Hessischer Verwaltungsgerichtshof:
Beschluss vom 10. Januar 1986
Aktenzeichen: 9 TG 857/85

(Hessischer VGH: Beschluss v. 10.01.1986, Az.: 9 TG 857/85)

Gründe

I. Die Antragsteller sind äthiopische Staatsangehörige, die im März 1985 vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als Asylberechtigte anerkannt wurden und denen eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Landes Westberlin unbefristet erteilt wurde. Die Antragsteller zu 1. und 2. sind miteinander verheiratet. Die Antragsteller zu 3., 4. und 5. sind die Kinder der Antragsteller zu 1. und 2..

Während des asylrechtlichen Anerkennungsverfahrens waren die Antragsteller im Landkreis Fulda in der Gemeinschaftsunterkunft Geringshof untergebracht. Nach dem Abschluß des Anerkennungsverfahrens wurden sie vom Landkreis Fulda aufgefordert, die Gemeinschaftsunterkunft zu verlassen. Gleichzeitig bot der Landkreis Fulda ihnen Hilfe bei der Beschaffung einer Wohnung für den Fall an, daß sie weiterhin im Landkreis Fulda wohnen bleiben wollten. Die Antragsteller begaben sich jedoch am 8. März 1985 nach Frankfurt am Main, wo sie vorübergehend von einem befreundeten Landsmann und dessen Bruder in deren 1 1/2 - Zimmerappartement aufgenommen wurden.

Am 13. März 1985 beantragten die Antragsteller bei dem Sozialamt der Antragsgegnerin unter Hinweis auf ihre Mittellosigkeit die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Die Antragsgegnerin gewährte den Antragstellern Barleistungen entsprechend den Regelsätzen nach § 22 BSHG, lehnte jedoch die Bewilligung von Leistungen für die Unterkunft und die Bereitstellung einer Unterkunft ab. Eine Rechtsbehelfsbelehrung wurde den Antragstellern - soweit ersichtlich - nicht erteilt.

Am 25. März 1985 haben die Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt, durch die die Antragsgegnerin verpflichtet werden sollte, ihnen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Sie haben geltend gemacht, sie seien nach Frankfurt gekommen, weil sie dort einen größeren äthiopischen Bekanntenkreis vorfänden, von dem sie sich Hilfe bei ihrer Integration erhoffen könnten. In Fulda könnten sie solche Hilfe nicht erwarten. Überdies wollten sie in Frankfurt am Main Deutschkurse besuchen. Derartige Kurse würden in Fulda nicht angeboten. Ein weiterer Verbleib in der Wohnung ihres Bekannten sei wegen der beengten räumlichen Verhältnisse nicht möglich. Schon mit Rücksicht auf ihre schwarze Hautfarbe ständen sie vor ungewöhnlichen Problemen bei der Beschaffung geeigneten Wohnraums. Da sie überdies über keinerlei Deutschkenntnisse verfügten, seien alle Bemühungen um die Anmietung einer Wohnung von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Das Verwaltungsgericht. Frankfurt am Main verpflichtete die Antragsgegnerin durch Beschluß vom 12. April 1985 - VII/2 G 637/85 -, den Antragstellern eine Unterkunft im Gebiet der Stadt Frankfurt am Main oder im Einzugsbereich des Frankfurter Verkehrsverbundes zur Verfügung zu stellen.

Zur Begründung dieser Entscheidung führte es aus, die Antragsgegnerin sei nach § 72 BSHG verpflichtet, den Antragstellern bei der Wohnraumbeschaffung behilflich zu sein. Es sei glaubhaft, daß sie sich nicht selbst mit Wohnraum versorgen könnten. Die Antragsteller hätten substantiiert dargelegt, daß die Antragsgegnerin über freie Zimmer in den Gemeinschaftsunterkünften A.-straße und K.-straße sowie über leerstehende Wohnungen im Gebiet der Stadt Frankfurt am Main verfüge. Selbst wenn der der Antragsgegnerin zur Verfügung stehende Wohnraum im Stadtgebiet Frankfurt am Main nicht ausreichen sollte, um alle Asylberechtigten, die sich in gleicher Situation wie die Antragsteller befänden, unterzubringen, müsse die Antragsgegnerin den Antragstellern durch die Bereitstellung einer Unterkunft im Einzugsbereich des Verkehrsverbundes Frankfurt am Main helfen. Es sei nicht ermessensgerecht, wenn die Antragsgegnerin von den Antragstellern verlange, daß diese von dem Hilfsangebot des Landkreises Fulda Gebrauch machten. Ein solches Ansinnen höhle das durch Art. 6 der Verfassung des Landes Hessen garantierte Recht auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit aus.

