Hessisches Landesarbeitsgericht:
Urteil vom 24. November 2010
Aktenzeichen: 18 Sa 311/10

(Hessisches LAG: Urteil v. 24.11.2010, Az.: 18 Sa 311/10)

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil desArbeitsgerichts Wiesbaden vom 06. Januar 2010 € 7 Ca 2922/08€ abgeändert:

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Kopien derLohnabrechnungen sämtlicher in dem Betrieb seit Dezember 2005 biseinschließlich April 2008 beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmerherauszugeben.

Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Verpflichtung des Beklagten, der Klägerin Kopien von Lohnabrechnungen sämtlicher gewerblichen Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen.

Die Klägerin ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Sie ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes verpflichtet.

Der Beklagte, der einen Rohrleitungs- und Tiefbaubetrieb in A unterhält und gewerbliche Arbeitnehmer beschäftigt, nahm in dem gesamten Klagezeitraum von Dezember 2005 bis einschließlich April 2008 an dem Beitrags- und Meldeverfahren nach dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) teil. Der Beklagte machte gegenüber der Klägerin auch Urlaubserstattungsansprüche geltend.

Die Klägerin hat mit am 16. September 2008 bei dem Arbeitsgericht Wiesbaden eingegangener Klage von dem Beklagten begehrt, ihr Kopien der Lohnabrechnungen sämtlicher in seinem Betrieb beschäftigter gewerblicher Arbeitnehmer - zuletzt für die Zeitspanne von Dezember 2005 bis einschließlich April 2008 - herauszugeben. Sie hat behauptet, sie habe Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte seinen gewerblichen Arbeitnehmern nicht stets den vorgeschriebenen Mindestlohn gezahlt habe und folgend die tarifvertraglichen Beitragsmeldungen und -zahlungen nicht auf der Basis des Mindestlohnes erfolgt seien. Ihr Anspruch sei nach § 28 S. 1 VTV gerechtfertigt. Der Beklagte ist - dies ist unstreitig - vor Klageerhebung schriftlich aufgefordert worden, die Lohnabrechnungen in Kopie zur Verfügung zu stellen.

Die Klägerin hat geltend gemacht, sie benötige die Kopien der Lohnabrechnungen um überprüfen zu können, ob die der Beitragsberechnung zu Grunde liegenden Bruttolohnsummen korrekt angegeben und der Mindestlohn gezahlt worden sei. § 28 S. 1 VTV stelle keine weiteren Voraussetzungen auf, als das die geforderten Unterlagen für das Einzugs- und Erstattungsverfahren notwendig seien. § 28 VTV sei nicht gegenüber § 21 VTV nachrangig. Der Antrag auf Herausgabe der Lohnabrechnungskopien €sämtlicher" Arbeitnehmer sei auch hinreichend bestimmt gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

den Beklagte zu verurteilen, an sie Kopien der Lohnabrechnungen sämtlicher in dem Betrieb seit Dezember 2005 bis einschließlich April 2008 beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmern herauszugeben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat geltend gemacht, die Voraussetzungen des § 28 VTV seien nicht erfüllt. Sowohl das Einzugs- als auch das Erstattungsverfahren hätten stattgefunden und seien abgeschlossen. Folglich gebe es keine Notwendigkeit mehr für die Übersendung von Unterlagen €€ für die Durchführung des Einzugs- und Erstattungsverfahrens€. Die Klägerin verhalte sich rechtsmissbräuchlich, wenn sie ohne greifbare und belegte Anhaltspunkte behaupte, Meldungen seien nicht ordnungsgemäß erfolgt und Beiträge nicht vollständig bezahlt worden. Er habe schon mit Schreiben vom 23. November 2007 um Mitteilung gebeten, in welchen einzelnen Punkten nach Informationsbedarf bestehe.

