Bundespatentgericht:
Urteil vom 2. März 2006
Aktenzeichen: 4 Ni 55/04

(BPatG: Urteil v. 02.03.2006, Az.: 4 Ni 55/04)

Tenor

I. Das europäische Patent EP 0 760 641 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.

II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Beklagte ist eingetragener Inhaber des auch mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents EP 0 760 641 (Streitpatent), das am 19. April 1995 unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Offenlegungsschrift DE 44 18 382 A1 vom 26. Mai 1994 angemeldet und dessen Erteilung am 4. November 1998 bekannt gemacht wurde. Unter dem Datum des 12. Oktober 2004 wurde der Erteilungsbeschluss vom 24. September 1998 durch das Europäische Patentamt aufgrund Entscheidung vom selben Tag berichtigt, eine korrigierte Fassung der Streitpatentschrift veröffentlicht und im Europäischen Patentblatt 2005/03, S. 744 am 19. Januar 2005 bekannt gemacht. Das Streitpatent ist in der Verfahrenssprache Deutsch veröffentlicht und wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nr. 595 04 157 geführt. Es betrifft eine Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Lähmungen aufgrund von Schädigungen des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs und umfasst 9 Ansprüche, die insgesamt angegriffen sind. Anspruch 1 lautet wie folgt:

"Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Lähmungen, die durch Schädigung des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs hervorgerufen werden, mit einer Wadenschiene und einer Fußauflage, die über ein Gelenk auf Höhe des Knöchels verbunden sind dessen Drehachse im Wesentlichen senkrecht zur Seitenfläche des Fußes steht und das eine Feder enthält, dadurch gekennzeichnet, dass - die Federkraft in Richtung der Aufwärtsbewegung der Fußspitze wirkt und sich in der Ruhestellung des Fußes mit seiner Gravitationskraft die Waage hält - und die Fußauflage (8) in einen Schuh einsetzbar ist."

Wegen der übrigen, unmittelbar oder mittelbar auf Anspruch 1 zurückbezogenen und angegriffenen Ansprüche 2 bis 9 wird auf die Streitpatentschrift EP 0 760 641 B9 Bezug genommen.

Die Klägerin behauptet, der Gegenstand des Streitpatents sei weder neu noch erfinderisch. Zur Begründung trägt sie vor, im Stand der Technik seien zum Prioritätszeitpunkt entsprechende Orthesen mit den Merkmalen des Patentgegenstandes bereits bekannt gewesen. Hierfür legt sie folgende Druckschriften und Literaturstellen vor:

D1 DE 20 60 222 A1 D2 WO 93/02644 A1 D3 US 4 397 308 D4 Auszug aus Lange, F. (Hrsg.), Lehrbuch der Orthopädie, Jena 1914, S. 367-368 in Kopie D5 Aufsatz: "Die Peronaeuslähmung - ihre Ausfälle", von Weckenmann, B., Orthopädietechnik, Heft 2/1975, S. 145-151 in Kopie Die Klägerin beantragt, das europäische Patent EP 0 760 641 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland insgesamt für nichtig zu erklären.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise mit der Maßgabe, dass Patentanspruch 1 als Kombination der Ansprüche 1, 3, 4 und 5 folgende Fassung erhält und die Ansprüche 2, 6, 8 und 9 der erteilten Fassung in ihrer Rückbeziehung und Nummerierung angepasst werden (Hilfsantrag 1):

"Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Lähmungen, die durch Schädigung des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs hervorgerufen werden, mit einer Wadenschiene und einer Fußauflage, die über ein Gelenk auf Höhe des Knöchels verbunden sind dessen Drehachse im Wesentlichen senkrecht zur Seitenfläche des Fußes steht und das eine Feder enthält, dadurch gekennzeichnet, dass - die Federkraft in Richtung der Aufwärtsbewegung der Fußspitze wirkt und sich in der Ruhestellung des Fußes mit seiner Gravitationskraft die Waage hält - und die Fußauflage (8) in einen Schuh einsetzbar ist, die Vorspannung der Feder (5) veränderbar ist, die Feder (5) eine Spiralfeder ist, wobei der Mittelpunkt der Spirale auf der Drehachse (7) liegt und die Vorspannung der Feder (5) dadurch veränderbar ist, dass ein Ende der Spiralfeder an verschiedenen Stellen befestigbar ist."