Gegen diesen Beschluß richtet sich die am 24. April 1984 eingegangene Beschwerde der Antragsgegnerin.

Diese trägt vor, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts verfüge sie nicht über ausreichenden Wohnraum im Stadtgebiet Frankfurt am Main, um die zahlreichen anerkannten Asylberechtigten unterbringen zu können, die sich in letzter Zeit bei ihr gemeldet hätten. Zur Zeit habe sie rund 100 Obdachlose in Hotels untergebracht. Diese würden nach und nach in die vorhandenen Gemeinschaftsunterkünfte und Sozialwohnungen umgesetzt. Beim Wohnungsamt Frankfurt am Main seien derzeit zwischen 7.000 und 8.000 Wohnungssuchende gemeldet. Überdies habe das Verwaltungsgericht unberücksichtigt gelassen, daß sie - die Antragsgegnerin - wegen ihres extrem hohen Ausländeranteiles an der Gesamtbevölkerung (fast 30 %) bereits jetzt besonders stark mit den sich hieraus ergebenden Folgeproblemen belastet sei (zunehmende Desintegration und Ghettobildung, Arbeitslosigkeit). Demgegenüber sei bekannt, daß die Integration von Ausländern in kleineren, überschaubaren Gemeinden wesentlich leichter und besser gelinge. Sie - die Antragsgegnerin biete den Antragstellern eine Versorgung mit familiengerechten Wohnungen im Raum Fulda an. Sollte wider Erwarten eine Wohnraumversorgung der Antragsteller im Raum Fulda nicht möglich sein, so werde sie - die Antragsgegnerin den erforderlichen Wohnraum im Bereich des Frankfurter Verkehrsverbundes zur Verfügung stellen. Die Chancen der Antragsteller, in Frankfurt am Main eine Arbeit zu finden, seien wegen des hohen Ausländeranteils der Frankfurter Bevölkerung inzwischen nicht größer als in Fulda. Im übrigen kämen zahlreiche in Frankfurt am Main arbeitende deutsche Pendler aus dem Raum Fulda. Es gehe nicht an, die Antragsteller durch eine Versorgung mit Wohnraum im Einzugsbereich des Frankfurter Verkehrsverbundes zu privilegieren und hierdurch andere Bevölkerungsgruppen zu verdrängen, denen dann erhebliche Wege zur Arbeit zugemutet werden müßten. Ein solches Verfahren würde von der deutschen Bevölkerung nicht akzeptiert. Angesichts des Wohnungsangebots im Raum Fulda fehle es an einem Anordnungsgrund für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluß des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 12. April 1985 - VII/2 G 637/85 aufzuheben, soweit dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stattgegeben worden ist; und den Antrag auf den Erlaß einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Die Antragsteller beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen und ihnen Prozeßkostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin S.-M./Frankfurt am Main, zu bewilligen.

Sie tragen ergänzend vor, die Antragsgegnerin habe entgegen ihren Behauptungen bisher alle Asylberechtigten erithreischer Herkunft in den Gemeinschaftsunterkünften K.straße, S.-straße und Hans-Thoma-Straße unterbringen können. Überdies ständen Sozialwohnungen nicht nur in Fulda, sondern auch in Frankfurt am Main leer. Die Rückkehr nach Fulda sei ihnen nicht zumutbar, weil sie dort nicht über persönliche Bekannte verfügten, auf die sie nach dem Verlassen ihres bisherigen Lebenskreises in besonderem Maße angewiesen seien. Eine schnelle Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse setze Kontakte und Erfahrungsaustausch mit Landsleuten voraus, die bereits länger in Deutschland lebten und Fuß gefaßt hätten. Überdies wirkten sich bei der Integration die Vielzahl der Beratungs- und Hilfsangebote in der Stadt Frankfurt am Main vorteilhaft aus (Zentralstelle für Flüchtlinge, Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge, Sprachkurse des Arbeitsamts). Seit dem 1. Juli 1985 besuche der Antragsteller zu 1. einen Deutschkursus in der Bachschule in Frankfurt am Main. Die Antragstellerin zu 2. werde vom 2. Dezember 1985 bis zum 14. Juli 1986 ebenfalls einen Sprachkurses in der Bachschule absolvieren. Die Anmeldung dort sei bereits erfolgt. Der Unterricht finde an fünf Werktagen der Woche statt.