Das Arbeitsgericht Wiesbaden hat die Klage mit Urteil vom 06. Januar 2010 als unzulässig abgewiesen. Es hat dies damit begründet, dass der Antrag nicht hinreichend bestimmt sei im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Vollstreckung der begehrten Kopien richte sich nach § 883 Abs. 1 ZPO. Die Wegnahme €sämtlicher€ Lohnabrechnungen gegen den Willen des Schuldners vermöge ein Gerichtsvollzieher nicht zu leisten, dieser wisse nicht, wie viele Arbeitnehmer im Betrieb eines Schuldners beschäftigt seien. Der Klägerin sei zuzumuten, einen konkreteren Antrag zu stellen. § 28 VTV sei nach der tariflichen Systematik gegenüber § 21 VTV nachrangig. Die Klägerin sei grundsätzlich gehalten, sich auf dem Weg über § 21 VTV die notwendigen Auskünfte über die Abwicklung des Einzugsverfahrens zu beschaffen. Sie könne ermitteln, wie viele Arbeitnehmer ein Arbeitgeber beschäftige und die Zahl der Arbeitnehmer sowie gegebenenfalls deren Namen auch angegeben.

Zur vollständigen Wiedergabe der Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils sowie des weiteren Vorbringens der Parten im ersten Rechtszug wird auf das Urteil Bezug genommen (Bl. 38 - 50 d.A.).

Die Klägerin hat gegen das ihr am 05. Februar 2010 zugestellte Urteil mit am 03. März 2010 bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt. Ihre Berufungsbegründung ist am 29. März 2010 bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen.

Die Klägerin macht mit der Berufung geltend, das Arbeitsgericht habe die Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO überspannt. Es genüge, wenn bei einem Anspruch auf Herausgabe von Urkunden die Urkunden so bezeichnet seien, dass auch ein Dritter problemlos erkennen könne, um welche Urkunden es sich handele. Die Klägerin macht weiter geltend, ihr sei durch § 28 VTV die Möglichkeit eingeräumt worden, durch weitgehende Auskunftsrechte und Herausgabeansprüche die Einhaltung der tarifvertraglichen Vorschriften zu überwachen. Es sei es widersinnig, über § 28 VTV nur einen Herausgabeanspruch auf die von einem Arbeitgeber über § 21 VTV mitgeteilte Anzahl der Arbeitnehmer zu gewähren. Damit könne nicht festgestellt werden, ob im Einzelfall eine Mindestlohnunterschreitung vorliege.

Die Klägerin behauptet, dass sie Unterlagen nach § 28 VTV sowohl außergerichtlich als gerichtlich nur anlassbezogen und nicht aufgrund einer Stichprobenkontrolle verlangen. Typische Auffälligkeiten seien z.B.

- wenn die Bruttolohnsumme und die gemeldete Stundenzahl in einem Missverhältnis ständen, so dass eine Mindestlohnunterschreitung vermutet werden könne,

- wenn die Anzahl von Teilzeitbeschäftigten überdurchschnittlich hoch sei und vermutet werden könne, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden an einen zu geringen Bruttolohn angepasst werden solle oder

- wenn sich das Meldeverhalten eines Arbeitgebers auffällig ändere und die Zahl der Arbeitnehmer oder der Bruttolohnsumme absinke, obwohl keine Arbeitnehmer abgemeldet wurden.

In solchen Fällen werde ein Arbeitgeber zunächst konkret um weitere Informationen gebeten und geprüft, ob beispielsweise vergessen wurde Arbeitnehmer abzumelden. Nur wenn Verdachtsmomente durch den Arbeitgeber nicht ausgeräumt werden könnten, werde diese außergerichtlich aufgefordert bestimmte Unterlagen herauszugeben, damit sie selbst anhand der Unterlagen prüfen könne, ob der Mindestlohn eingehalten worden sei.

