Beeinträchtigungen könnten nicht durch Maßnahmen verhindert werden, die dem Antragsgegner wirtschaftlich zumutbar seien. Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers blieb erfolglos. In seinem Beschluß vom 9. März 1994 kam das Landgericht zu dem Ergebnis, der Beschwerdeführer habe nicht bewiesen, daß von der Wohnung des Antragsgegners Geräusche ausgingen, die auf zweckwidriger Nutzung beruhten. Das Oberlandesgericht hob am 8. Mai 1995 auch diesen Beschluß auf und wies die Sache an das Landgericht zurück. Das Landgericht habe sich nicht an den zuvor ergangenen bindenden Beschluß des Oberlandesgerichts gehalten.

Nach ergänzender Beweisaufnahme wies das Landgericht am 15. Januar 1997 die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluß des Amtsgerichts vom 21. Juni 1993 ein weiteres Mal zurück. Die beanstandeten Geräusche seien bei bestimmungsgemäßer Nutzung der Wohnung entstanden. Über die dagegen am 12. Februar 1997 eingelegte sofortige weitere Beschwerde ist noch nicht entschieden. Das Oberlandesgericht hat - von der Weiterleitung eingehender Schriftsätze abgesehen - nichts weiter veranlaßt. Im März 1998 bat es den Beschwerdeführer um Geduld. Die Arbeitsbelastung des zuständigen Senats sei gestiegen. Mit Schreiben vom Januar 1999 stellte es eine Entscheidung für April 1999 in Aussicht und bat bis dahin um Geduld. Im August 1999 erkundigte sich der Beschwerdeführer ein weiteres Mal nach dem Sachstand.

2. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner am 30. September 1999 erhobenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. Seit Februar 1997 ruhe die Sache beim Oberlandesgericht. Das Ausbleiben einer Entscheidung sei mit seinem Recht auf eine gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Zeit unvereinbar.

3. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Gegner des Ausgangsverfahrens ist der Meinung, daß eine ungebührliche Verzögerung des Verfahrens nicht vorliege. Nach Auffassung des Präsidenten des Hanseatischen Oberlandesgerichts erklärt sich die Verfahrensdauer durch eine langjährige, in einer Gesamtsicht deutlich oberhalb des Bundespensenschlüssels liegende sehr hohe Belastung der Berichterstatterin. Diese sei zudem häufig krankheitsbedingt dienstunfähig gewesen. Eine Entlastung sei dennoch nicht in Betracht gekommen, da alle anderen Richter gleichfalls sehr hoch belastet seien.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist nach §§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b, 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung durch die Kammer anzunehmen. Die für die Beurteilung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

a) Es ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, daß sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinne ableiten läßt. Das Rechtsstaatsprinzip fordert im Interesse der Rechtssicherheit, daß strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997, NJW 1997, S. 2811 f. m.w.N.).

b) Der Rechtsstreit ist nicht in angemessener Zeit abgeschlossen worden. Seit dem das Verfahren einleitenden Antrag des Beschwerdeführers sind mehr als fünfzehn Jahre vergangen. Während dieser gesamten Zeit blieb der Beschwerdeführer Geräuschbeeinträchtigungen ausgesetzt, die er nach seiner Ansicht nicht zu dulden braucht; und der Antragsgegner mußte mit der Rechtsunsicherheit über die in seiner Wohnung zulässigen Geräuschemissionen leben. Die Sache wirft keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten auf. Das Oberlandesgericht ist seit nahezu drei Jahren untätig geblieben. Das ist angesichts der gesamten Verfahrensdauer objektiv unangemessen. Die vom Gerichtspräsidenten angeführten Gründe für die Verzögerung ändern nichts an ihrer Unvereinbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip. Es verlangt eine funktionsfähige Rechtspflege. Dazu gehört auch eine angemessene Personalausstattung der Gerichte.

c) Da eine Entscheidung im Ausgangsverfahren noch nicht ergangen ist, muß sich das Bundesverfassungsgericht auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nach § 95 Abs. 1 BVerfGG beschränken. Das Hanseatische Oberlandesgericht ist nunmehr gehalten, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um dem Verfahren Fortgang zu geben und auf dessen raschen Abschluß hinzuwirken.

2. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Streitwertfestsetzung auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.






BVerfG:
Beschluss v. 17.11.1999
Az: 1 BvR 1708/99


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