Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 26. April 2004
Aktenzeichen: 1 BvR 1819/00

(BVerfG: Beschluss v. 26.04.2004, Az.: 1 BvR 1819/00)

Tenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Köln vom 24. August 2000 - 11 S 148/00 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 sowie Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Köln zurückverwiesen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 Euro (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrages und die Verwerfung einer Berufung als unzulässig.

Mit fristgerecht per Telefax beim Landgericht eingegangenem Schriftsatz legte der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers Berufung gegen ein zivilrechtliches Urteil ein. Das Original ging zwei Tage nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist ein. Lediglich der Originalschriftsatz enthielt die Unterschrift des Prozessbevollmächtigten.

Der Prozessbevollmächtigte beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da die Einhaltung der Frist ohne schuldhaftes Verhalten des Beschwerdeführers oder des Prozessbevollmächtigten versäumt worden sei. In regelmäßigen Abständen habe er seine ansonsten zuverlässigen Mitarbeiter angewiesen, sämtliche ausgehenden Schriftsätze vor der Absendung auf das Vorhandensein der Unterschrift zu überprüfen. Er habe das Diktatband mit einem Vermerk "eilt sehr - bitte sofort" zum Schreiben gegeben. An dem Tag der Versendung des Fax sei er auch in der Kanzlei gewesen, so dass er vor Versendung des Fax den Schriftsatz hätte unterschreiben können. Wegen des Fristablaufs habe er seine Mitarbeiterin zusätzlich aufgefordert, telefonisch beim Landgericht nachzufragen, ob das Fax eingegangen sei; diese habe darüber den Vermerk "nachmittags - ist eingegangen" gefertigt.

Das Landgericht hat unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages die Berufung als unzulässig verworfen. Das unterschriebene Original sei verspätet eingegangen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht begründet, da die Fristversäumung auf einem dem Beschwerdeführer zuzurechnenden Verschulden des Prozessbevollmächtigten beruhe. Neben dem Vermerk "eilt sehr - bitte sofort" habe er keine Anweisung gegeben, dass ihm die Berufungsbegründung nach schriftlicher Fertigung zur Kontrolle vorgelegt werde. Wenn ein Rechtsanwalt eine Berufungsbegründungsschrift diktiere, müsse zumindest sichergestellt sein, dass die Berufungsbegründungsschrift entsprechend dem Diktat gefertigt worden sei. Hinzu komme, dass er seine Mitarbeiterin aufgefordert habe, nachzufragen, ob das Fax eingegangen sei. Bei derartiger ausdrücklicher Anweisung hätte ihm in Erinnerung sein müssen, dass er die Berufungsbegründungsschrift weder gesehen noch unterschrieben habe.

II.

Mit seiner gegen die Verwerfung der Berufung gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <211 f.>; 79, 372 <376>).

2. Die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages und die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Justizgewähranspruch umfasst das Recht auf Zugang zu den Gerichten und eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter (vgl. BVerfGE 54, 277 <291>). Der Rechtsweg darf weder ausgeschlossen noch in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <99>). Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat der Bürger ferner das Recht, sich im gerichtlichen Verfahren zu äußern und in diesem Sinne vom Richter zur Sache gehört zu werden.

Die Fachgerichte haben diese einander ergänzenden verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien, unbeschadet ihrer grundsätzlichen Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des einfachen Verfahrensrechts, bei ihren Entscheidungen zu beachten (vgl. BVerfGE 42, 128 <130 f.>; 44, 302 <306>). Dementsprechend dürfen sie bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozessrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>). Nach diesen Maßstäben widerspricht es rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem rechtsuchenden Bürger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten seines Anwalts zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen er auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers nicht rechnen musste (vgl. BVerfGE 79, 372 <376>).

Nach gefestigter, höchstrichterlicher Rechtsprechung darf ein Anwalt einfache Verrichtungen, die keine juristische Schulung verlangen, zur selbstständigen Erledigung seinem geschulten und zuverlässigen Büropersonal übertragen. Versehen dieses Personals, die nicht auf eigenes Verschulden des Anwalts zurückzuführen sind, hat die Partei nicht zu vertreten. Eine solch einfache Tätigkeit ist auch die Überprüfung bestimmter Schriftsätze auf die erforderliche Unterschrift sowie das Absenden eines Fax. Der Anwalt muss allerdings durch eine allgemeine Anweisung Vorsorge dafür getroffen haben, dass bei normalem Lauf der Dinge Fristversäumnisse wegen fehlender Unterschrift vermieden werden.

b) Diesen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht ist der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers gerecht geworden. Insoweit genügt die angegriffene Entscheidung nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, die die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 233, 85 Abs. 2 ZPO zu beachten haben. Aufgrund seiner regelmäßigen Anweisungen, sämtliche ausgehenden Schriftsätze vor der Absendung auf das Vorhandensein der Unterschrift zu überprüfen, hat der Prozessbevollmächtigte darauf vertrauen dürfen, seine Sorgfaltspflichten erfüllt zu haben. Diese Anweisungen hat er mit seinem Vermerk über die Eilbedürftigkeit der Berufungsbegründung auch nicht außer Vollzug gesetzt. Schließlich kann ihm als Verschulden nicht angelastet werden, er hätte sich erinnern müssen, die Berufungsbegründungsschrift nicht unterschrieben zu haben. Das Gericht hat dabei einen Sachverhalt unterstellt, der sich weder aus dem Sachvortrag noch aus dem zeitlichen Zusammenhang ergibt. Da das unterschriebene Original der Berufungsbegründung nur zwei Tage nach dem Fax auf dem Postweg beim Gericht eingegangen ist, kann ebenso davon ausgegangen werden, dass der Prozessbevollmächtigte das Original zwar unterschrieben hatte, entgegen seiner Anweisung aber ein nicht unterschriebenes Doppel per Fax abgesandt worden ist.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. BVerfGE 79, 365 <366>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.






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Beschluss v. 26.04.2004
Az: 1 BvR 1819/00


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