In Bezug auf den Betrieb des Beklagten hat die Klägerin im Fortsetzungstermin vom 24. November 2010 Kopien von Anfragen zu Erstattungsanträgen des Beklagten für Oktober 2006 und Juli 2007 vorgelegt (Anlage zum Sitzungsprotokoll vom 24. November 2010, Bl. 105 - 113 d.A.). Sie hat dazu vorgetragen, diese seien nur exemplarisch, es habe wegen weiterer Monate Nachfragen gegeben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 06. Januar 2010 - 7 Ca 2922/08 - abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie Kopien der Lohnabrechnungen sämtlicher in dem Betrieb seit Dezember 2005 bis einschließlich April 2008 beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmern herauszugeben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts. § 28 VTV gestatte nur die Einsicht in oder das Verlangen der Übersendung von Kopien von €notwendigen" Unterlagen. § 28 VTV sei insbesondere nicht als nachträgliches Kontroll- und Ermittlungsrecht ausgestaltet. Er werde durch das Verlangen erheblich belastet. In die Rechte der Arbeitnehmer werde eingegriffen, da sich aus den Lohnabrechnungen auch der Familienstand, die Steuerklasse und Kinderzahl sowie etwaige Pfändungen, Abtretungen, Vorschüsse oder Darlehen entnehmen ließen. Der Beklagte ist der Auffassung, die Klägerin habe keinen konkreten Anlass vorgetragen, ihn einer Nachprüfung zu unterziehen. In Bezug auf die im Termin vom 24. November 2010 vorgelegten Unterlagen ist der Beklagte der Ansicht, dass diese den Antrag nicht stützten, die Lohnabrechnungen sämtlicher Arbeitnehmer einer erheblichen Zeitspanne vorzulegen. Wenn Zweifel beständen, müssten die angeführten Arbeitnehmer befragt oder Klage auf höhere Beiträge erhoben werden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze sowie die Sitzungsniederschriften vom 15. September und 24. November 2010 (Bl. 82, 103 f. d.A.) verwiesen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 06. Januar 2010 ist zulässig gem. §§ 64 Abs. 2 b), 8 Abs. 2 ArbGG. Sie ist gem. §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt sowie ordnungsgemäß und rechtzeitig begründet worden.

Die Berufung ist auch erfolgreich. Der Beklagte ist der Klägerin gem. § 28 S. 1 VTV verpflichtet, Kopien der Lohnabrechnungen sämtlicher in seinem Betrieb beschäftigter gewerblichen Arbeitnehmer aus der Zeitspanne von Dezember 2005 bis April 2008 herauszugeben.

1.Es ist unstreitig, dass der Beklagte mit seinem Rohrleitungs- und Tiefbaubetrieb in dem von der Klage erfassten Zeitraum gem. § 1 Abs. 2 Abschnitt V Nr. 25 und 36 VTV dem Geltungsbereich des Sozialkassentarifvertrags unterfiel. Der Beklagte hat auch Meldungen nach §§ 6, 21 VTV abgegeben, Beiträge nach §§ 18 VTV geleistet und die Erstattung von Urlaubsvergütung gem. § 13 VTV geltend gemacht.

2.Der auf 28 VTV gestützte Antrag auf Herausgabe von Lohnabrechnungskopien ist hinreichend bestimmt gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

a)Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klageschrift neben der bestimmten Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs einen bestimmten Antrag enthalten. Damit wird der Streitgegenstand abgegrenzt und eine Voraussetzung für die etwa erforderlich werdende Zwangsvollstreckung geschaffen. Ein Klageantrag ist dann hinreichend bestimmt, wenn er den erhobenen Anspruch konkret bezeichnet, dadurch den Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis absteckt, den Inhalt und den Umfang der materiellen Rechtskraft der begehrten Entscheidung erkennen lässt, das Risiko eines Unterliegens der klagenden Partei nicht durch vermeidbare Ungenauigkeit auf den Beklagten abwälzt und schließlich eine Zwangsvollstreckung aus dem Urteil ohne eine Fortsetzung des Streits im Vollstreckungsverfahren erwarten lässt. Welche Anforderungen an die Konkretisierung des Streitgegenstands in einem Klageantrag zu stellen sind, hängt jedoch auch von den Besonderheiten des anzuwendenden materiellen Rechts und den Umständen des Einzelfalls ab. Die Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags sind danach in Abwägung des zu schützenden Interesses des Beklagten, sich gegen die Klage erschöpfend verteidigen zu können, sowie seines Interesses an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der Wirkungen mit dem ebenfalls schutzwürdigen Interesse der klagenden Partei an einem wirksamen Rechtsschutz festzulegen (BGH Urteil vom 18. November 2002 - I ZR 168/00 - NJW 2003, 668;BGH Urteil vom 04. Juli 2002 - I ZR 38/00 - WM 2002, 1986).

