Verwaltungsgericht Düsseldorf:
Urteil vom 9. Dezember 2005
Aktenzeichen: 11 K 7450/04

(VG Düsseldorf: Urteil v. 09.12.2005, Az.: 11 K 7450/04)

Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Januar 2004 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E1 vom 3. November 2004 verpflichtet, der Klägerin die unter dem 23. September 2003 beantragte Befreiung nach § 31 Abs. 2 des Baugesetzbuches für die Errichtung und Erweiterung einer Mobilfunkanlage auf dem Dachstandort L1straße 11 - 13 in 00000 L (Gemarkung G1) zu erteilen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

Die Klägerin ist eine Gesellschaft im Konzern der U AG, deren Kerngeschäft in der Bereitstellung von Antennenträgern besteht, die sie bundesweit realisiert, betreibt und Funkdienstbetreibern, insbesondere der U-Mobile Deutschland GmbH, zur Verfügung stellt.

Sie betreibt bereits seit längerem ohne Baugenehmigung eine Mobilfunkanlage mit GSM-Antennen auf dem Dachstandort L1straße 11-13 in 00000 L (Gemarkung G1), der in einem durch den Bebauungsplan Nr. 146 aus dem Jahre 1976 festgesetzten reinen Wohngebiet liegt. Das Antennentragrohr hat eine Höhe von 9,385 m ab Dachaustritt, der seinerseits in einer Höhe von etwa 11 m liegt.

Unter dem 23. September 2003 beantragte die Klägerin beim Beklagten eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 des Baugesetzbuches (BauGB) für die Errichtung der bereits vorhandenen Mobilfunkanlage und deren Erweiterung für den UMTS-Betrieb mit Austausch der drei Antennen, die jeweils eine Höhe von 2,10 m, eine Breite von etwa 25 cm und eine Tiefe von etwa 12 cm besitzen und am oberen Ende des Tragrohres angebaut werden. In dem beigefügten Memorandum der U-Mobile Deutschland GmbH vom 18. September 2003 heißt es: Mit dem Mobilfunkstandort solle das Wohn-, Geschäfts- und Gewerbegebiet nördlich von L-V versorgt werden. Außerdem diene der Standort der Versorgung eines Teilbereichs der Bahnstrecke von Vnach E2 . Ohne die Sendeanlage wäre dieser Bereich nur unzureichend und in weiten Teilen gar nicht mit Mobilfunk (U-D1 und UMTS) versorgt. Sie sei daher insoweit aus funktechnischer Sicht zwingend erforderlich. Zu den Nachbarstationen würden bestimmte Abstände eingehalten, von denen nur innerhalb einer begrenzten Toleranz abgewichen werden könne, um nicht die gesamte Netzstruktur funktionsunfähig werden zu lassen.- Dem Antrag ebenfalls beigefügt war eine Standortbescheinigung der damaligen Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP) vom 18. September 2003 zum Nachweis der Gewährleistung des Schutzes von Personen in den durch den Betrieb von ortsfesten Funkanlagen entstehenden elektromagnetischen Feldern nach den Regelungen der Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung elektromagnetischer Felder (BEMFV).

Auf die Aufforderung des Beklagten, die geprüften Alternativstandorte außerhalb des reinen Wohngebietes darzustellen, ergänzte die U-Mobile Deutschland GmbH ihre Standortbegründung unter dem 3. Dezember 2003 wie folgt: Im Vorfeld seien innerhalb eines bestimmten Suchkreises vier Alternativen geprüft worden (E2 Str. Tor 1, Tstr. 10, E2 Str. 53 und L1str. 16). Bei allen Objekten hätten die Eigentümer abgesagt.

Daraufhin lehnte der Beklagte die Befreiung mit Bescheid vom 26. Januar 2004 ab und führte hierzu aus: Gründe für eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes seien nicht erkennbar. Das beantragte Bauvorhaben zähle nicht zu den Nutzungen, die nach § 3 der Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke (Baunutzungsverordnung - BauNVO) in einem reinen Wohngebiet ausnahmsweise zugelassen werden könnten. Mobilfunkanlagen seien nämlich Bestandteil eines gewerblich betriebenen Mobilfunknetzes und damit planungsrechtlich als gewerbliche Nutzungen zu beurteilen. Eine bauplanungsrechtliche Zulässigkeit lasse sich auch nicht aus § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO herleiten, weil die Anlage weder dem Baugebiet selbst, noch seinem Nutzungszweck diene. Des weiteren liege der geplante Standort in unmittelbarer Nachbarschaft zu den sensiblen Nutzungen der Ischule in ca. 50 m, des Kindergartens L2weg 13 in ca. 30 m und des Kindergartens L1str. 24 in ca. 80 m Entfernung.

Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch trug die Klägerin vor: Das Vorhaben sei bereits als Ausnahme gemäß § 31 Abs.1 BauGB in Verbindung mit §§ 3, 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO zulässig, da die Antennenanlage ein untergeordneter Bestandteil eines übergreifenden Versorgungssystems mit Mobilfunkdienstleistungen sei und damit eine fernmeldetechnische Nebenanlage darstelle. Jedenfalls aber seien die Voraussetzungen der beantragten Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB gegeben. Die Grundzüge der Planung würden durch die Mobilfunkanlage am betreffenden Standort nicht berührt. Es genüge insoweit, dass die bauliche Anlage keine prägende Wirkung auf das Baugebiet habe und den Nutzungscharakter des Baugebietes nicht entgegen seiner gesetzlichen Typik ändere. Die Mobilfunkstation sei dem Hauptzweck des Baugebietes, der Wohnnutzung zu- und untergeordnet. Die Mobilfunkkommunikation sei zwar nicht notwendig an die Wohnnutzung gekoppelt, aber in deren Rahmen eine in heutiger Zeit erwartete Nutzung. Speziell die UMTS- Anlage halte sich aufgrund ihrer geringen Reichweite von 100-2.000 m auch im Rahmen der Versorgungsreichweite des Wohngebietes. Zudem besitze die Anlage keinerlei Störungspotential. Darüber hinaus sei die Befreiung aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB erforderlich, d.h. vernünftigerweise geboten, da der Bau der Antenne an dem geplanten Ort notwendig sei, um die flächendeckende Mobilfunkversorgung technisch gewährleisten zu können, für die ein öffentlichrechtlicher Auftrag bestehe (§§ 17, 18 des Telekommunikationsgesetzes vom 25. Juli 1996 (BGBl. I, S. 1120) - TKG 1996). Zumindest sei die Anlage jedoch gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB städtebaulich vertretbar, weil sie Ergebnis einer bauleitplanerischen Abwägung nach § 1 BauGB sein könnte, und aufgrund dessen, dass sie den Gebietscharakter in seiner gesetzlichen Typik nicht verändere, die Grundzüge der Bauleitplanung nicht beeinträchtigt seien. Die Abweichung sei auch unter Berücksichtigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Das Vorhaben berühre keine nachbarschützenden Vorschriften. Insbesondere werde die Gebietsart nicht beeinträchtigt. Von ihm gingen auch keine schädlichen Umwelteinwirkungen aus. Wie sich aus der Standortbescheinigung der RegTP ergebe, halte das Bauvorhaben die in der Sechsundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes- Immissionsschutzgesetzes (26. BImSchV) genannten Grenzwerte und Sicherheitsabstände ein. Da dem Vorhaben vor diesem Hintergrund keine gewichtigen Interessen mit städtebaulichem Bezug entgegenstünden, sei das in § 31 Abs. 2 BauGB grundsätzlich vorgesehene Ermessen des Beklagten auf Null reduziert.

Die Bezirksregierung E1 wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 3. November 2004 als unbegründet zurück und führte hierzu aus: Die Annahme eines Erfordernisses der Befreiung aus Gründen des Allgemeinwohls scheide von vornherein aus, da es sich vorliegend ausschließlich um privates Interesse handele. Die Bereitstellung eines Mobilfunknetzes zähle nach § 78 des Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 (BGBl. I, S. 1190) - TKG 2004) nicht zur unabdingbaren Grundversorgung. Einen diesbezüglichen öffentlich- rechtlichen Versorgungsauftrag gebe es somit nicht. Im übrigen sei der Bau am geplanten Ort aber auch nicht erforderlich, da es nach eigenen Angaben vier Standortalternativen gebe. Dass die dortigen Eigentümer einer entsprechenden Nutzung nicht zugestimmt hätten, sei baurechtlich irrelevant. Auch seien städtebauliche Gründe, die eine Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes aus dem Jahre 1976 rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Das Vorhaben stelle eine gewerbliche Nutzung dar und berühre als solches die Grundzüge der Planung. Zudem sei § 14 Abs. 2 BauNVO 1990 nicht anwendbar. Des weiteren sei die geplante Anlage auch keine Nebenanlage im Sinne des § 14 Abs. 1 BauNVO 1968, da sie nicht nur dem Nutzungszweck des Baugebiets, sondern der Versorgung des Stadtgebiets dienen soll. Hinzukomme, dass die Mobilfunkanlage Teil eines übergreifenden Netzes sei, welches die Inanspruchnahme der angebotenen Telekommunikationsmöglichkeiten gewährleiste, und zwar unabhängig davon, an welchem Ort innerhalb des Netzes sich der jeweilige Nutzer gerade befinde. Die Mobilfunkanlage habe außerdem planungsrechtliche Relevanz, da sie das Ortsbild berühre. Mit 9,385 m über Dach und einer Gesamthöhe von 21 m erreiche die geplante Anlage eine Höhe, die eine städtebauliche Betrachtung und Ordnung verlange, da der Bebauungsplan in der Umgebung lediglich eine zwei- bis dreigeschossige Bebauung festsetze und der Standort an einer Kreuzung außerordentlich exponiert sei. Die dritte Alternative des § 31 Abs. 2 BauGB sei ebenfalls nicht einschlägig, da nicht schon mit einer unbilligen Benachteiligung oder einer sozialen Härte eine Härte im Sinne dieser Vorschrift verbunden sei. Schließlich seien nachbarliche Belange nicht hinreichend gewürdigt, da die festgelegte Gebietsart bei Umsetzung des gewerblichen Vorhabens nicht gewahrt würde.

