Anwaltsgerichtshof Celle:
Urteil vom 24. Juni 2013
Aktenzeichen: AGH 1/13, AGH 1/13 (I 1)

(AGH Celle: Urteil v. 24.06.2013, Az.: AGH 1/13, AGH 1/13 (I 1))

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger ist Rechtsanwalt und Notar in eigener Kanzlei in S. Er wendet sich gegen die von der Beklagten mit Bescheid vom 04.12.2012 erteilte, dem Kläger am 05.12.2012 zugestellte missbilligende Belehrung wegen nicht erfolgter Herausgabe von Handakten. Dieser missbilligenden Belehrung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

Der Kläger war mit der Wahrnehmung der Interessen des Herrn U. B., A. d. D., A., im Zusammenhang mit der Rückforderung eines Betrages in Höhe von 3.165,00 € durch den Pächter des Herrn B. beauftragt. Die Beauftragung erfolgte Anfang des Jahres 2012.

Nachdem Anfang Mai 2012 mit Klageschrift des Pächters des Herrn B. vom 27.04.2012 die Angelegenheit gerichtsanhängig wurde, beauftragte Herr B. die Kanzlei W. & S. und dort Rechtsanwalt S. mit der Wahrnehmung seiner Interessen in dem Klageverfahren. Dieser trat mit Schreiben vom 08.05.2012 (BA Bl. 7) an den hiesigen Kläger heran und teilte ihm mit, Herr B. habe mitgeteilt, dass das zwischen diesem und dem hiesigen Kläger bestehende Mandatsverhältnis beendet worden sei. Herr B. habe die Kanzlei W. & S. mit der Wahrnehmung seiner Interessen im gerichtlichen Verfahren beauftragt. Gleichzeitig bat Rechtsanwalt S. in diesem Schreiben vom 08.05.2012 darum, ihm kurzfristig die dem Kläger teilweise im Original zur Verfügung gestellten Unterlagen des Herrn B., u.a. den Pachtvertrag, zur Verfügung zu stellen.

In der Folgezeit, sowohl mit Telefonat vom 14.05.2012 als auch vom 29.05.2012, forderte die Kanzlei W. & S. den Kläger wiederholt vergeblich telefonisch zur Übersendung der Unterlagen auf. Der Kläger erwiderte, Herr B. habe das dem Kläger zustehende Honorar noch nicht gezahlt, dennoch würden die Unterlagen kurzfristig übersandt werden. Mit Schreiben vom 05.06.2012 (BA Bl. 9) teilte Rechtsanwalt S. dem Kläger mit, dass man ohne die streitentscheidenden Unterlagen gezwungen war, die Klageerwiderung zu erarbeiten, die Begleichung eines Honorars des Klägers durch Herrn B. allerdings mangels Kostenrechnung des Klägers unterblieben sei. Mit Schreiben vom 21.06.2012 (BA Bl. 11) überreichte der Kläger seine Kostenrechnung an die Kanzlei W. & S. mit der Bitte um Ausgleich durch Herrn B. oder Übernahme der persönlichen Haftung durch die Kollegen. Die Kanzlei W. & S. lehnte mit Schreiben vom 21.06.2012 (BA Bl. 12) die Entgegennahme der Vergütungsabrechnung für Herrn B. sowie eine Übernahme der persönlichen Haftung ab.

Mit Schreiben vom 25.06.2012 wandte sich Rechtsanwalt S. unter Hinweis auf seine ordnungsgemäße Bevollmächtigung mit diesem Sachverhalt an die Beklagte.

Mit Schreiben vom 28.06.2012 (Bl. 27 d. A) übersandte der Kläger Herrn B. seine Kostenrechnung sowie in Kopie die in seinem Besitz befindlichen persönlichen Unterlagen des Herrn B. Gleichzeitig kündigte der Kläger an, die Originalunterlagen nach Rechnungsausgleich an Herrn B. herauszugeben.