Eine mögliche Unsicherheit oder Unbestimmtheit wegen des mit dem Klageantrag Gewollten kommt nur hinsichtlich des Begriffs €sämtlich" in Betracht. Er ist klar, dass die Klägerin Kopien der Lohnabrechnungen haben will, welche der Beklagte seinen gewerblichen Arbeitnehmern erteilte, außerdem welchen Zeitraum diese Lohnabrechnungen abdecken sollen.

Eine Unsicherheit, wie viele und welche gewerblichen Arbeitnehmer der Beklagte in der Zeit von Dezember 2005 bis April 2008 insgesamt beschäftigte, kann nur auf Seiten der Klägerin, nicht aber des Beklagten bestehen. Für den Beklagten ist feststellbar, was die Klägerin von ihm in dem Rechtsstreit genau verlangt. Der Beklagte kann also - einen Anspruch auf Herausgabe der Kopien insoweit unterstellt - in einem Rechtsstreit geltend machen, er habe vollständig erfüllt bzw. bei einer Vollstreckung sich damit verteidigen, er habe alles herausgegeben.

b)Die Unsicherheit, dass lediglich die fordernde Partei im Voraus nicht weiß und festlegen kann, wann ihr Herausgabeanspruch vollständig erfüllt sein wird, ähnelt der bei einem Auskunftsbegehren, bei dem auch nicht vorab angegeben werden kann, mit welchem Inhalt es erfüllt sein wird. Sie ist wegen der Zielrichtung der Anspruchsgrundlage bei einem auf § 28 VTV gestützten Herausgabeanspruch entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes hinzunehmen. Dies ergibt die Auslegung des § 28 VTV.

Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien wird den Kassen durch § 28 VTV ein weit gehendes Prüfungsrecht bei der Durchführung des Einzugs- und Erstattungsverfahrens eingeräumt. Die Kassen, d.h. sowohl die Zusatzversorgungskasse als auch die Urlaubskasse, dürfen Einsicht in Unterlagen verlangen, von welchen sie auch Kopien fordern dürfen, außerdem sind ihnen die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Damit soll sowohl die Überprüfung eines Betriebes vor Ort als auch aus der Entfernung ermöglicht werden. Der Anspruch, von €notwendigen Unterlagen" die Übersendung von Kopien verlangen zu dürfen, dient erkennbar dazu, eine Überprüfung eines Betriebes vor Ort überflüssig zu machen, indem die Unterlagen der Kasse an ihrem Sitz zur Verfügung gestellt werden. Nach diesem Verständnis soll § 28 VTV Kontrollen der Arbeitgeber ermöglichen und erleichtern. Damit korrespondiert die in Satz 2 weit gefasste Auskunftspflicht (€alle erforderlichen Auskünfte€) der Arbeitgeber. Dies wird durch die seit der Neufassung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 20. Dezember 1999 getroffene Regelung des Prüfungsrechts bestätigt. Im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 12. November 1986 in der Fassung aller bis einschließlich 31. Dezember 1999 geltender Änderungstarifverträge war in den Schlussbestimmungen unter § 54 zum Prüfungsrecht lediglich geregelt, das Beauftragten der ZVK-Bau auf Verlangen Einsicht in die für die Durchführung des Einzugsverfahrens notwendigen Unterlagen zu gestatten war. Die Übersendung von Kopien war noch nicht vorgesehen, ebenso nicht die Pflicht zur Erteilung aller erforderlichen Auskünfte.