Ein Antrag auf Wohnraumvermittlung, den sie beim Wohnungsamt der Stadt Frankfurt am Main hätten stellen wollen, sei von dort zurückgewiesen worden. Eine Sozialarbeiterin, die sie um Hilfe bei der Wohnraumbeschaffung gebeten hätten, habe ihnen bisher nicht helfen können. Im übrigen ergäben sich die Schwierigkeiten, denen sie bei ihren Bemühungen um eine Wohnung entgegenständen, aus einem Schreiben des Sozialdienstes für Flüchtlinge/ Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main an ihre Prozeßbevollmächtigte vom 5. November 1985.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die die Antragsteller betreffende Sozialhilfeakte der Antragsgegnerin, die zum Gegenstand der Beratung gemacht wurde, sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Dem Prozeßkostenhilfeantrag der Antragsteller für das Beschwerdeverfahren war nach § 166. VwGO i.V.m. §§ 114, 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO stattzugeben. Einer Prüfung der Erfolgsaussichten bedurfte es nach § 119 Satz 2 ZPO nicht.

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist nur begründet, soweit sie sich auf die Zeit nach dem 31. Juli 1986 bezieht.

In Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, daß die Antragsteller einen Sachverhalt

glaubhaft gemacht haben, aufgrund dessen die Antragsgegnerin verpflichtet ist, den Antragstellern eine Unterkunft im Einzugsbereich des Frankfurter Verkehrsverbundes bis zum 31. Juli 1986 zur Verfügung zu stellen. Auch haben die Antragsteller einen Anordnungsgrund für den Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO glaubhaft gemacht.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG erhält Hilfe zum Lebensunterhalt derjenige, der seinen Lebensbedarf nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann. Nach § 12 Abs. 1 BSHG umfaßt der notwendige Lebensbedarf auch die Unterkunft. Zuständiger Sozialhilfeträger ist nach § 97 Abs. 1 BSHG grundsätzlich der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Hilfesuchende tatsächlich aufhält. Da die Antragsteller sich seit dem 8. März 1985 im Gebiet der Stadt Frankfurt aufhalten, ist die Antragsgegnerin der für die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt örtlich zuständige Sozialhilfeträger. Dies wird von ihr auch nicht bestritten.

Zwar ist der Sozialhilfeträger im Regelfall nicht verpflichtet, Hilfesuchenden eine Unterkunft durch die Bereitstellung von Wohnraum zu beschaffen, sondern hält sich im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens (§ 4 Abs. 2 BSHG), wenn er die Mietkosten für eine von dem Hilfesuchenden selbst gemietete (angemessene) Wohnung übernimmt. § 72 Abs. 1 BSHG bestimmt jedoch, daß Personen, bei denen besondere soziale Schwierigkeiten der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen, Hilfe zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu gewähren ist, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht in der Lage sind. Die Hilfe nach § 72 BSHG umfaßt nach seinem Abs. 2 alle Maßnahmen, die zum Ziel haben, dem Hilfesuchenden die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft erstmalig oder wieder zu ermöglichen oder spürbar zu erleichtern. Zu den hier vorgesehenen Hilfen gehören auch Maßnahmen zur Beschaffung einer Wohnung. Nach § 1 Abs. 2 Ziffer 1 der Verordnung zur Durchführung des § 72 BSHG vom 9. Juni 1976 - BGBl. I -S. 1469 - können die besonderen Verhältnisse, die eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft erschweren oder unmöglich machen, auch im Fehlen einer ausreichenden Unterkunft bestehen. Zwar entscheidet der Sozialhilfeträger auch in den Fällen, in denen Hilfe nach § 72 Abs. 1 BSHG zu gewähren ist, über Art und Umfang der Hilfsmaßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen, so daß dem Sozialhilfeträger auch bei bestehender Obdachlosigkeit grundsätzlich die Wahl bleibt, ob er dem Hilfesuchenden durch die Bereitstellung einer Unterkunft (als Sachleistung) oder auf andere Weise (etwa durch Hilfe bei der Wohnungssuche) die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern will. Jedoch ist der dem Sozialhilfeträger zustehende Ermessensspielraum ausnahmsweise dann auf Null reduziert, wenn dem Hilfesuchenden in Anbetracht seiner besonderen Lage nur durch die Bereitstellung einer für den Träger der Sozialhilfe verfügbaren Unterkunft die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden kann (so bereits die Beschlüsse des erkennenden Senats vom 16. Mai 1983 - IX TG 188/82 - und vom 8. September 1983 - IX TG 55/83).