Der Vorstand der Beklagten erteilte dem Kläger mit Bescheid vom 04.12.2012 eine missbilligende Belehrung mit der Begründung, dass dem Kläger bis zum 28.06.2012 ein Zurückbehaltungsrecht an den teils Originalunterlagen gemäß § 50 III BRAO nicht zustand.

Hiergegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 07.01.2013, der am gleichen Tag, einem Montag, per Telefax beim Niedersächsischen Anwaltsgerichtshof eingegangen ist, Klage erhoben.

Der Kläger ist der Auffassung, dass sein Mandatsverhältnis zu Herrn B. nicht beendet worden sei. Soweit Rechtsanwalt S. dies mit Schreiben vom 08.05.2012 behauptet habe, habe diesem Schreiben lediglich eine auf die Kanzlei W. & S. lautende Vollmacht des Herrn B. mit der Bezeichnung €B. / S. Zahlungsklage vom 27.04.2012€ (Bl. 26 d. A.) beigelegen. Dies betreffe keine Angelegenheit des Herrn B. gegenüber dem Kläger. Dies habe auch Herr Rechtsanwalt S. bestätigt, indem er mit Schreiben vom 21.06.2012 mitgeteilt habe, dass die Kanzlei W. & S. nicht bevollmächtigt sei, Kostenrechnungen für Herrn B. entgegenzunehmen. Der Kläger meint deswegen, dass sämtlicher Schriftverkehr und sämtliche Telefongespräche mangels Bevollmächtigung der Kanzlei W. & S. durch Herrn B. ihm gegenüber als gegenstandslos angesehen werden müssten. Dies betreffe im Übrigen auch die von Rechtsanwalt S. mit Schreiben vom 25.06.2012 (BA Bl. 1) eingereichte Beschwerde bei der Beklagten. Herr B. habe ihn zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, die Unterlagen herauszugeben, so dass er dazu nicht verpflichtet sei. Dies gelte unabhängig von der Frage der Erstattung von Gebühren und Auslagen.

Der Kläger beantragt,

das Verfahren einzustellen oder dieses zur erneuten Entscheidung an die Beklagte zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage gegen den Bescheid der Rechtsanwaltskammer Celle vom 04.12.2012 unter Aufrechterhaltung desselben abzuweisen.

Die Beklagte stellt darauf ab, dass der Kläger die Herausgabe von Unterlagen, insbesondere eines Original-Pachtvertrages, verweigert habe. Der Kläger sei sowohl schriftlich als auch in mehreren von dem Bevollmächtigten des Herrn B. geführten Telefonaten aufgefordert worden, die in seinem Besitz befindlichen Unterlagen herauszugeben.

Der Kläger habe darauf hingewiesen, dass sein Honorar noch nicht gezahlt sei, die Akten aber kurzfristig übermittelt werden würden. Tatsächlich sei es dann zu der Herausgabe der Fotokopien der im Besitz des Klägers befindlichen Unterlagen an Herrn B. erst am 28.06.2012 gekommen, obwohl der Kläger erstmals Anfang Mai 2012 dazu aufgefordert worden sei. Ein Zurückbehaltungsrecht an den Unterlagen habe dem Kläger in Ermangelung einer Kostenrechnung nicht zugestanden. Die Ahndung des berufsrechtlichen Verstoßes des Klägers mit einer missbilligenden Belehrung sei ausreichend, da zum einen kein Bagatellverstoß vorliege und zum anderen der Kläger einen Tag nach Eingang der Beschwerde des Herrn B. bei der Beklagten die Kostenrechnung nebst Kopien der Unterlagen an Herrn B. übersandt habe.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die wechselseitigen Schriftsätze verwiesen.

II.

1. Die Klage ist zulässig.

Die Anfechtung einer missbilligenden Belehrung ist eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne von § 112a I BRAO, über die der Anwaltsgerichtshof im ersten Rechtszug zu entscheiden hat (vgl. nur Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 112a RN 24).