Mit der am 26. November 2004 erhobenen Klage ergänzt die Klägerin ihr Vorbringen wie folgt: Bezüglich der durch den Bebauungsplan festgesetzten Art der baulichen Nutzung liege kein Eingriff in die Grundkonzeption der Planung vor. Insoweit komme es nicht auf die von der Widerspruchsbehörde befürchteten optischen Wirkungen der Anlage an, weil diese nicht der allein von §§ 1 - 15 BauNVO erfassten Art, sondern dem Maß der baulichen Nutzung zuzuordnen seien. Auch der gewerbliche Charakter einer Mobilfunkanlage spreche nicht für die Annahme einer Störung des Zwecks des Wohngebiets. Es komme allein darauf an, dass die Anlage keinerlei Störungspotential besitze. Bei der Frage des Erfordernisses der Befreiung aus Gründen des Allgemeinwohls sei zu berücksichtigen, dass sie gemäß Art. 87f Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) im Bereich der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu gewährleisten habe. Von diesem Auftrag werde auch der Mobilfunk erfasst. Hinsichtlich der Erforderlichkeit sei es baurechtlich relevant, dass sie keinen anderen geeigneten Standort innerhalb der zu versorgenden Funkzelle habe finden können. Da sie nicht die Möglichkeit der Enteignung habe, könne sie nur auf solche Alternativen verwiesen werden, die auch tatsächlich zur Verfügung stünden. Für die Frage der städtebaulichen Vertretbarkeit sei maßgeblich, dass die geplante Anlage eine fernmeldetechnische Nebenanlage im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO darstelle und bereits deshalb Inhalt eines Bebauungsplanes sein könnte. Dem Begriff der Nebenanlage sei gerade nicht immanent, dass die Anlage nur der Versorgung des Baugebietes diene. Eine derartige Einschränkung enthalte lediglich § 14 Abs. 1 BauNVO. Schließlich sei das Ermessen - wie dargelegt - auf Null reduziert. Mit der Umsetzung des Vorhabens sei auch keine Beeinträchtigung des Ortsbildes verbunden. Um sich auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens auswirken zu können, müsse eine solche Beeinträchtigung jedenfalls eine gewisse Erheblichkeit erreichen, die sich nach dem Verhältnis zwischen der optischen Auswirkung der baulichen Anlage und der Schutzwürdigkeit der betroffenen Ortssilhouette richte. In dem fraglichen Ortsteil sei keine gestalterisch hervorgehobene Bebauung erkennbar. In der Umgebung der dort errichteten Wohngebäude und einer Schule sei mit Dachaufbauten wie Schornsteinen, Fernsehantennen und technischen Anlagen wie Straßenlaternen und Strommasten zu rechnen. Der Ortsteil habe kein besonders schutzwürdiges Gepräge, mit dem ein schlanker Antennenmast unter 10 m Höhe unvereinbar wäre. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass von dem Wohngebiet eine direkte Sichtverbindung zum Werk der T1 AG und dem Chemiepark der C AG bestehe, die durch hohe Gebäude, Masten und Schornsteine geprägt seien. Eine Befreiung von dem im Bebauungsplan festgesetzten Maß der baulichen Nutzung sei entgegen der Ansicht der Widerspruchsbehörde nicht erforderlich. Das festgesetzte Maß von zwei bis drei Vollgeschossen werde von der Mobilfunkanlage nicht tangiert, da die Antenne zum einen kein zusätzliches Geschoss darstelle und zum anderen sich nicht innerhalb der die maßgebliche Fläche begrenzenden Gebäudeteile befinde.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Januar 2004 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E1 vom 3. November 2004 zu verpflichten, ihr die unter dem 23. September 2003 beantragte Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB für die Errichtung und Erweiterung einer Mobilfunkanlage auf dem Dachstandort L1straße 11 - 13 in 00000 L (Gemarkung G1) zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich zur Begründung auf die Gründe der Verwaltungsentscheidungen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Bezirksregierung E1 Bezug genommen.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Berichterstatter gemäß §§ 87a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anstelle der Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Ablehnung der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB für die Errichtung und Erweiterung einer Mobilfunkanlage auf dem Dachstandort L1straße 11 - 13 in 00000 L (Gemarkung G1) mit Bescheid des Beklagten vom 26. Januar 2004 und Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung E1 vom 3. November 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung dieser Befreiung.

Gemäß § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Gründzüge der Planung nicht berührt werden und 1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder 2. die Abweichung städtebaulich vertretbar oder 3. (...) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Die frühere Errichtung der Mobilfunkanlage wie auch ihre jetzt geplante Erweiterung für den UMTS-Betrieb weichen hinsichtlich der Art der Nutzung von den Festsetzungen des einschlägigen Bebauungsplanes der Stadt L Nr. 146 ab, der die Fläche, innerhalb derer der Antennenstandort liegt, als reines Wohngebiet ausweist. Denn die Mobilfunkanlage zählt weder zu den in einem reinen Wohngebiet gemäß § 3 Abs. 2, BauNVO grundsätzlich allein zulässigen Wohngebäuden noch zu den Betrieben, die dort gemäß § 3 Abs. 3 BauNVO ausnahmsweise zugelassen werden können. Bei ihr dürfte es sich zwar um eine fernmeldetechnische Nebenanlage im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO 1990 handeln,

- vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2005 - 10 B 2622/04 -, BauR 2005, 1284 (1286); OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2005 - 7 B 2752/04 -, BauR 2005, 1425 (1426 f.) -

die nach dieser Vorschrift ausnahmsweise auch in einem reinen Wohngebiet zugelassen werden kann. § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO 1990 ist hier jedoch nicht anwendbar. Denn die Regelungen der BauNVO werden grundsätzlich in der Fassung Bestandteil des Bebauungsplanes, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplanes gültig ist.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. November 1999 - 4 B 3.99 -, BRS 62 Nr. 82; OVG NRW, Urteil vom 8. Oktober 2003 - 7 A 1397/02 -, BRS 66 Nr. 92.

Der Bebauungsplan der Stadt L Nr. 146 ist jedoch bereits im Februar 1976 in Kraft getreten, so dass zunächst einmal die Regelungen der BauNVO 1968 in den Bebauungsplan eingeflossen sind. Der Satz 2 ist der Vorschrift des § 14 Abs. 2 BauNVO erst mit der Vierten Verordnung zur Änderung der BauNVO vom 23. Januar 1990 (BGBl. I, S. 127) angefügt worden. Er könnte daher allenfalls im Wege einer diesbezüglichen Änderung des Bebauungsplanes Bestandteil desselben geworden sein.

Vgl. BVerwG, a.a.O., das ausdrücklich auch auf den Zeitpunkt der Änderung abstellt.

Dass eine der Änderungen des Bebauungsplanes Nr. 146 Bezug zur hier fraglichen Festsetzung eines reinen Wohngebietes im Straßengeviert L1-, L2-, B- und T2straße hat, ist indes nicht ersichtlich.

Eine Abweichung hinsichtlich der Festsetzungen im Bebauungsplan über das Maß der baulichen Nutzung liegt dagegen nicht vor. Denn die Antennenanlage hat weder auf die Zahl der Vollgeschosse noch auf die Grund- oder Geschossflächenzahl (vgl. §§ 18 ff. BauNVO 1968) Auswirkungen, die insoweit allein im Bebauungsplan Nr. 146 festgesetzt worden sind.

Die Befreiung von der beschriebenen Festsetzung über die Art der baulichen Nutzung berührt die Grundzüge der Planung nicht. Nach ständiger Rechtsprechung

- vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. März 1999 - 4 B 5.99 -, BRS 62 Nr. 99 -

ist bei dieser Frage von folgenden Überlegungen auszugehen: Der Bebauungsplan, der nach § 10 Abs. 1 BauGB als Satzung zu beschließen ist, hat Rechtsnormcharakter. Seine Festsetzungen sind für das Baugenehmigungsverfahren grundsätzlich strikt verbindlich. Der Gesetzgeber stellt mit § 31 Abs. 2 BauGB ein Instrument zur Verfügung, das trotz dieser Rechtsbindung im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit und der Wahrung der Verhältnismäßigkeit für Vorhaben, die den Festsetzungen zwar widersprechen, sich mit den planerischen Vorstellungen aber gleichwohl in Einklang bringen lassen, ein Mindestmaß an Flexibilität schafft. Er knüpft die Befreiung indes an genau umschriebene Voraussetzungen. Durch das Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung stellt er sicher, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht beliebig durch Verwaltungsakt außer Kraft gesetzt werden. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 1 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 8 BauGB unverändert der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde. Diese Regelung darf weiterhin nicht durch eine großzügige Befreiungspraxis aus den Angeln gehoben werden. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist insoweit, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Sie darf - jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind - nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen.