weiter hilfsweise mit der Maßgabe, dass Patentanspruch 1 als Kombination der Ansprüche 1, 3, 4, 5 und 6 folgende Fassung erhält und die Ansprüche 2, 8 und 9 der erteilten Fassung in ihrer Rückbeziehung und Nummerierung angepasst werden (Hilfsantrag 2):

"Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Lähmungen, die durch Schädigung des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs hervorgerufen werden, mit einer Wadenschiene und einer Fußauflage, die über ein Gelenk auf Höhe des Knöchels verbunden sind dessen Drehachse im Wesentlichen senkrecht zur Seitenfläche des Fußes steht und das eine Feder enthält, dadurch gekennzeichnet, dass - die Federkraft in Richtung der Aufwärtsbewegung der Fußspitze wirkt und sich in der Ruhestellung des Fußes mit seiner Gravitationskraft die Waage hält - und die Fußauflage (8) in einen Schuh einsetzbar ist, die Vorspannung der Feder (5) veränderbar ist, die Feder (5) eine Spiralfeder ist, wobei der Mittelpunkt der Spirale auf der Drehachse (7) liegt, die Vorspannung der Feder (5) dadurch veränderbar ist, dass ein Ende der Spiralfeder an verschiedenen Stellen befestigbar ist und die Stellen, an denen das äußere Ende der Spiralfeder (5) befestigbar ist, radiale Bohrungen (6) in der Innenwand des Gelenks (3) sind."

Der Beklagte ist der Ansicht, dass der Gegenstand des Streitpatents neu sei und auch auf erfinderischer Tätigkeit beruhe. Im Übrigen hält er den Gegenstand des Streitpatents zumindest im hilfsweise verteidigten Umfang für patentfähig.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet, da die Gegenstände der vom Beklagten verteidigten Patentansprüche 1 gemäß Hauptantrag sowie gemäß den Hilfsanträgen 1 und 2 nicht patentfähig sind (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a i. V. m. Art. 56 EPÜ).

1. Nach den Ausführungen in der Beschreibungseinleitung (vgl. Spalte 1, 1. Absatz ) betrifft das Streitpatent eine Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Lähmungen, die durch Schädigung des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs hervorgerufen werden, mit einer Wadenschiene und einer Fußauflage, die über ein Gelenk auf Höhe des Knöchels verbunden sind, dessen Drehachse im Wesentlichen senkrecht zur Seitenfläche des Fußes steht und das eine Feder enthält.

Die Lähmung wirke sich dahingehend aus, dass die betroffene Person den Fuß nicht mehr bewusst steuern könne und dadurch der Fuß nach unten falle. Hierbei vollführe der Fuß eine Drehung nach innen, die als Inversion oder Supination bezeichnet werde. Aufgrund dieser Drehbewegung entstehe beim Auftreten die Gefahr einer Schädigung (Spalte 1, Zeilen 19 bis 25).

2. Dem Streitpatent liegt als technisches Problem die Aufgabe zugrunde, eine Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Beeinträchtigung des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs so auszugestalten, dass der Fuß in der Weise fixiert wird, dass eine seitliche Drehbewegung verhindert wird, jedoch eine Auf- und Abbewegung des Fußes möglich ist und die Federkraft, die in Richtung der Aufwärtsbewegung der Fußspitze wirkt, an die individuellen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden kann (Spalte 1, Zeile 55 bis Spalte 2, Zeile 6).

