Hessischer Verwaltungsgerichtshof:
Beschluss vom 21. Dezember 1992
Aktenzeichen: 3 TH 1677/92

(Hessischer VGH: Beschluss v. 21.12.1992, Az.: 3 TH 1677/92)

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich mit dem am 15.05.1992 gemäß § 80 a Abs. 3 VwGO gestellten Eilantrag als Nachbarn in einem beplanten Mischgebiet gegen die Ausnutzung der der Beigeladenen erteilten sofort vollziehbaren Baugenehmigung vom 18.12.1991 i.d.F. vom 25.06.1992 für einen LKW-Abstellplatz. Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat den Eilantrag mit Beschluß vom 30.07.1992 als unzulässig abgelehnt, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nicht für erstattungsfähig erklärt und den Streitwert auf 9.000,00 DM festgelegt. Dagegen richten sich die Beschwerden der Antragsteller im Aussetzungsverfahren, der Beigeladenen wegen der Nichterstattungsfähigkeit ihrer außergerichtlichen Kosten und der Bevollmächtigten der Antragsteller wegen der Festsetzung des Streitwerts, dessen Höhe sie mit 45.000,00 DM für angemessen halten.

Der Berichterstatter hat im Beschwerdeverfahren einen Erörterungstermin an Ort und Stelle durchgeführt. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.

Dem Gericht liegt die einschlägige Behördenakte des Antragsgegners mit Lichtbildern vor, ebenso eine geheftete Lichtbildmappe. Auf diese Unterlagen wird ebenso wie auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten ergänzend Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragsteller, die in der Sache die Benutzung des streitbefangenen LKW-Stellplatzes vorläufig unterbunden wissen wollen, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Seit Inkrafttreten des 4. Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung - 4. VwGOÄndG - vom 17.12.1990 (BGBl. I S. 2809) am 01.01.1991 kann gerichtlicher Rechtsschutz zur Sicherung eines nachbarlichen Abwehrrechts im Eilverfahren nicht mehr im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO, sondern auf der Grundlage des § 80 a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO in entsprechender Anwendung erlangt werden. Gemäß § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO kann die Behörde auf Antrag des Dritten, der einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt eingelegt hat, die Vollziehung aussetzen und einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen. Auch das Gericht kann auf Antrag solche Maßnahmen treffen (§ 80 a Abs. 3 VwGO; zu den Voraussetzungen im einzelnen Hess. VGH, Beschluß vom 30.01.1991 - 4 TG 3243/90 - NVwZ 1991, 592 - DÖV 1991, 745 = BauR 1991, 185 = HessVGRspr. 1991,50; Hess. VGH, Beschluß vom 24.04.1992 - 3 TH 358/92 -).

Die Aussetzung der Vollziehung beruht hier darauf, daß die Baugenehmigung vom 18.12.1991, die trotz ihrer einschränkenden Auflagen die derzeitige Nutzung mit einem schweren 38-Tonner-Lastzug zuläßt, rechtswidrig ist (§ 30 Abs. 1 BauGB). Dabei ist von der Gültigkeit des einschlägigen Bebauungsplans OW-3 "Unterm Wiesenweg" vom 30.12.1982 auszugehen, dessen Festsetzung eines Mischgebiets trotz der nahezu durchgängigen Wohnbebauung nicht funktionslos geworden ist. Ein Bebauungsplan oder einzelne seiner Festsetzungen können wegen Funktionslosigkeit außer Kraft treten, wenn und soweit die Verhältnisse in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung des Plans oder einzelner Festsetzungen auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (vgl. BVerwGE 54, 5; 67, 334). Davon ist hier nicht auszugehen. Trotz der nahezu durchgängigen Wohnnutzung im Plangebiet erscheint es nicht ausgeschlossen, daß etwa durch Nutzungsänderungen oder zusätzliche bauliche Anlagen gewerbebetriebliche oder anderweitige Vorhaben hinzutreten, die das Wohnen nicht wesentlich stören (§ 6 Abs. 1 BauNVO), den vorherrschenden Wohncharakter aber gleichwohl zurücknehmen.