Um eine solche Abweichung handelt es sich hier nicht. Die Zielsetzung der Stadt L geht hinsichtlich der Festsetzung eines reinen Wohngebietes im Bereich L1-, L2-, B- und T2straße ersichtlich dahin, dort ruhiges Wohnen zu ermöglichen (vgl. § 3 Abs. 1 BauNVO), d.h. eine bauliche Nutzung auszuschließen, die mit ruhigem Wohnen nicht vereinbar ist, während das Gebiet weiter östlich stärker gewerblich, jenseits der E2 Straße bis zum Rhein hin sogar industriell geprägt ist. Eine weitergehende Zielsetzung vermochte weder der Beklagte im Erörterungstermin darzulegen, noch ist sie sonst ersichtlich. Diesem planerischen Grundkonzept läuft die von der Klägerin begehrte Befreiung nicht zuwider. Dass es sich bei der von ihr betriebenen Mobilfunkanlage um eine gewerbliche Nutzung handelt,

- vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Februar 2003 - 10 B 2417/02 -, BRS 66 Nr. 89 -

steht dem nicht - wie im Widerspruchsbescheid angenommen - entgegen. Denn gewerbliche Nutzungen sind mit dem Charakter selbst eines reinen Wohngebietes nicht schlechthin unvereinbar.

Vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 6. Dezember 2004 - 1 ME 256/04 -, BauR 2005, 975 (982).

Dies wird bereits daran deutlich, dass gemäß § 3 Abs. 3 BauNVO in reinen Wohngebieten durchaus gewerbliche - allerdings nicht störende - Nutzungen ausnahmsweise zugelassen werden können. Vor dem Hintergrund dieser durch den Verordnungsgeber vorgenommenen Typisierung muss das Nebeneinander von schutzwürdiger Wohnnutzung und nicht störender gewerblicher Nutzung nicht grundsätzlich planerischen Grundzügen widersprechen.

Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. August 2003 - 1 A 10196/03 -, zitiert nach Juris.

Der besondere Schutz, der solchen Wohngebieten eigen ist, kann allerdings durch eine optisch außerordentlich dominierende Anlage oder durch sonstige Umstände, die sich negativ auf die Wohnnutzung auswirken könnten, beeinträchtigt werden.

Vgl. Niedersächsisches OVG, a.a.O.

Beides ist hier nicht der Fall.

Die von der Klägerin betriebene Mobilfunkanlage ist optisch nicht außerordentlich dominierend. In Betracht kommt dies von vornherein nur für die Antenne selbst, da die Unterkonstruktion und der Systemtechnikraum unter dem Dach liegen. Nach den vorgelegten Plänen ragt das bereits vorhandene und jetzt lediglich zur Umrüstung anstehende Antennentragrohr zwar gut 9,38 m aus dem Dach des Hauses L1straße 11 heraus. Dabei ist jedoch im Hinblick auf die optische Wirkung zu berücksichtigen, dass das Rohr den Dachfirst, der in einer Höhe von knapp 12,5 m liegt, nur noch um etwa 8,10 m überragt. Nichtsdestotrotz ist die Anlage angesichts der in dem fraglichen Baugebiet vorgeschriebenen zweigeschossigen Bebauung überdurchschnittlich hoch. Sie fällt indes aufgrund des schlanken Tragrohrs von etwa 20 cm Durchmesser mit verhältnismäßig flachen Antennenanbauten nicht besonders auf, dominiert die Umgebung jedenfalls nicht. Die vorhandenen wie auch die jetzt geplanten drei Anbauten liegen am oberen Ende des Tragrohrs, sind 2,10 m hoch und bilden zusammen von oben betrachtet nahezu einen Kreis mit einem Durchmesser von lediglich etwa 0,45 m. Angesichts der geringen Baumasse kommt der Antennenanlage auch aus der Ferne gesehen, insbesondere dem Bereich um die T2straße, in dem die Bebauung von der Höhe her abfällt, keine außerordentliche optische Dominanz zu, zumal auf der gegenüberliegenden Seite der L1straße im Bereich der Kreuzung mit der L2straße die vorhandene Bebauung dreigeschossig ist. Hinzu kommt, dass die optischen Auswirkungen der Höhe der Anlage durch die vorgeschriebene geschlossene Bauweise entlang der Häuserzeile L1straße/ L2straße vermindert werden.

Angesichts der geringen Baumasse einerseits und der im Ansatz gegebenen Vergleichbarkeit mit bei Wohngebäuden üblichen Anlagen wie Fernsehantennen andererseits, die die Mobilfunkanlage nicht deutlich vom Wohnen abheben,

- hierauf abstellend: OVG NRW, Beschluss vom 23. Juli 1998 - 10 B 1319/98 -, BRS 60 Nr. 64 -

fehlt es auch an Anhaltspunkten für eine Vorbildwirkung des Vorhabens der Klägerin. Außerdem spricht die von der Klägerin vorgelegte Übersicht zu geprüften Standortalternativen dafür, dass im betreffenden Gebiet nicht viele Gebäude für die Errichtung einer Mobilfunkanlage überhaupt in Betracht kommen. Von den insgesamt vier geprüften Alternativen liegt keine im hier fraglichen Baugebiet und nur zwei im Gebiet des Bebauungsplanes Nr. 146. Dass in allen vier Fällen die Eigentümer einer entsprechenden Nutzung ihrer Grundstücke widersprochen haben, untermauert die Einschätzung, dass es rein tatsächlich nicht zu einer für die Annahme einer Vorbildwirkung erforderlichen Vielzahl gleichgelagerter Fälle kommen wird. Hiergegen spricht auch, dass die Zahl der hierzulande konkurrierenden Mobilfunkbetreiber verhältnismäßig gering ist und es der nicht deckungsgleiche Netzaufbau

- vgl. hierzu die Übersicht der im fraglichen Gebiet insgesamt vorhandenen Mobilfunkanlagen unter http://emf.bundesnetzagentur.de in Verbindung mit Plot 2 aus dem Memorandum der T-Mobile Deutschland GmbH vom 18. September 2003 zu den dort von ihr betriebenen Mobilfunkanlagen -

eher unwahrscheinlich macht, dass ein anderer Betreiber genau in diesem Bereich ebenfalls eine Mobilfunkanlage errichten will.