Die Klagefrist von einem Monat nach Zustellung des Bescheides (§ 112c I S.1 BRAO i. V. m. § 74 I VwGO) ist eingehalten.

2. Die Klage ist allerdings unbegründet. Die angefochtene missbilligende Belehrung der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

a) Die grundsätzliche Ermächtigungsgrundlage für die Beklagte für die Erteilung einer missbilligenden Belehrung ergibt sich zunächst aus § 73 II 1 und 4 BRAO. Hiernach obliegt es dem Vorstand, die Mitglieder der Kammer in Fragen der Berufspflichten zu beraten und zu belehren (§ 73 II 1 BRAO) sowie die Erfüllung der den Mitgliedern der Rechtsanwaltskammer obliegenden Pflichten zu überwachen und das Recht der Rüge zu handhaben (§ 73 II 4 BRAO). Diese Überwachungspflicht des Vorstandes erstreckt sich auf den gesamten Pflichtenkreis des Rechtsanwalts. Stellt der Vorstand einer Rechtsanwaltskammer in Wahrnehmung seiner Aufgaben fest, dass sich ein Rechtsanwalt berufswidrig verhalten hat, so belässt es der Vorstand während dessen häufig nicht dabei, den Rechtsanwalt auf die Rechtsauffassung der Kammer hinzuweisen und über den Inhalt seiner Berufspflichten zu belehren. In der Praxis der Rechtsanwaltskammern hat sich die Notwendigkeit ergeben, für berufswidriges Verhalten ihrer Mitglieder eine hoheitliche Maßnahme zur Verfügung zu haben, für das noch nicht das Mittel der Rüge (§ 74) gerechtfertigt ist, für das aber eine einfache Belehrung nach § 73 II 1 BRAO kein adäquates Mittel mehr darstellt und das vor allem über eine solche bloße Belehrung ohne Schuldzuweisung hinausgeht (Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 74 Rn 8). Dieses den Rechtsanwaltskammern zustehende Maßregelinstrument ist in der Rechtsprechung insbesondere auch als milderes Mittel gegenüber der Rüge gemäß § 74 BRAO anerkannt (BGH NJW 2007, 3349; BVerfG NJW 2008, 502).

b) Die missbilligende Belehrung ist zunächst nicht deswegen rechtswidrig, weil die Beklagte Kenntnis von dem Sachverhalt erhalten hat, ohne dass Rechtsanwalt S. eine Originalvollmacht des Herrn B. im Zusammenhang mit der Unterrichtung der Beklagten von dem Sachverhalt vorgelegt hatte, sondern seine ordnungsgemäße Bevollmächtigung im Schreiben vom 25.06.2012 lediglich anwaltlich versicherte. Die Beklagte hat die berufsrechtliche Aufsicht über ihre Mitglieder. Sie dient nicht der Wahrung der individuellen Belange des einzelnen Mandaten, sondern dem öffentlichen Interesse, so dass Dritte keinen Anspruch gegen die Kammer auf eine Aufsichtsmaßnahme oder ein etwaiges Einschreiten gegen ein Mitglied haben (Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 73 RN 27). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Beklagte von sich aus tätig werden darf, wenn sie Kenntnis von Berufsrechtsverletzungen erhält. Es kann daher dahinstehen, ob und in welcher Form die Kanzlei W. & S. von Herrn B. zur Anzeige des Sachverhalts gegenüber der Beklagten bevollmächtigt war. Es kommt einzig und allein darauf an, dass die Beklagte Kenntnis von dem Sachverhalt erhalten hat.

c) Der Inhalt der gemäß § 73 II 1 i. V. m. § 73 II 4 BRAO erfolgten missbilligenden Belehrung des Klägers entspricht der geltenden Rechtslage und folgt aus § 50 BRAO i. V. m. § 17 BORA.