Mit einem so verstanden Prüfungsrecht geht einher, dass die prüfende Kasse oft nur vermuten kann, welche Unterlagen Sie benötigt und zu welchem Ergebnis sie kommen wird. Es muss daher ausreichen, dass sie für notwendig erachtete Unterlagen nur umschreibt und z.B. nicht von vornherein festlegen kann, wie viele Lohnabrechnungen, gegebenenfalls von welchen Arbeitnehmern, sie für einen bestimmten Zeitraum erwartet. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts kann die klagende Kasse nicht darauf verwiesen werden, Informationen nur nach § 21 VTV zu erlangen.

Auch mögliche Unsicherheiten bei der Vollstreckung des Anspruchs durch den Gerichtsvollzieher nach § 883 ZPO rechtfertigen es nicht, den Antrag als zu unbestimmt zu bewerten. § 883 Abs. 1 ZPO sieht auch die Herausgabe einer €Menge bestimmter beweglicher Sachen€, also von Sachgesamtheiten vor. Ob eine Herausgabepflicht vollständig erfüllt wurde, kann Gegenstand einer eidesstattlichen Versicherung gem. § 883 Abs. 2 ZPO sein. Schließlich ist zweifelhaft, ob die Herausgabe von Kopien von Lohnabrechnungen immer nach § 883 ZPO zu vollstrecken ist. Die Klägerin begehrt nicht die Lohnabrechnungen, welche der jeweils beklagte Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern erteilte, sondern Kopien diese Urkunden. Die Abrechnungen sollen weder erstmalig hergestellt oder beschafft werden, sondern es geht um die Mitteilung des Inhalts bereits erteilter Lohnabrechnungen, was durch die Übersendung von Kopien belegt werden soll. Die Vorlage von Belegen als Teil einer umfassenden Verpflichtung auf Auskunft kann jedoch nach § 888 ZPO zu vollstrecken sein (vgl. z.B. für einen Anspruch nach § 1605 Abs. 1 Satz 2 BGB:Zöller-Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 888 Rz 3). Auch danach ist es nicht gerechtfertigt, den Klageantrag wegen denkbarer Schwierigkeiten bei einer Vollstreckung durch einen Gerichtsvollzieher als unzulässig abzulehnen.

3.Der auf § 28 S. 1 VTV gestützte Anspruch ist auch begründet.

a)Die Herstellung und Übersendung von Kopien der noch vorhandenen Lohnabrechnungen, welche ein Bauarbeitgeber gem. § 5.7.1 BRTV Bau seinen gewerblichen Arbeitnehmern schriftlich zu erteilen hatte, stellt einen erheblichen Aufwand dar. Die Kammer geht daher davon aus, dass die klagende Kasse die Übersendung von Kopien nach § 28 S. 1 VTV nur verlangen kann, wenn diese für ein Kontrolle in Bezug auf das Einzugs- und Erstattungsverfahren geeignet sind und das Begehren verhältnismäßig ist.

Kopien der den gewerblichen Arbeitnehmern erteilten Lohnabrechnungen sind für eine Überprüfung geeignet, ob der nach § 21 VTV zu meldende Bruttolohn korrekt angegeben und der tariflichen Mindestlohn nach dem Tarifvertrag in der Mindestlöhne im Baugewerbe im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV Mindestlohn) in der jeweils geltenden Fassung nicht unterschritten wurde.