Auch sonstige Umstände, die sich negativ auf die Wohnnutzung auswirken könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass von der Mobilfunkanlage aufgrund der elektromagnetischen Felder für die umliegende Wohnbebauung Gesundheitsgefahren ausgehen. Insoweit sind die vom Verordnungsgeber durch die 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte maßgebend, die der Schutzpflicht staatlicher Organe gegenüber Gesundheitsgefährdungen durch elektromagnetische Felder ausreichend Rechnung tragen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2002 - 1 BvR 1676/01 -, BRS 65 Nr. 178; BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2004 - 1 BvR 1238/04 -, NVwZ-RR 2005, 227 (228); OVG NRW, Beschluss vom 25. Februar 2003 - 10 B 2417/02 -, BRS 66 Nr. 89; OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2005 - 7 B 2752/04 -, BauR 2005, 1425 (1429).

Diese Grenzwerte werden hier ausweislich der Standortbescheinigung der RegTP vom 18. September 2003 bei Wahrung der standortbezogenen Sicherheitsabstände von 11,08 m in Hauptstrahlrichtung und 1,80 m vertikal, die hier angesichts der tatsächlichen Bebauungsverhältnisse einerseits und der bauplanungsrechtlichen Vorgaben andererseits gesichert ist, eingehalten (vgl. §§ 5 Abs. 1 und 2, 3 BEMFV). Auch andere die Wohnnutzung störende Immissionen sind mit der Anlage nicht verbunden. Abgesehen von der erforderlichen Wartung der Anlage und der Beseitigung von Störfällen zieht sie keinen Fahrzeugverkehr an. Insoweit unterscheidet sie sich nicht wesentlich von dem, was auch bei einer Wohnnutzung gelegentlich an Wartungs- und Reparaturarbeiten an technischen Einrichtungen anfällt.

Des weiteren erfordern Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Diese Gründe des Wohls der Allgemeinheit beschränken sich nicht auf spezifisch bodenrechtliche Belange, sondern erfassen alles, was gemeinhin unter den öffentlichen Belangen oder - insoweit gleichbedeutend - den öffentlichen Interessen zu verstehen ist. So kann beispielsweise das Gemeinwohl gefördert werden durch soziale, kulturelle oder sportliche Einrichtungen, durch Einrichtungen der Freizeitgestaltung, durch Einrichtungen, die der Sicherheit der Bevölkerung dienen, durch Verkehrs-, Versorgungs- und Entsorgungsanlagen und durch anderes mehr.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1978 - 4 C 54.75 -, BVerwGE 56, 71 (75 f.).

Zu diesen im öffentlichen Interesse liegenden Versorgungseinrichtungen zählt das Mobilfunknetz, das von der U-Mobile Deutschland GmbH betrieben wird, für die die Klägerin hier tätig wird. Hierfür spricht bereits die Regelung der Telekommunikationsdienstleistungen in Art. 87f Abs. 1 GG, der insoweit den Bund zur Gewährleistung einer flächendeckenden angemessenen und ausreichenden Versorgung verpflichtet.

Vgl. hierauf auch für den Mobilfunk abstellend: BVerwG, Beschluss vom 5. Februar 2004 - 4 B 110.03 -, zitiert nach Juris.

Wie die Widerspruchsbehörde zutreffend festgestellt hat, zählt die Bereitstellung eines Mobilfunknetzes allerdings nicht zu den Universaldienstleistungen im Sinne des § 78 TKG 2004 (vorher § 17 TKG 1996), mit denen die von Art. 87f Abs. 1 GG geforderte Grundversorgung

- vgl. Lerche in: Maunz-Dürig, Grundgesetz - Kommentar, Stand August 2005, Art. 87f Rdnr. 79 und 85 ; Wieland in: Dreier, Grundgesetz - Kommentar, 1. Aufl., Art. 87f Rdnr. 14 -

sichergestellt wird.

Vgl. VGH München, Urteil vom 18. März 2003 - 15 N 98.2262 -, BRS 66 Nr. 33.

Zur Universaldienstleistung bestimmt § 78 Abs. 2 Nr. 1 TKG 2004 insoweit nur den Festnetzanschluss. Dass eine bestimmte Einrichtung nicht zur zwingend vorgeschriebenen Grundversorgung gehört, bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht im öffentlichen Interesse liegt. Dass ein solches öffentliches Interesse an der Versorgung mit Telekommunikationsleistungen gerade auch im Bereich des Mobilfunks besteht, kommt etwa in der „Mobilfunkvereinbarung für Nordrhein- Westfalen - effektiver Netzausbau unter Beachtung von Vorsorge, Transparenz und Kooperation - zwischen der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und den Mobilfunkbetreibern und den kommunalen Spitzenverbänden" (Mobilfunkvereinbarung NRW) vom 17. Juli 2003

- vgl. http://www.izmf.de/download/Mobilfunkvereinbarung%20Endfassung.pdf -

zum Ausdruck. So werden in der Präambel dieser Vereinbarung flächendeckende funktionierende Mobilfunknetze als notwendige Basisstruktur für das Land Nordrhein-Westfalen bezeichnet. Tatsächlich hat die Allgemeinheit schon im Hinblick auf die Möglichkeit, auch ohne einen nicht immer erreichbaren Festnetzanschluss Polizei und Notdienste zu erreichen, ein beachtliches Interesse an der störungsfreien Teilnahme am Mobilfunk.