Nach § 50 I BRAO hat der Rechtsanwalt durch Anlegen von Handakten ein geordnetes Bild über die von ihm entfaltete Tätigkeit geben zu können. Handakten im Sinne der Absätze II und III des § 50 BRAO sind nur die Schriftstücke, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber erhalten hat. Der Kläger hatte im Rahmen seines Mandatsverhältnisses von Herrn B. Unterlagen, teilweise Originalunterlagen wie den Pachtvertrag, zur Verfügung gestellt bekommen. Damit handelt es sich bei diesen Unterlagen um Teile der Handakte des Klägers gemäß § 50 IV BRAO.

Der zivilrechtliche Anspruch des Herrn B. auf Herausgabe der Unterlagen ergibt sich aus §§ 675, 667 BGB, da nach § 667 BGB der Beauftragte verpflichtet ist, dem Auftraggeber alles, was er zur Ausführung des Auftrags erhält, herauszugeben. Das in § 50 III BRAO normierte Zurückbehaltungsrecht stellt eine Konkretisierung des § 273 BGB dar und dient der erleichterten Durchsetzung der Ansprüche des Rechtsanwalts auf seine Gebühren und Auslagen.

Nach Auffassung des Senats ist der Rechtsanwalt aber auch in berufsrechtlicher Hinsicht zur Herausgabe der Handakte verpflichtet. Damit folgt der Senat nicht der anderweitigen Rechtsprechung des Anwaltsgerichts Düsseldorf (Beschluss vom 24.07.2008 - IV A 1623/07 -9) als auch des Anwaltsgerichts Frankfurt a. M. (Urteil vom 17.03.2010 € IV AG 01/09 € 4 EV 335/08).

Das AnwG Düsseldorf beruft sich in seinem Beschluss vom 24.07.2008 darauf, dass die Verletzung der sich aus dem zivilrechtlichen Anwaltsvertrag ergebenden Pflichten, soweit diese nicht in der BRAO oder in der Berufsordnung ausdrücklich aufgeführt seien, kein berufswidrig zu ahndendes Verhalten darstelle. Dabei spiele es auch keine Rolle, ob die fehlende Herausgabe der Handakte als geringfügige Pflichtverletzung nach § 74 BRAO mit einer Rüge oder im anwaltsgerichtlichen Verfahren geahndet werden solle.

§ 50 III BRAO regele das Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts an der Handakte, begründe für sich genommen jedoch keine Pflicht i. S. v. § 113 I BRAO.

Das AnwG Frankfurt a. M. führt in seinem Urteil vom 17.03.2010 aus, dass sich eine solche Pflicht zur Herausgabe der Handakte, insbesondere der Originalunterlagen, weder aus § 50 BRAO noch aus § 43 BRAO herleiten lasse. Gerade ohne Beachtung von § 50 III BRAO, führt das AnwG Frankfurt a. M. aus, dass § 43 BRAO allein als Grundlage anwaltsgerichtlicher Maßnahmen zu unbestimmt sei. Erst das Zusammenwirken von § 43 BRAO mit anderen gesetzlichen Bestimmungen trage dem im anwaltlichen Disziplinarrecht geltenden Bestimmtheitsgebot nach Art. 20 Abs. 3 GG Rechnung.

Das Hamburgische Anwaltsgericht hat in zwei älteren Entscheidungen (Urteil vom 10.03.1997 € II 20/96 EV 50/96 - sowie Urteil vom 10.11.1997 € III 13/97 EV 184/95 -) ohne nähere Begründung bei der Annahme einer berufsrechtlichen Herausgabepflicht der Handakte § 43 BRAO herangezogen. In zwei neueren Entscheidungen (Urteil vom 13.02.2007 € III 15/06 EV 11/06 - sowie Urteil vom 20.02.2008 € III 18/07 EV 82/07-) geht das Hamburgische Anwaltsgericht ebenfalls ohne weitere Begründung von einer berufsrechtlichen Herausgabepflicht gemäß § 50 III S. 2 BRAO, in der zweiten Entscheidung i. V. m. § 43 BRAO aus.