Ein solcher Fall ist hier gegeben. Der vorliegende Fall weist Besonderheiten auf, die den der Antragsgegnerin im Rahmen des § 72 Abs. 1 BSHG zustehenden Ermessensspielraum in der Weise einschränken, daß sie jedenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum verpflichtet ist, den Antragstellern eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, wobei dies bis zum 31. Juli 1986 im Einzugsgebiet des Frankfurter Verkehrsverbundes - hierzu gehört auch das Frankfurter Stadtgebiet - geschehen muß. Der Senat hält es unter Berücksichtigung der Angaben der Antragsteller, des von ihnen vorgelegten Schreibens des Sozialdienstes für Flüchtlinge vom 5. November 1985 sowie der Schwierigkeiten, denen die Antragsteller in Anbetracht ihrer Verständigungsschwierigkeiten und ihres fremdländischen Aussehens bei der Wohnungssuche nach allgemeiner Lebenserfahrung gegenüberstehen, für glaubhaft, daß sie selbst derzeit außerstande sind, ein Wohnung in Frankfurt oder im sonstigen Einzugsbereich des Verkehrsverbundes Frankfurt zu erhalten. Diese Überzeugung des Senats wird verstärkt dadurch, daß sogar das Wohnungsamt der Antragsgegnerin sich nach der unwidersprochen gebliebenen Darstellung der Antragsteller weigert, deren Antrag auf Wohnraumvermittlung entgegenzunehmen.

An der Hilflosigkeit der Antragsteller ändert sich auch nichts dadurch, daß der Landkreis Fulda den Antragstellern Hilfe bei der Wohnungsbeschaffung für den Fall angeboten hat, daß sie im Raum Fulda bleiben wollten. Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, daß der Antragsteller zu 1. seit Juli 1985 und die Antragstellerin zu z. seit Dezember 1985 auf Kosten des Arbeitsamts Frankfurt am Main die Bach-Schule in Frankfurt besuchen, um dort an fünf Tagen der Woche am Deutschunterricht teilzunehmen. Die tägliche Unterrichtsdauer umfaßt dabei sieben Stunden. Dies ergibt sich aus den von den Antragstellern in Fotokopie vorgelegten Unterrichtsbescheinigungen der Bach-Schule in Verbindung mit einer in den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin befindlichen Mitteilung des Arbeitsamts Frankfurt am Main vom 14. März 1985.

Für die Dauer des Besuches der Bach-Schule ist den Antragstellern ein tägliches Pendeln zwischen einer Wohnung im Raum Fulda und der Stadt Frankfurt am Main nicht zumutbar. Einerseits müssen die Antragsteller zu 1. und 2., die im Dezember 1985 und Januar 1986 gleichzeitig die Bach-Schule besuchen, während ihrer Abwesenheit die Betreuung ihrer drei Kinder sicherstellen. Ein tägliches Pendeln zwischen einer Wohnung im Raum Fulda und der Bach-Schule in Frankfurt am Main brächte insoweit erhebliche zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Es kommt hinzu, daß das Pendeln der Antragsteller mit beträchtlichen Kosten verbunden wäre, die letztlich aus öffentlichen Mitteln übernommen werden müßten. Eine Verweisung der Antragsteller auf eine Wohnung im Raum Fulda, die lediglich darauf hinausliefe, die aus öffentlichen Mitteln aufzubringenden Kosten für den Lebensbedarf der Antragsteller zu erhöhen und die Teilnahme der Antragsteller am Unterricht der Bach-Schule zu erschweren, wäre nach der Auffassung des Senats ermessensfehlerhaft. Zumindest bis zu dem Ende des Monats, in dem die Antragstellerin zu 2. die Bach-Schule in Frankfurt am Main besucht, ist die Antragsgegnerin daher verpflichtet, den Antragstellern eine Unterkunft im Einzugsbereich des Verkehrsverbundes Frankfurt am Main zur Verfügung zu stellen. Die Tatsache, daß die Antragsgegnerin die Antragsteller nach deren Vorbringen im Schriftsatz vom 26. Juni 1985 gegenwärtig in einer Gemeinschaftsunterkunft in Frankfurt am Main untergebracht hat, zeigt auch, daß insoweit nichts Unmögliches von der Antragsgegnerin verlangt wird.