OVG NRW, Urteil vom 8. Oktober 2003 - 7 A 1397/02 -, BRS 66 Nr. 92; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. August 2003 - 1 A 10196/03 -, zitiert nach Juris.

Angesichts der Vorteile der UMTS-Technik - etwa hinsichtlich der Datenübertragungsraten und der Übergabe der Gespräche beim Verlassen einer Mobilfunkzelle - sowie der damit verbundenen Erweiterung der Anwendungsbereiche

- vgl. hierzu die vom Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen im Juni 2003 herausgegebene „Grundinformation zur neuen Mobilfunkgeneration UMTS", S. 4 ff und 22 ff. unter http://www.stmugv.bayern.de/de/elektrosmog/umts.pdf sowie OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2005 - 7 B 2752/04 -, BauR 2005, 1425 (1426); Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 6. Dezember 2004 - 1 ME 256/04 -, BauR 2005, 975 (981 f.) -

besteht ein öffentliches Interesse insbesondere auch am Aufbau eines UMTS- Netzes, in dessen Zusammenhang die von der Klägerin geplante Erweiterung der hier fraglichen Mobilfunkanlage steht.

So ausdrücklich Niedersächsisches OVG, a.a.O. (982).

Dementsprechend haben sich auch die Unterzeichner der Mobilfunkvereinbarung NRW ausdrücklich für eine möglichst rasche Etablierung des Mobilfunkstandards UMTS ausgesprochen.

Diese Gründe des Wohls der Allgemeinheit erfordern auch die von der Klägerin begehrte Befreiung. Ein solches Erfordernis ist nicht erst dann anzunehmen, wenn den Belangen der Allgemeinheit auf keine andere Weise als durch eine Befreiung entsprochen werden könnte, sondern nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift schon dann, wenn es zur Wahrnehmung des jeweiligen öffentlichen Interesses vernünftigerweise geboten ist, mit Hilfe der Befreiung das Vorhaben an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen. Die Befreiung muss nicht schlechterdings das einzige denkbare Mittel für die Verwirklichung des jeweiligen öffentlichen Interesses sein; dessen Erfüllung muss also nicht - anders ausgedrückt - mit der Erteilung der Befreiung "stehen und fallen". Auch dann, wenn andere - auch weniger naheliegende - Möglichkeiten zur Erfüllung des Interesses zur Verfügung stehen, kann eine Befreiung zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses in dem vorstehend erläuterten Sinne "vernünftigerweise geboten" sein. Dass die Befreiung dem Gemeinwohl nur irgendwie nützlich oder dienlich ist, reicht allerdings nicht aus. Diese weniger strenge Auslegung des Begriffs "erfordert" ist deshalb gerechtfertigt, weil sonst die Wahrnehmung der in Betracht kommenden Gemeinwohlinteressen unangemessen erschwert würde, weil daneben noch ein weiteres die Befreiungsmöglichkeit einschränkendes Kriterium zu beachten ist, das nachfolgend erörtert werden wird, und weil die Anerkennung der gesetzlichen Befreiungsvoraussetzungen erst die Tür zur behördlichen Ermessensentscheidung öffnet. Maßgebend dafür, ob die Befreiung "vernünftigerweise geboten" ist, sind die Umstände des Einzelfalls; dabei kann es auch auf - nach objektiven Kriterien zu beurteilende - Fragen der Zumutbarkeit und Wirtschaftlichkeit ankommen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1978 - 4 C 54.75 -, BVerwGE 56, 71 (76 f.).

Hiervon ausgehend ist die Befreiung von der Festsetzung der Art der baulichen Nutzung im Bebauungsplan Nr. 146 zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses an einer flächendeckenden Mobilfunkversorgung vernünftigerweise geboten. Dass der Betrieb einer Mobilfunkanlage im hier fraglichen Bereich aus funktechnischer Sicht erforderlich ist, um das Wohn-, Geschäfts- und Gewerbegebiet nördlich von L-V sowie einen Teilbereich der Bahnstrecke von V nach E2 zu versorgen und die Funktionsfähigkeit der Netzstruktur zu wahren, hat die U-Mobile Deutschland GmbH in ihrem Memorandum vom 18. September 2003 im einzelnen nachvollziehbar dargelegt. Dem ist der Beklagte auch nicht entgegengetreten. Dass es zu dem von der Klägerin für die Mobilfunkanlage gewählten Standort nach eigenen Angaben vier Alternativen gibt, ist - entgegen der Einschätzung der Widerspruchsbehörde - unbeachtlich. Denn diese Alternativen stehen der Klägerin tatsächlich nicht zur Verfügung. Wie die U-Mobile Deutschland GmbH in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 3. Dezember 2003 dargelegt hat, haben die Eigentümer der Grundstücke, auf denen sich die Alternativstandorte befinden, einer entsprechenden Nutzung widersprochen. Die Klägerin ist daher zivilrechtlich nicht berechtigt, an diesen Orten eine Mobilfunkanlage zu errichten. Das Mittel der Enteignung steht der Klägerin im Gegensatz zu anderen Vorhabenträgern etwa beim Straßenbau, bei der Wärmeversorgung oder der Abfallentsorgung (vgl. §§ 2 Abs. 1 des Gesetzes über Enteignung und Entschädigung für das Land Nordrhein-Westfalen, 42 Abs. 1 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen, 19 Abs. 1 des Bundesfernstraßengesetzes) nicht zur Seite. Auf rein theoretische Alternativen muss sich die Klägerin aber nicht verweisen lassen. Denn wie oben bereits angedeutet, müssen andere Möglichkeiten zur Erfüllung des fraglichen öffentliches Interesse zunächst überhaupt „zur Verfügung stehen", bevor anschließend zu überprüfen ist, ob die Befreiung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles - einschließlich etwaiger Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit - nicht trotzdem vernünftigerweise geboten ist. Tatsächlich dem Bauherrn zur Verfügung stehen jedoch nur solche Möglichkeiten, die er mit seinen Mitteln realisieren kann.

Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. August 2003 - 1 A 10196/03 -, zitiert nach Juris.