Von der Art der baulichen Nutzung her stellt die von der Baugenehmigung zugelassene Fuhrbetriebstätigkeit der Beigeladenen mit dem derzeit benutzten 38-Tonner-Lastzug mit einem Standgeräusch dB(A) von 92 P und einem Fahrgeräusch dB(A) von 82 auch nur werktags zwischen 6 Uhr und 20 Uhr ein das Wohnen belästigendes Vorhaben dar, das nicht in ein Mischgebiet gehört. Berücksichtigt man, daß eine Schallpegeländerung um 10 dB(A) im Mittel etwa die Verdoppelung der subjektiv empfundenen Lautstärke bewirkt (vgl. Ullrich, DVBl. 1985, 1159, 1160) und etwa die nach § 66 Abs. 2 BImSchG für immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Anlagen noch maßgebliche Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm vom 16.07.1968 (Beilage zum BAnz. Nr. 147 vom 16.07.1968 - TA-Lärm) unter Nr. 2.3.21 c einen Immissionsrichtwert für Mischgebiete tagsüber mit 60 dB(A) benennt, stellen schon die Fahrgeräusche des Lastzugs mit 82 dB(A) mehr als eine Vervierfachung dieses Richtwerts dar. Für das Standgeräusch ist zahlenmäßig noch ein höherer Wert angegeben.

Nimmt man darüber hinaus in den Blick, daß die schon errichtete, geschotterte zweite Zu- und Abfahrt für den Lastzug nicht als Weg auf dem Baugrundstück gemäß § 89 Abs. 1 Nr. 9 HBO 1990 genehmigungsfrei ist, bisher aber nach § 87 Abs. 1 Satz 1 HBO 1990 nicht bauaufsichtlich genehmigt ist und sich gemäß dem einschlägigen Bebauungsplan in einer festgesetzten Grünfläche mit Pflanz- bzw. Erhaltungsgeboten für Bäume befindet, so daß eine Baugenehmigung schwerlich erwartet werden kann, und die Gartenstraße im übrigen beiderseits Standspuren als Parkstreifen enthält, wird der freie Straßen- und Rangierraum auf der als Zu- und Abfahrt rechtlich allein zur Verfügung stehenden Gartenstraße für die Beigeladene so beengt, daß mit nicht unerheblichen Rangierbewegungen und den damit verbundenen entsprechenden Lärmbelästigungen zu rechnen ist. Dies zeigt, daß der genehmigte LKW-Stellplatz auf den bei maximaler Ausnutzung der Baugenehmigung nicht ausgeschlossenen streitbefangenen Lastzug von seiner Größe, seiner Lautstärke und seinen Raumansprüchen beim Rangieren her nicht zugeschnitten ist. Daran können auch die verschiedenen einschränkenden Nutzungsauflagen für das Fernverkehrsunternehmen der Beigeladenen nichts ändern.

Bei alledem fällt auf, daß die Beigeladene ausweislich der vorgelegten Kraftfahrzeugscheine ihre Lastwagen häufiger gewechselt hat, und die Fahrzeuge dabei offenbar leistungsstärker, trotz anzunehmender verbesserter Technik jedenfalls aber auch lauter geworden sind. So sind unter dem 19.09.1985 (Bl. 68 BA) die Werte für das Standgeräusch dB(A) mit 83 P und für das Fahrgeräusch dB(A) 74 angegeben, unter dem 05.10.1987 ergibt sich eine Veränderung mit 82 P und 77. Unter dem 01.10.1990 (Bl. 90 GA) erfolgt dann eine nicht unwesentliche Erhöhung auf P 90, dort als Standardgeräusch dB(A) bezeichnet, und 82 für das Fahrgeräusch und zuletzt gemäß der Vorlage im zweitinstanzlichen Erörterungstermin eine weitere Erhöhung beim Standgeräusch dB(A) auf 92 P bei gleich hohem Fahrgeräusch dB(A) mit 82. Die streitbefangene Baugenehmigung hat diese erhöhte Verlärmung zu Lasten der Nachbarschaft nicht verhindert.