Jedoch ist ein Anspruch der Antragsteller auf Unterbringung im Einzugsbereich des Frankfurter Verkehrsverbundes für die Zeit nach dem 31. Juli 1986 nicht glaubhaft gemacht.

Abgesehen davon, daß zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts darüber gesagt werden kann, ob die Antragsteller auch nach dem 31. Juli 1986 außerstande sein werden, sich selbst mit Wohnraum zu versorgen, ist es nach der Auffassung des Senats nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Antragsgegnerin die Antragsteller nach der Beendigung ihrer Sprachkurse an der Bach-Schule außerhalb des Einzugsbereichs des Verkehrsverbundes Frankfurt am Main mit Wohnraum versorgt. Zwar garantiert Art. 26 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (ratifiziert durch Gesetz vom 1. September 1953 - BGBl. I S. 959) den unter die Konvention fallenden Flüchtlingen die Freizügigkeit. Nach der genannten Bestimmung gewährt jeder vertragsschließende Staat den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in seinem Gebiet befinden, das Recht, dort ihren Aufenthalt zu wählen und sich frei zu bewegen, vorbehaltlich der Bestimmungen, die allgemein auf Ausländer unter den gleichen Umständen Anwendung finden. Nach § 3 des Asylverfahrensgesetzes vom 16. Juli 1982 (BGBl. I S. 946), geändert durch das erste Änderungsgesetz vom 11. Juli 1984 (BGBl. I S. 874) P genießen Asylberechtigte im Geltungsbereich des Asylverfahrensgesetzes die Rechtsstellung nach der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951. Eine gesetzliche Beschränkung der Freizügigkeit von Asylberechtigten ist in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig nicht vorgesehen. Den Antragstellern steht es folglich frei, ihren Aufenthalt dort zu nehmen, wo sie ihn nehmen wollen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß ihnen von einem Träger der Sozialhilfe auch Wohnraum an dem Ort zur Verfügung gestellt werden müßte, an dem sie ihren Wohnsitz nehmen wollen. Ebensowenig wie aus der in Art. 11 Grundgesetz garantierten Freizügigkeit für deutsche Staatsangehörige gefolgert werden kann, daß an dem Ort, an dem sich ein deutscher Staatsangehöriger niederlassen will, ihm eine tragfähige Lebensgrundlage, insbesondere eine Wohnung und Beschäftigung, zur Verfügung gestellt werden muß (vgl. hierzu Randelzhofer in Bonner Kommentar zum Grundgesetz Art. 11 Anmerkungen 21 und 23; ebenso auch von Münch, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 11 Anm. 18: "Art. 19 Abs. 1 gibt keinen Anspruch auf Leistungen, die das Verbleiben an einem Ort oder den Ortswechsel praktisch ermöglichen") kann ein Anspruch auf die Bereitstellung von Wohnraum an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Region aus Art. 26 der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 oder aus Art. 6 der Verfassung des Landes Hessen hergeleitet werden.

Allerdings wird in der Literatur und Rechtsprechung eine Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 Grundgesetz dann angenommen, wenn staatliches Handeln - auch im Bereich der Leistungsverwaltung auf eine Einschränkung der Freizügigkeit zielt (vgl. hierzu von Münch, Kommentar zum Grundgesetz. Art. 11 Anm. 19). So ist es nach der Rechtsprechung des VGH Mannheim (NDV 1982, S. 365 f.) dem Träger der Sozialhilfe wegen Art. 11 Abs. 1 Grundgesetz verwehrt, Nichtseßhaften nur deshalb eine Hilfeleistung zu versagen, weil in seinem örtlichen Bereich bereits eine erhebliche Anzahl Nichtseßhafter vorhanden ist. Ebenso wie es gegen das allen Deutschen durch Art. 11 GG gewährleistete Recht auf Freizügigkeit verstößt, wenn ein Träger der Sozialhilfe Nichtseßhafte durch die Form der Hilfegewährung von seinem örtlichen Bereich fernzuhalten oder zur Weiterwanderung zu bewegen versucht, verstößt es nach der Auffassung des Senats gegen das Recht der Antragsteller aus Art. 26 der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951, wenn die Antragsgegnerin den steigenden Ausländeranteil an ihrer Gesamtbevölkerung dadurch zu reduzieren sucht, daß

sie diesem Personenkreis im Bedarfsfall grundsätzlich Wohnungen in solchen Regionen verschafft, die von ihrem