Die Klägerin kann daher nur auf solche Alternativstandorte verwiesen werden, an denen sie tatsächlich die Zustimmung des Eigentümers zur Errichtung einer Mobilfunkanlage erhält. Dass solche Standorte in dem Bereich, in dem aus funktechnischer Sicht eine Anlage errichtet werden muss, um die Mobilfunkversorgung nördlich von L-V und auf einem Teil der Bahnstrecke von V nach E2 sicherzustellen sowie die Funktionsfähigkeit der Netzstruktur zu wahren, nicht existieren, hat die U-Mobile Deutschland GmbH in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 3. Dezember 2003 in hinreichender Form belegt.

Vgl. zu dieser Tatbestandsvoraussetzung VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Mai 1989 - 3 S 3650/88 -, NJW 1989, 2278 (2281).

Andere im oben genannten Sinne tatsächlich zur Verfügung stehende Alternativstandorte als die von Klägerseite überprüften hat auch weder der Beklagte benannt, noch sind sie sonst ersichtlich.

Da somit die von der Klägerin begehrte Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplanes Nr. 146 zur Art der baulichen Nutzung aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit erforderlich ist, kann offen bleiben, ob sie auch im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB städtebaulich vertretbar ist,

- vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1998 - 4 C 16.97 -, BRS 60 Nr. 71; OVG NRW, Urteil vom 8. Oktober 2003 - 7 A 1397/02 -, BRS 66 Nr. 92 -

wofür allerdings angesichts obiger Ausführungen zur fehlenden Berührung der Grundzüge der Planung und der zwischenzeitlich erfolgten Anfügung des eingangs bereits erwähnten Satzes 2 in § 14 Abs. 2 BauNVO, wonach nunmehr fernmeldetechnische Nebenanlagen grundsätzlich als Ausnahme zugelassen werden können, vieles spricht.

Vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 20. April 2004 - 4 K 4638/02 -, zitiert nach Juris.

Ferner ist die Befreiung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.

Öffentliche Belange stehen der Befreiung nicht entgegen. Unter den öffentlichen Belangen sind nur städtebaulich relevante Belange zu verstehen, die im Interessengeflecht des Bebauungsplans eine Rolle spielen können. Es können auch solche öffentlichen Belange eine Rolle spielen, die in der gemeindlichen Planungskonzeption noch keinen Niederschlag gefunden haben.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2002 - 4 C 13.01 -, BRS 65 Nr. 74.

Zu den Belangen kann gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 5 BauGB das Ortsbild der Gemeinde zählen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. Oktober 2003 - 7 A 1397/02 -, BRS 66 Nr. 92.

Zu beachten ist jedoch, dass nicht jedes Ortsbild schützenswert ist, nur weil es durch eine gewisse Einheitlichkeit oder Gleichartigkeit der Bebauung oder einzelner Elemente der Bebauung geprägt ist. Das Ortsbild muss, um schützenswert zu sein und die Bau(gestaltungs)freiheit einschränken zu können, eine gewisse Wertigkeit für die Allgemeinheit haben. Dies ist nicht das Ortsbild, wie es überall anzutreffen sein könnte. Es muss einen besonderen Charakter, eine gewisse Eigenheit haben, die dem Ort oder dem Ortsteil eine aus dem Üblichen herausragende Prägung verleiht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2000 - 4 C 14.98 -, BRS 63 Nr. 105.

Dass der hier in Rede stehende Bereich ein solches schützenswertes Ortsbild besitzt, hat weder der Beklagte substantiiert dargelegt, noch ist dies sonst erkennbar. Der Umstand, dass sich - wie vom Beklagten im Erörterungstermin beschrieben - aus der L1- oder T2straße heraus der Blick frei auf die fragliche Mobilfunkanlage eröffnet, genügt hierfür nicht. Denn dieser optische Effekt sagt nichts über die Wertigkeit des Ortsbildes aus. Eine irgendwie gestalterisch hervorgehobene Bebauung im umliegenden Bereich hat der Beklagte dagegen nicht anführen können. Auch nach den vorliegenden Plänen und den Luftbildern des Landesvermessungsamtes Nordrhein-Westfalen

- http://www.timonline.nrw.de/timonline/LVermA/index.html -

sind dort vielmehr neben einer Schule und einem Kindergarten lediglich üblich gestaltete ein- bis dreigeschossige Ein- und Mehrfamilienhäuser vorhanden, die im wesentlichen in geschlossener Bauweise unmittelbar an die Straßengrenze angebaut sind und dem Bereich kein derartiges Gepräge geben, dass ein Antennenmast der hier in Rede stehenden Dimension und Gestaltung mit dem Ortsbild als von vornherein unvereinbar angesehen werden könnte. Andere öffentliche Belange, die durch das Vorhaben der Klägerin beeinträchtigt werden könnten, sind nicht ersichtlich.

Die Befreiung ist auch mit nachbarlichen Belangen vereinbar. Dass den Immissionsschutzbelangen ausreichend Rechnung getragen wird, ist bereits oben dargestellt worden. Auch eine von der Widerspruchsbehörde befürchtete nachbarrechtsverletzende Veränderung der Gebietsart ist infolge der Errichtung bzw. Erweiterung der fraglichen Mobilfunkanlage nach obigen Ausführungen insbesondere zur fehlenden Berührung der Grundzüge der Planung nicht zu besorgen. Die hier strittige Anlage hat kein so prägendes Gewicht, dass sie den Gebietscharakter des reinen Wohngebietes verfälschen würde.

Schließlich kann offen bleiben, ob auch nach dem Wegfall des früheren Tatbestandsmerkmals des § 31 Abs. 2 BauGB „im Einzelfall" durch das Gesetz zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung vom 18. August 1997 (BGBl. I 2081) für die Erteilung einer Befreiung weiterhin eine atypische Sondersituation vorliegen muss.

Vgl. diese Frage verneinend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Juni 2003 - 3 S 2324/02 -, BRS 66 Nr. 91.