Nach alledem ist die sofort vollziehbare Baugenehmigung nach den §§ 30 Abs. 1 BauGB, 6 Abs. 1 BauNVO rechtswidrig, wobei die hier verletzte planerische Festsetzung über die Art der baulichen Nutzung auch nachbarschützend ist (vgl. Gelzer/Birk, Bauplanungsrecht, 5. Aufl. 1991, Rdnr. 979).

Im übrigen ist auch davon auszugehen, daß die tatsächlichen Lärmbeeinträchtigungen zu Lasten der Nachbarschaft, die zugelassener Weise schon in den frühen Morgenstunden ab 6 Uhr beginnen können, den Grad der erheblichen Belästigungen im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG erreichen und damit auch nach diesen Normen unzulässig sind. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß im Rahmen des an § 96 Abs. 1 HBO orientierten bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahrens auch immissionsschutzrechtliche Vorschriften zu prüfen sind (vgl. Simon, BayBauO, Kommentar, Stand: 2/1991, Art. 86 Rdnr. 20; Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Band I, Rdnr. 33 vor § 22 BImSchG m.w.N.). Dabei kommt den Vorschriften zur Abwehr schädlicher Umwelteinwirkungen im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG nachbarschützender Charakter zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.1986 - 4 C 31.84 BVerwGE 74, 315 = DÖV 1987, 293 und vom 03.04.1987 - 4 C 41.84 -, NVwZ 1987, 884; Hess. VGH, Urteil vom 04.07.1985 - 3 OE 22/82 -, UPR 1986, 354). Zum immissionsschutzrechtlich geschützten Kreis der Nachbarschaft gehört hier auch der Antragsteller zu 4) als Mieter und Bewohner eines Nachbarhauses mit eigenem Lebensmittelpunkt (vgl. Jarrass, BImSchG, Kommentar, 1983, § 3 Rdnrn. 58 bis 60), so daß auch seinem Erfolg im Eilverfahren keine rechtlichen Probleme der Antragsbefugnis und des materiell-rechtlichen Einbezogenseins in den Schutzumfang verletzter Normen entgegenstehen.

Zusätzlich ist auch die drittschützende landesrechtliche Vorschrift des § 67 Abs. 11 Satz 1 HBO 1990 verletzt, weil davon auszugehen ist, daß die von dem genehmigten Stellplatzbetrieb ausgehenden Lärmbeeinträchtigungen das Wohnen, die Ruhe und die Erholung in der Umgebung über das zumutbare Maß hinaus stören.

Der nach der Errichtung des Stellplatzes von den Antragstellern in der Sache begehrte vorläufige Nutzungsstop bis zum rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens ist auch noch notwendig, um mögliche Rechte der Antragsteller als Nachbarn zu sichern, wozu auch der Schutz vor fortdauernden Rechtsbeeinträchtigungen gehört (§ 80 a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2 VwGO; vgl. Beschluß des Hess. VGH vom 30.01.1991, a.a.O.). Zum Vollzug der angefochtenen Baugenehmigung gehört auch der "Betrieb", d. h. die Nutzung der genehmigten Anlage, woraus sich für das auf § 80 a VwGO gestützte Eilverfahren auch ein Bedürfnis der Antragsteller auf vorläufige Regelung des Zustands, der bis zum Abschluß des Hauptsacheverfahrens besteht, ergeben muß. Es müssen gewichtige Gründe dafür vorliegen, um die Aussetzung der Vollziehung der in der Baugenehmigung mit enthaltenen Nutzungsgenehmigung zur Sicherung der Nachbarn gegen fortlaufende Rechtsbeeinträchtigungen durch eine genehmigte Nutzung notwendig zu machen (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 20.06.1991 - 4 TH 1094/91 -, UPR 1992, 14; Beschluß vom 24.04.1992 - 3 TH 358/92 -). Angesichts der gewichtigen Rechtsmängel der streitbefangenen Baugenehmigung und der nicht unerheblichen erwartbaren Zeitspanne bis zum rechtskräftigen Abschluß eines möglichen Hauptsacheverfahrens erscheint ein in absehbarer Zeit wirksam werdendes Nutzungsverbot zur Abwehr wesentlicher, unzumutbarer Nachteile für die Antragsteller aus den dargelegten Gründen notwendig.