Das Verlangen auf Herstellung und Herausgabe von Kopien der Lohnabrechnungen ist geeignet und verhältnismäßig, wenn die klagende Zusatzversorgungskasse Anhaltspunkte dafür hat, das der Arbeitgeber entweder nicht ordnungsgemäß meldete und daher Beiträge fehlerhaft berechnet wurden und/oder der tarifliche Mindestlohn nicht gezahlt wurde.

b)Diese Voraussetzungen sind zu Lasten des Beklagten erfüllt. Die von der Klägerin im Termin vom 24. November 2010 exemplarisch vorgelegten Anfragen zu Erstattungsanträgen des Beklagten vom Juni 2007 und Oktober 2006 (vgl. Anlage zur Sitzungsniederschrift, Bl. 105 - 113 d.A.) lassen die Vermutung zu, das dem Arbeitnehmern B bzw. den Arbeitnehmern C, D, E und F möglicherweise zu wenig Lohn gezahlt oder aber falsche Meldungen abgegeben wurden. Der Beklagte hat die Anfrage nicht oder unzureichend beantwortet. Einen Lohnabzug wegen eines Schadensereignisses, wie für drei Arbeitnehmer angegeben, durfte nicht zur Minderung der tariflich erheblichen Bruttolohnsumme führen. Der erstinstanzlich geltend gemachte Einwand des Beklagten, er habe mit Schreiben vom 23. November 2007 um Mitteilung gebeten, in welchen einzelnen Punkten noch Informationsbedarf bestehe, ist unerheblich. Die beispielhaft eingereichten Anfragen der Klägerin sind eindeutig, der Beklagte hätte sie beantworten können, statt mit einer Rückfrage zu reagieren.

aa)Entgegen der Ansicht des Beklagten ist das Verlangen auf Auskunft über die erteilten Lohnabrechnungen durch Übersendung von Kopien dieser Abrechnungen nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Einzugs- und das Erstattungsverfahren für von der Klage erfasste Zeiträume bereits abgeschlossen ist. Soweit sich der Beklagte auf die Verjährung möglicher Beitragsnachforderungen berufen hatte, hat die Klägerin darauf im ersten Rechtszug durch teilweise Klagerücknahme reagiert. Im Übrigen lässt § 28 VTV nicht erkennen, dass eine nachträgliche Prüfung ausgeschlossen werden sollte. Dies wäre auch nicht zu erwarten. Geht die Klägerin bei Geltendmachung von Erstattungsansprüchen eines Arbeitgebers nach § 13 VTV davon aus, dass dieser seine Melde- oder Beitragspflicht nicht vollständig erfüllt hat, so ist sie nach § 18 Abs. 5 VTV zur Leistungsverweigerung berechtigt. Dies ist ein wesentlich besser geeignetes Druckmittel, einen Arbeitgeber zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner tarifvertraglichen Pflichten anzuhalten, als die Einholung von Auskünften und die Überprüfung von Unterlagen. 29 VTV zeigt darüber hinaus, dass die Tarifvertragsparteien auch eine Rückforderung von Leistungen bedacht haben, auf die zum Zeitpunkt der Antragstellung kein tarifvertraglicher Anspruch des Arbeitgebers bestand oder die er aufgrund unwahrer Angaben erhielt. Dies setzt voraus, eine nachträgliche Überprüfung eines Arbeitgebers stattgefunden hat.

bb)Das Recht der Klägerin auf Verlangen der Kopien von Lohnabrechnungen ist auch nicht auf die Arbeitnehmer und die Monate beschränkt, für die sie konkrete Anhaltspunkte hat, dass Meldungen falsch sind und/oder der Mindestlohn unterschritten wurde. Ihr Begehren ist nicht unverhältnismäßig.