In der Literatur wird die Frage der berufsrechtlichen Pflicht auf Herausgabe der Handakte unterschiedlich behandelt. Feuerich/Weyland (BRAO, 8. Auflage, 2012, § 50 RN 17

ff) verweist auf die zivilrechtliche Verpflichtung des Rechtsanwalts auf Herausgabe der Handakte und äußert sich nicht ausdrücklich zu der Frage, ob § 50 BRAO eine besondere Berufspflicht auf Herausgabe der Handakte begründet. Es wird lediglich darauf verwiesen, dass § 50 BRAO diese sich aus dem Anwaltsdienstvertrag ergebende Herausgabepflicht voraussetze (Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 50 RN 17). Scharmer betont, dass eine Herausgabepflicht in § 50 BRAO gerade nicht normiert sei, in zivilrechtlicher Hinsicht zwar vorausgesetzt würde, sich eine Herausgabepflicht berufsrechtlicher Natur aus der Gesetzesbegründung aber nicht herleiten ließe (Hartung, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 5. Auflage 2012, § 50 BRAO RN 77, 78). Stobbe führt die Handakte bei seiner Aufzählung der berufsrechtlichen Herausgabepflichten zwar nicht an (Henssler / Prütting, BRAO, 3. Auflage 2010, § 50 RN 19), mahnt hingegen den das Zurückbehaltungsrecht ausübenden Rechtsanwalt zu größtmöglicher Vorsicht an, da die unberechtigte Weigerung der Herausgabe der Handakte sowohl berufsrechtliche Sanktionen als auch Schadensersatzansprüche auslösen könne (Henssler / Prütting, BRAO, 3. Auflage 2010, § 50 RN 39). Kleine-Cosack führt die berufsrechtliche Herausgabepflicht der Handakte als Hauptbeispiel für die unmittelbare Anwendung des § 43 BRAO an (Kleine-Cosack, BRAO, 5. Auflage 2008, § 43 RN 15).

Hingegen ist der Rechtsanwalt auch in berufsrechtlicher Hinsicht zur Herausgabe der Handakten verpflichtet. § 50 BRAO begründet ausdrücklich zwar lediglich die Pflicht zum Führen der Handakte sowie zur Aufbewahrung der Handakte und regelt unter bestimmten Bedingungen die Verweigerung der Herausgabe der Handakten. Eine Pflicht zur Herausgabe der Handakten an den Mandanten ist in § 50 BRAO dagegen nicht explizit enthalten. Allerdings ergibt sich diese Pflicht inzidenter aus § 50 III BRAO, der eben nur in bestimmten Fällen ein Zurückbehaltungsrecht gewährt. Die Regelung eines Zurückbehaltungsrechts in der Bundesrechtsanwaltsordnung macht aber überhaupt nur dann Sinn, wenn gleichzeitig für den Normalfall von einer berufsrechtlichen und nicht nur zivilrechtlichen Herausgabepflicht ausgegangen wird (Kilian / Offermann-Burckart / vom Stein € Offermann-Burckart, Praxishandbuch Anwaltsrecht, 2. Auflage, 2010, § 14 RN 35).

Dies hat auch der Gesetzgeber so gesehen, indem es in der amtlichen Begründung zu § 62 BRAO a. F., der inhaltlich nicht veränderten Vorläuferbestimmung von § 50 BRAO, heißt (BT-Drucks. 3/120, S.79): €Das Zurückbehaltungsrecht erlischt, sobald der Anspruch auf Zahlung der Gebühren und Auslagen befriedigt ist. Für die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts können sich aus den Berufspflichten des Rechtsanwalts im Einzelfall Beschränkungen ergeben. So kann die rücksichtslose Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts für geringfügige Rückstände sich als Verletzung der allgemeinen Berufspflicht (€) darstellen und zu einer ehrengerichtlichen Bestrafung führen (€). Ist der Rechtsanwalt wegen der Gebühren und Auslagen befriedigt, so hat er die Handakten dem Auftraggeber herauszugeben (€)€.