Allerdings gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. § 4 Abs. 1 HSOG), daß der Beigeladenen zur Ermöglichung eines möglichst schonenden Übergangs eine angemessene Frist eingeräumt wird, um eine anderweitige Abstellmöglichkeit für den Lastzug zu finden. Die aus dem Tenor ersichtliche Frist ist unter Berücksichtigung der betrieblichen Interessen der Beigeladenen mit dem Sicherungs- und Schutzbedürfnis der Antragsteller noch vereinbar. Prozeßrechtlich sei darauf hingewiesen, daß die analoge Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO solche differenzierten Regelungen ermöglicht (vgl. auch Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl. 1986, Rdnrn. 742, 798).

Die Beschwerde der Beigeladenen wegen der Nichterstattungsfähigkeit ihrer außergerichtlichen Kosten im ersten Rechtszug ist schon deshalb nicht begründet, weil die Beigeladene Inhaberin einer rechtswidrigen Baugenehmigung ist und ihre LKW-Stellplatznutzung öffentliche Nachbarrechte verletzt. In einem solchen Fall entspricht es nicht der Billigkeit, gemäß § 162 Abs. 3 VwGO die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen im ersten Rechtszug für erstattungsfähig zu erklären. Danach kann offenbleiben, ob die ausführliche Stellungnahme der Beigeladenen vom 29.07.1992 erstinstanzlich noch hätte abgewartet und mindestens bei der Kostenentscheidung zugunsten der Beigeladenen berücksichtigt werden müssen.

Die gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 BRAGO nur im eigenen Namen zulässige Streitwertbeschwerde der Bevollmächtigten der Antragsteller ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den erstinstanzlichen Streitwert mit 9.000,00 DM nicht unangemessen niedrig festgesetzt (§ 13 Abs. 1 GKG). Es ist nichts hinreichend dafür ersichtlich, daß bei erfolglosem Verfahrensausgang für die Antragsteller Wertminderungen an ihren Grundstücken oder Wohnungen in Höhe von jeweils 30.000,00 DM pro Grundstück zu erwarten gewesen wären. Dazu fehlen substantiierte Darlegungen und sonstige bezifferbare Anhaltspunkte. Mithin ist die Vorgehensweise des Verwaltungsgerichts als sachgerecht anzusehen, jeweils nur den Hilfsstreitwert des § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG pro Grundstück anzusetzen und diesen im Eilverfahren auf die Hälfte zu mindern.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 3, 155 Abs. 1 Satz 3, 159 Satz 1 und 162 Abs. 3 VwGO. Dabei ist davon auszugehen, daß die Antragsteller nur zu einem geringen Teil unterlegen sind. Gemäß § 25 Abs. 3 GKG ist das Verfahren über die Streitwertbeschwerde gebührenfrei und Kosten werden nicht erstattet.

Aus den dargelegten Gründen wird der Streitwert für das Beschwerdeverfahren unter Abzug des Streitwertanteils für den aus dem Verfahren ausgeschiedenen Antragsteller zu 4) gemäß §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 entsprechend, 20 Abs. 3 und 25 Abs. 1 GKG auf 7.500,00 DM festgesetzt.

Hinweis: Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).






Hessischer VGH:
Beschluss v. 21.12.1992
Az: 3 TH 1677/92


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