Denn eine solche ist hier gegeben. Zum einen konnte das oben geschilderte Interesse der Allgemeinheit an der Versorgung mit Mobilfunkleistungen bei der Abwägung im Bebauungsplanverfahren nicht abgeschätzt, wohl überhaupt nicht berücksichtigt werden, da der betreffende Bebauungsplan Nr. 146 der Stadt L in seiner Urfassung bis in die Mitte der siebziger Jahre zurückreicht und sich auch die nachfolgenden Änderungen ersichtlich nicht mit den Notwendigkeiten der Schaffung eines flächendeckenden Mobilfunknetzes auseinander setzen.

So in einem vergleichbaren Fall: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. August 2003 - 1 A 10196/03 -, zitiert nach Juris.

Zum anderen ist die atypische Sondersituation darin zu sehen, dass - wie oben ausgeführt - die in der Nutzung der Mobilfunkanlage liegende gewerbliche Nutzung störungsfrei ist und die Antenne auch optisch nicht prägend hervortritt.

Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. September 2005 - 9 L 1114/05 -; VG Karlsruhe, Urteil vom 21. April 2004 - 10 K 2980/03 -, zitiert nach Juris.

Sind danach die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB erfüllt, so folgt daraus allerdings noch nicht allein ein Rechtanspruch der Klägerin auf Erteilung der begehrten Befreiung. Denn die Erteilung steht grundsätzlich im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2002 - 4 C 13.01 -, BRS 65 Nr. 74; OVG NRW, Urteil vom 8. Oktober 2003 - 7 A 1397/02 -, BRS 66 Nr. 92.

Vorliegend ist das Ermessen des Beklagten jedoch auf Null reduziert, so dass der genannte Rechtsanspruch der Klägerin besteht. Für die Ausübung des Ermessens besteht bereits im Ansatz wenig Raum, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung gegeben sind. Daraus allein lässt sich eine Ermessensreduzierung auf Null indes noch nicht ableiten. Eine negative Ermessensentscheidung bleibt möglich, wenn der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstehen.

Vgl. BVerwG, a.a.O.

Solche gewichtigen Interessen sind jedoch - auch im Erörterungstermin - nicht erkennbar geworden. Der Beklagte hat im Rahmen der Erörterung insoweit allein den bereits im Verwaltungsverfahren angesprochenen Gesichtspunkt der sensiblen Nutzungen in unmittelbarer Nachbarschaft der Mobilfunkanlage - eine Schule in ca. 50 m Entfernung und zwei Kindergärten in ca. 30 bzw. 80 m Entfernung - und den diesbezüglichen Beschluss des Stadtrates der Stadt L angeführt, demzufolge solche Anlagen im Umkreis von 150 m von sensiblen Nutzungen vermieden werden sollen. Dieser Einwand gegen die Mobilfunkanlage ist jedoch nicht von sachgerechten Erwägungen getragen, die allein die hier zu treffende Ermessensbetätigung steuern können. Denn der Annahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern in Schulen und Kindergärten hinsichtlich elektromagnetischer Felder, wie sie beim Betrieb von Mobilfunkantennen entstehen, fehlt eine wissenschaftliche Grundlage. Eine solche Annahme wäre bereits deswegen wenig plausibel, weil sich Kinder außerhalb der Kindergärten und Schulen - im Elternhaus oder in dessen näherem Umfeld - zeitlich sicherlich länger aufhalten und an ihrer jeweiligen Wohnstätte offenbar durchaus der Nähe zu Sendeanlagen ausgesetzt sein sollen. Darüber hinaus ist - wie oben dargelegt - nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen davon auszugehen, dass bei - hier gesicherter - Wahrung der standortbezogenen Sicherheitsabstände im Sinne der BEMFV und damit bei Einhaltung der durch die 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte keine Gesundheitsgefahren von elektromagnetischen Feldern ausgehen. Mit diesen Sicherheitsabständen und Grenzwerten wird möglichen Gesundheitsrisiken für alle sich in der Umgebung solcher Anlagen aufhaltenden Menschen unabhängig von ihrem Alter - also auch für Kinder - ausreichend Rechnung getragen. Dies wird auch in der von der Widerspruchsbehörde erwähnten Nr. 3.2 der Hinweise und Informationen vom 6. Juni 2003 zur „Vereinbarung zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und den Mobilfunkbetreibern über den Informationsaustausch und die Beteiligung der Kommunen beim Ausbau der Mobilfunknetze vom 5. Juli 2001" ausdrücklich festgestellt. Vor diesem Hintergrund wird mit der genannten Erwägung und dem zugrundeliegenden Ratsbeschluss lediglich das Ziel verfolgt, in der Bevölkerung bestehenden, nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen jedoch unbegründeten Ängsten und Besorgnissen entgegenzukommen. Bloße Überlegungen, wo möglicherweise kommunalpolitisch die Zulassung einer Mobilfunkanlage den Bürgern vermittelbar sein könnte, stellen jedoch keine sachgerechten Erwägungen dar, die die bauplanungsrechtliche Ermessensbetätigung zulässigerweise steuern können.

Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. August 2003 - 1 A 10196/03 -, zitiert nach Juris.

Soweit die Widerspruchsbehörde darauf hingewiesen hat, die Klägerin habe sich nicht im Sinne der Nr. 3.2 der genannte Hinweise und Informationen zur Vereinbarung zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und den Mobilfunkbetreibern mit der Stadt L geeinigt, vermag sich auch hieraus kein abwägungsrelevanter Belang zu ergeben. Denn die entsprechende Vereinbarung kann lediglich dazu geeignet sein, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und den Mobilfunkbetreibern bei der Standortsuche zu fördern. Aus ihr vermögen sich jedoch keine städtebaulichen Gesichtspunkte zu ergeben, die im Rahmen einer der nach § 31 Abs. 2 BauGB zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen wären.

Vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 20. April 2004 - 4 K 4638/02 -, zitiert nach Juris.

Im übrigen macht die genannte Vereinbarung die Errichtung einer Mobilfunkanlage in der Nähe von Kindergärten und Schulen nicht von einer entsprechenden Einigung zwischen der Kommune und dem Mobilfunkbetreiber abhängig, sondern sieht lediglich eine besondere Prüfung vor.






VG Düsseldorf:
Urteil v. 09.12.2005
Az: 11 K 7450/04


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/1e088f80fbf6/VG-Duesseldorf_Urteil_vom_9-Dezember-2005_Az_11-K-7450-04




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