3. Der mit Gliederungspunkten versehene erteilte Patentanspruch 1 lautet:

M1 Orthese zur Stützung des Fußes, insbesondere bei Lähmungen, die durch Schädigung des Peroneusmuskels oder des Peroneusnervs hervorgerufen werden, M2 mit einer Wadenschiene M3 und einer Fußauflage, M4 die über ein Gelenk auf Höhe des Knöchels verbunden sind, M5 dessen Drehachse im Wesentlichen senkrecht zur Seitenfläche des Fußes steht M6 und das eine Feder enthält, dadurch gekennzeichnet, M7 dass die Federkraft in Richtung der Aufwärtsbewegung der Fußspitze wirkt M8 und sich in Ruhestellung des Fußes mit seiner Gravitationskraft die Waage hält M9 und die Fußauflage (8) in einen Schuh einsetzbar ist.

Der hier zuständige Fachmann ist ein mit der Entwicklung orthopädischer Hilfsmittel befasster, berufserfahrener Fachhochschulingenieur der Fachrichtung Maschinenbau mit umfassenden Kenntnissen auf dem Gebiet der Biomechanik.

Es kann dahinstehen, ob der erteilte Patentanspruch 1 zulässig ist (vgl. BGH GRUR 1991, 120, 121, II. 1. - "Elastische Bandage"). Denn die beanspruchte Orthese erweist sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung als nicht neu.

Aus der Entgegenhaltung D4 (vgl. insbesondere die Figur 56 mit zugehöriger Bildunterschrift sowie die Seite 368, vorletzter Absatz) ist bereits eine Orthese zur Stützung des Fußes ("Spitzfuß") bekannt [Merkmal M1], welche über eine Wadenschiene (Schiene) und eine Fußauflage (Fußartikulation) verfügt, welche über ein Gelenk (Grundplatte) auf Höhe des Knöchels miteinander verbunden sind [Merkmale M2 bis M4]. Die Drehachse des Gelenks steht offensichtlich auf der Seitenfläche des Fußes senkrecht, wobei das Gelenk eine Spiralfeder enthält [Merkmale M5 und M6]. Die Figur 56 zeigt die Orthese im unbelasteten Zustand. Aus dieser Abbildung geht zweifelsfrei hervor, dass die Federkraft der Spiralfeder in Richtung der Aufwärtsbewegung der Fußspitze wirkt [Merkmal M7].

Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, dass der Druckschrift D4 das Merkmal M8 nicht als bekannt entnommen werden könne. In dieser Entgegenhaltung sei nämlich an keiner Stelle davon die Rede, dass sich die Federkraft in der Ruhestellung des Fußes mit dessen Gravitationskraft die Waage halte, wie dies insoweit im Merkmal M8 des erteilten Patentanspruchs 1 beansprucht sei. Die beanspruchte Orthese sei deshalb neu. Im Gegensatz zum Stand der Technik nach der D4 könne man damit Laufbewegungen durchführen.

Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Denn für den vorstehend definierten Fachmann ist selbstverständlich klar, dass sich die gemäß Figur 56 im unbelasteten Zustand einstellende Ausrichtung des Schuhs nach oben im belasteten Zustand, das heißt mit einem den Schuh beschwerenden Fuß, in eine horizontale Gleichgewichtslage übergehen wird. Wäre dem nicht so, dann würde die Schuhspitze beim Gehen entweder immer nach oben zeigen, oder aber herunter hängen. Dies entspräche jedoch nicht dem bestimmungsgemäßen Gebrauch der bekannten Orthese, die - wie auch der Streitpatentgegenstand - als Gehhilfe dienen soll, da andernfalls die Kombination dieser Orthese mit einem Schuh kaum sinnvoll sein dürfte.

Der Fachmann wird mit anderen Worten bei aufmerksamer Durchsicht der Druckschrift D4 auch das Merkmal M8 als selbstverständlich oder nahezu unerlässlich ergänzen und sozusagen in Gedanken gleich mitlesen, zumal in der D4 ausdrücklich angegeben ist, dass die "aktive Federkraft dosierbar" ist, das heißt so eingestellt werden kann, dass die Orthese die ihr zugedachte Aufgabe erfüllen kann (vgl. BGH GRUR 1995, 330, Ls. 2 - "Elektrische Steckverbindung").