Der Gesetzgeber hat bei Schaffung der Regelung des Zurückbehaltungsrechts die Existenz einer nicht nur zivilrechtlichen, sondern auch berufsrechtlichen Pflicht zur Herausgabe der Handakten vorausgesetzt. Die Regelung eines rein zivilrechtlichen Zurückbehaltungsrechts im Berufsrecht, der Bundesrechtsanwaltsordnung, wäre nicht nur unnötig, sondern darüber hinaus verfehlt. Wenn aber die unberechtigte Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts einen Berufsrechtsverstoß darstellen kann, gilt dies für die Unterlassung der Herausgabe ohne die Berufung auf ein bestehendes Zurückbehaltungsrecht erst recht (Kilian / Offermann-Burckart / vom Stein € Offermann-Burckart, Praxishandbuch Anwaltsrecht, 2. Auflage, 2010, § 14 RN 37).

Dieser Annahme steht auch nicht die von dem Anwaltsgerichtshof Düsseldorf zitierte Entscheidung des BGH vom 30.11.1989 (NJW 1990, 510) entgegen. Diese Entscheidung befasst sich im Ergebnis gar nicht mit der Frage einer berufsrechtlichen Herausgabepflicht, da es um die zivilrechtlichen Ansprüche eines Konkursverwalters gegen den Rechtsanwalt des Gemeinschuldners auf Herausgabe von Handakten und Einsichtnahme in die Handakten geht.

Letztendlich ist auf die Regelung des § 17 BORA zu verweisen. Dieser konkretisiert die Ausübung des in § 50 III BRAO grundsätzlich vorgesehenen Zurückbehaltungsrechts des Rechtsanwalts an den Handakten und steht im dritten Abschnitt der BORA, der die Überschrift €Besondere Berufspflichten bei der Annahme, Wahrnehmung und Beendigung des Mandats€ trägt. Damit hat die Satzungsversammlung in ihrer Berufsordnung zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei der Herausgabe der Handakte durch den Rechtsanwalt an den Mandanten (auch) um eine berufsrechtliche Pflicht handelt.

Im Ergebnis ist die Berufspflicht des Rechtsanwalts zur Herausgabe der Handakte in § 50 III BRAO i. V. m. § 17 BORA normiert. Auf einen alleinigen Rückgriff auf § 43 BRAO, der dem Bestimmtheitsgebot nach Art. 20 Abs.3 GG nicht Genüge tun könnte, kommt es daher im Ergebnis nicht an.

Diese Berufspflicht hat der Kläger verletzt, ohne dass ihm ein Zurückbehaltungsrecht an der Handakte gemäß § 50 III BRAO i. V. m. § 17 BORA zur Seite stand.

§ 50 III 1 BRAO sieht grundsätzlich vor, dass der Rechtsanwalt seinem Auftraggeber die Herausgabe der Handakten bis zur Befriedigung seiner Gebühren- und Auslagenansprüche verweigern kann. Dieses Zurückbehaltungsrecht ergänzt grundsätzlich § 273 BGB und ist ein Sonderrecht des Rechtsanwalts, das weiter geht als das allgemeine Zurückbehaltungsrecht nach § 273 BGB und es dem Anwalt ermöglichen soll, seine berechtigten Ansprüche gegen den Auftraggeber auch ohne Prozess und Anrufung der Gerichte durchzusetzen (BGH NJW 1997, 2944; Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 50 RN 21).