Stadtgebiet weit entfernt sind. Dem steigenden Ausländeranteil bestimmter Städte und Gemeinden könnte nur durch ein Gesetz begegnet werden, das die Freizügigkeit dieses Personenkreises einschränkt, wie dies in Art. 26 der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 ausdrücklich vorgesehen ist. Indessen hat die Antragsgegnerin den Antragstellern ein

Wohnraumangebot in Fulda nicht nur mit dem Hinweis darauf gemacht, daß der Ausländeranteil in Frankfurt bereits überdurchschnittlich hoch sei, sondern auch unter Hinweis darauf, daß sie in Frankfurt nicht über genügend Wohnraum verfüge, um außer den einheimischen Obdachlosen, Nichtseßhaften und ihr zugewiesenen Asylbewerbern auch alle Asylberechtigten unterzubringen, die bei ihr um Unterbringung nachsuchten. Sie hat glaubhaft vorgetragen, daß sie einen Teil dieses Personenkreises in Hotelzimmern unterbringen müsse, wobei erfahrungsgemäß besonders hohe Unterkunftskosten entstehen. Bei dieser Sachlage erscheint es sachgerecht, wenn die Antragsgegnerin obdachlosen Asylberechtigten, bei denen keine besonderen Gründe die Zuweisung einer Unterkunft im Gebiet der Stadt Frankfurt oder in dessen näherer Umgebung zwingend erfordern, Wohnungen anbietet, die - wie diejenigen im Raum Fulda - weiter von der Stadt Frankfurt entfernt sind. Erfolgt die Unterbringung von Asylberechtigten deshalb außerhalb des Gebiets eines Sozialhilfeträgers, weil im Gebiet des Sozialhilfeträgers überhaupt keine oder keine preiswerten Wohnungen zur Verfügung stehen, so zielt die fürsorgerische Maßnahme nicht auf eine Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit, sondern ist eine zwangsläufige Folge des örtlichen Wohnraumangebots bzw. der Notwendigkeit, die für Sozialhilfeleistungen zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel sparsam einzusetzen. Ein Anspruch der Antragsteller darauf, daß die Antragsgegnerin ihnen auch nach dem 31. Juli 1986 Wohnraum im Einzugsbereich des Verkehrsverbundes Frankfurt am Main zur Verfügung stellt, ist unter den gegebenen Umständen daher nicht glaubhaft gemacht.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 188 Satz 2 VwGO. Im Hinblick darauf, daß die Antragsteller den Zeitraum, für den sie von der Antragsgegnerin die Bereitstellung einer Unterkunft verlangen, zeitlich nicht begrenzt haben, erschien es angemessen, den Antragstellern und der Antragsgegnerin die Hälfte der Kosten beider Instanzen aufzuerlegen. Da Verfahren auf dem Gebiet der Sozialhilfe nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei sind, betrifft die Kostentragungspflicht der Beteiligten nur die beiderseitigen außergerichtlichen Auslagen.

Die Festsetzung des Gegenstandswertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 8, 10 BRAGO i.V.m. §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 GKG analog. Die Abänderung des vom Verwaltungsgericht festgesetzten Gegenstandswertes folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 25 Abs. 1 Satz 3 GKG.

Der Senat ist bei der Wertfestsetzung davon ausgegangen, daß der Gegenstandswert je Antragsteller in Ermangelung näherer Anhaltspunkte in einem Hauptsacheverfahren mit 4.000,-- DM anzusetzen wäre (§ 13 Abs. 1 Satz 2 GKG). Im vorliegenden Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hält der Senat eine Reduzierung des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Gegenstandswertes auf die Hälfte für angezeigt.

Dieser Beschluß ist nach § 152 Abs. 1 Satz 1 VwGO unanfechtbar.






Hessischer VGH:
Beschluss v. 10.01.1986
Az: 9 TG 857/85


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/3e23cb64f6ac/Hessischer-VGH_Beschluss_vom_10-Januar-1986_Az_9-TG-857-85




Diese Seite teilen (soziale Medien):

LinkedIn+ Social Share Twitter Social Share Facebook Social Share