Wie oben ausgeführt, haben die Tarifvertragsparteien den Kassen durch § 28 VTV ein weit reichendes Prüfungsrecht eingeräumt. Ist es nach dem aufgezeigten Maßstab geboten, von einem Arbeitgeber zusätzliche Auskünfte und Belege zu verlangen, ist dies bis zu den Grenzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) möglich. Andernfalls wurde das Prüfungsrecht auf konkrete einzelne Verdachtsfälle beschränkt. Der tariflichen Regelung ist nicht zu entnehmen, dass dies beabsichtigt ist. Die einzige Einschränkung des Rechts auf Einsicht und Übersendung von Kopien erstreckt sich auf die letztlich selbstverständliche Formulierung, dass dies (nur) für Unterlagen gilt, die für das Einzugs- und Erstattungsverfahren €notwendig€ sind. Dass Kopien nur zu übersenden sind, wenn sie €angefordert€ wurden, ergibt sich schon daraus, dass ein Arbeitgeber dies im Regelfall nicht unaufgefordert tun dürfte. Dem erheblichen Aufwand, Abrechnungen aus mehreren Jahren zusammenstellen und kopieren zu müssen, kann ein in Anspruch genommener Arbeitgeber dadurch entgehen, dass er die vorprozessualen konkreten Anfragen der klagenden Kasse vollständig beantwortet.

Schließlich hat der Beklagte nicht geltend gemacht, dass ihm die Lohnabrechnungen des Zeitraumes von Dezember 2005 bis April 2008 nicht mehr vorliegen. Das Vorliegen kann nicht ohne weiteres unterstellt werden, da die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Führung und Aufbewahrung von Lohnkonten nach § 41 Abs. 1 EStG bzw. § 28 f Abs. 1 und Abs. 2 SGB IV nicht durch Aufbewahren der den Arbeitnehmern erteilten Verdienstabrechnungen erfüllt werden muss.

cc)Schließlich ist der auf § 28 Satz 1 VTV gestützte Anspruch auf Herausgabe von Kopien der Lohnabrechnungen sämtlicher gewerblicher Arbeitnehmer aus der Zeitspanne von Dezember 2005 bis April 2008 mit § 28 Abs. 2 Nr. 2 a) BDSG zu vereinbaren.

Die monatlichen Verdienstabrechnungen enthalten personenbezogene Daten der Arbeitnehmer des Beklagten gem. § 3 Abs. 1 BDSG, diese werden durch Herausgabe von Kopien der Lohnabrechnungen an die Klägerin nach § 3 Abs. 4 Nr. 3 BDSG übermittelt. Die Übermittlung ist nach § 28 Abs. 2 Nr. 2 a) BDSG nur zur Wahrung berechtigter Interessen Dritter zulässig. Die Klägerin ist Dritte im Sinne dieser Vorschrift. Ihr Interesse an der Übermittlung der Lohnabrechnungen in Kopie ist berechtigt, soweit sich diesen entnehmen lässt, welchen Bruttomonatslohn der jeweilige Arbeitnehmer enthielt und welche Arbeitszeit, gegebenenfalls mit welchen Zuschlägen, vergütet wurde, sowie ob und aus welchem Grund Arbeitsbefreiung erfolgte. Soweit Minderungen des Bruttolohns durchgeführt wurden, muss schließlich erkennbar sein, worauf dies beruhte, etwa auf der Verrechnung mit einem Arbeitgeberdarlehen oder, wie von dem Beklagten im Oktober 2007 auf die Anfrage angegeben, wegen eines Schadensabzugs (vgl. Anlage zur Sitzungsniederschrift, Bl. 108 f. d.A.). Nur so kann überprüft werden, ob der Bruttolohn als Grundlage der Beitragsberechnung richtig angegeben und eventuell der Mindestlohn unterschritten wurde. Damit wird auch den Interessen der betroffenen Arbeitnehmer gedient, deren Urlaubsanspruch und weitere Ansprüche durch die Beiträge finanziert werden.

Weitergehende Daten, wie die Lohnsteuerklasse eines Arbeitnehmers, mögliche Freibeträge, Angaben zu Kindern oder Pfändungen sind für eine Prüfung, ob das Einzugs- und Erstattungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde, nicht geboten. Insoweit ist der Beklagte im Verhältnis zur Klägerin berechtigt, diese Daten unkenntlich zu machen.

Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen (§ 91 Abs. 1 ZPO).

Gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG ist die Revision zuzulassen.






Hessisches LAG:
Urteil v. 24.11.2010
Az: 18 Sa 311/10


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