Was schließlich noch das verbleibende Merkmal M9 anbelangt, so darf der erteilte Patentanspruch 1 seitens des Beklagten im Nichtigkeitsverfahren nicht einschränkend dahingehend ausgelegt werden, dass sich die Fußauflage zwingend im Innern des Schuhs befinden muss, um auf diese Weise angesichts des nachgewiesenen Standes der Technik die Patentfähigkeit der beanspruchten Orthese eher begründen zu können (vgl. BGH GRUR 2004, 47, Ls. 1 - "Blasenfreie Gummibahn I"). Denn von der allgemeinen Formulierung "in einen Schuh einsetzbar" ist auch das in der Entgegenhaltung D4 offenbarte Einsetzen der Fußauflage in den Schuhabsatz mitumfaßt.

4. Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 weist über die Merkmale M1 bis M9 des erteilten Patentanspruchs 1 noch die Merkmale M10 bis M12 auf. Die hilfsweise beanspruchte Orthese ist somit weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass M10 die Vorspannung der Feder (5) veränderbar ist, M11 die Feder (5) eine Spiralfeder ist, wobei der Mittelpunkt der Spiralfeder auf der Drehachse (7) liegt M12 und die Vorspannung der Feder (5) dadurch veränderbar ist, dass ein Ende der Spiralfeder an verschiedenen Enden befestigbar ist.

Es kann dahinstehen, ob der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 zulässig ist. Denn auch seinem Gegenstand fehlt es gegenüber dem aus der D4 bekannten Stand der Technik an der erforderlichen Neuheit.

Denn aus der Druckschrift D4 (vgl. wiederum die Figur 56 mit zugehöriger Bildunterschrift ) ist bereits bekannt, dass die Vorspannnung der Feder - wie vorstehend schon erwähnt wurde - in ihrer aktiven Kraft dosierbar, also in ihrer Vorspannung einstellbar sein soll [Merkmal M10]. Die Feder der bekannten Orthese ist eine Spiralfeder, deren Mittelpunkt auf der Drehachse liegt [Merkmal M11]. Schließlich ist bei diesem Stand der Technik auch schon vorgesehen, die Spiralfeder durch Einhaken ihres in der Mitte gelegenen Endes in Löcher der Grundplatte zu verstellen, sie also zum Zwecke der Veränderung ihrer Vorspannung an verschiedenen Stellen zu befestigen [Merkmal M12].

5. Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 weist über die Merkmale M1 bis M12 des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 1 noch das Merkmal M13 auf. Die hilfsweise beanspruchte Orthese ist somit des Weiteren dadurch gekennzeichnet, dass M13 die Stellen, an denen das äußere Ende der Spiralfeder (5) befestigbar ist, radiale Bohrungen (6) an der Innenwand des Gelenks (3) sind.

Es bedarf auch hinsichtlich des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 2 keiner Klärung der Frage, ob dieser Patentanspruch zulässig ist. Denn sein Gegenstand beruht jedenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit des zuständigen Fachmanns.

Denn der Fachmann erkennt, dass die gemäß Druckschrift D4 offen liegende Spiralfeder insofern nachteilig ist, als sich der Benutzer der Orthese beim Anlegen derselben in der Feder einklemmen oder ein längeres Kleidungsstück darin hängen bleiben könnte. Aus diesem Grunde wird der Fachmann erwägen, die Spiralfeder in einem Gehäuse unterzubringen, wie die beispielsweise schon in der einschlägigen Entgegenhaltung D2 (vgl. insbesondere die Figuren 1 bis 5 und die Beschreibung Seite 7, 1. Absatz bis Seite 8, vorletzter Absatz) vorgeschlagen wird. Hierbei bietet es sich unmittelbar an, die Stellen, an denen das äußere Ende der Spiralfeder befestigt werden soll, durch radiale Bohrungen an der Innenwand des Gehäuses zu realisieren. Damit gelangt der Fachmann, ohne dass es einer erfinderischen Tätigkeit bedarf, zum Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 2.

Nach alledem war der Nichtigkeitsklage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.






BPatG:
Urteil v. 02.03.2006
Az: 4 Ni 55/04


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