Dies gilt allerdings gemäß § 50 III 2 BRAO dann nicht, wenn die Vorenthaltung nach den Umständen unangemessen wäre. Gemäß § 17 BORA, der § 50 III 2 BRAO insoweit konkretisiert, kann dem berechtigten Interesse eines Mandanten auf Herausgabe dadurch Rechnung getragen werden, dass Kopien überlassen werden, es sei denn, das berechtigte Interesse beziehe sich gerade auf die Herausgabe des Originals (vgl. Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 50 Rn 22). Angesichts der Klageerhebung unter dem 27.04.2012 konnte die Zurückhaltung der Handakten dem Mandanten des Klägers einen unverhältnismäßig hohen Schaden zufügen, wenn der Kläger die ihm überlassenen Unterlagen, insbesondere das Original des Pachtvertrages zurückhält und seinem Mandanten nicht zumindest in Ablichtung zur Verfügung stellt.

Allerdings kann auch dahinstehen, ob die Voraussetzungen des § 50 III 2 BRAO zum Zeitpunkt der Herausgabeaufforderung mit Schreiben der Kanzlei W. & S. vom 08.05.2012 oder später tatsächlich vorlagen.

Dabei war Rechtsanwalt S. zunächst allein wegen der Beauftragung durch den Mandanten des Klägers in dem gerichtlichen Verfahren bevollmächtigt, eine solche Herausgabeaufforderung an den Kläger zu richten. Auf die Frage, ob er im Übrigen zur Kündigung des außergerichtlichen Mandats des Herrn B. gegenüber dem Kläger bevollmächtigt gewesen ist, kommt es damit gar nicht an.

Ein Zurückbehaltungsrecht des Klägers gemäß § 50 III 1 BRAO ist nur begründet, wenn zum Zeitpunkt der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts die Honorarforderung des Klägers nach § 10 RVG einforderbar war (Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 50 RN 21b). Der Rechtsanwalt kann das Zurückbehaltungsrecht erst geltend machen, nachdem er ordnungsgemäß abgerechnet hat. Anderenfalls würde dem Mandanten mangels Kenntnis des geschuldeten Betrages die Möglichkeit genommen, durch sofortige Zahlung die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechtes sofort abzuwenden (Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 50 RN 21 b). Unstreitig hat der Kläger Herrn B. erst mit Schreiben vom 28.06.2012 seine Honorarrechnung überreicht, so dass bis dahin ein Zurückbehaltungsrecht des Klägers an den ihm überlassenen Unterlagen nicht bestand. Die im Schreiben des Klägers vom 21.06.2012 an die Kanzlei W. & S. vorgesehene persönliche Haftungsübernahmeerklärung ist im Übrigen von § 17 BORA von vornherein nicht gedeckt.

Die Beklagte war damit wegen des Verstoßes des Klägers gegen § 50 III BRAO i. V. m. § 17 BORA gemäß § 73 II Nr. 1 i. V. m. § 73 II Nr. 4 BRAO berechtigt, dem Kläger eine missbilligende Belehrung zu erteilen.

Die Entscheidung der Beklagten, den berufsrechtlichen Verstoß des Klägers mit einer missbilligenden Belehrung und nicht mit einer Rüge gemäß § 74 BRAO zu ahnden, ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat seine berufsrechtliche Pflicht gemäß § 50 III BRAO zwar schuldhaft verletzt, andererseits aber auf Grund eigener Entscheidung die erbetenen Unterlagen, wenn auch nach einem Zeitablauf von mehreren Wochen, an Herrn B. herausgegeben. Der Beklagten steht es grundsätzlich frei, mit einer Maßnahme zu reagieren, die ein Weniger als eine Rüge darstellt, um dem Betroffenen seinen schuldhaften Berufsrechtsverstoß vor Augen zu führen (Feuerich / Weyland, BRAO, 8. Auflage 2012, § 74 Rn 13).

III.

Gemäß § 112e BRAO, 124 II Nr. 3, 124a I VwGO war die Berufung zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 112c I S. 1 BRAO, 154 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 112c I BRAO, 167 I und 2 VwGO, 708 Nr.11 ZPO.






AGH Celle:
Urteil v. 24.06.2013
Az: AGH 1/13, AGH 1/13 (I 1)


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