Bayerischer Verwaltungsgerichtshof:
Beschluss vom 13. August 2014
Aktenzeichen: 19 CS 14.1196

(Bayerischer VGH: Beschluss v. 13.08.2014, Az.: 19 CS 14.1196)

Tenor

I. Unter entsprechender Abänderung der Nrn. 1 und 2 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 5. Mai 2014 wird die aufschiebende Wirkung der Klage vom 6. November 2013 angeordnet.

II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin, eine am ... geborene aserbaidschanische Staatsangehörige, hat zusammen mit ihrem am ... geborenen Ehemann und den am ... bzw. am ... geborenen Kindern nach der Einreise in das Bundesgebiet im Juli 2004 erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt (Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung durch B. des Verwaltungsgerichtshofs vom 20.7.2006 Az. 9 ZB 06.30659).

Im Oktober 2006 erlitt der Ehemann der Antragstellerin einen Herzinfarkt.

Im Rahmen der Fahrt der Familie zur Abschiebung über den Flughafen Frankfurt am 2. März 2007 machte der Ehemann der Antragstellerin Herzbeschwerden geltend und wurde deshalb in ein Krankenhaus gebracht. Die restliche Familie wurde wie geplant abgeschoben, nachdem das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 2. März 2007 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (AN 19 E 07.576) einen Aufschub mit der Begründung abgelehnt hatte, die Familienmitglieder hätten ein besonderes Aufeinanderangewiesensein nicht behauptet und eine vorübergehende Trennung des Ehemannes der Antragstellerin von der restlichen Familie sei nicht rechtswidrig.

Durch Urteil vom 18. Juli 2007 (AN 15 K 07.30409) hat das Verwaltungsgericht das Bundesamt hinsichtlich des Ehemanns der Antragstellerin zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG verpflichtet, weil dieser in seinem Heimatland € insbesondere wegen seiner wirtschaftlichen Verhältnisse (früher Traktorfahrer, nunmehr gesundheitlich stark eingeschränkt) € die zur Verhinderung eines erneuten Herzinfarkts und wegen Depressionen erforderliche medizinische Behandlung nicht erschwingen könne. Das Bundesamt ist diesem (rechtskräftig gewordenen) Verpflichtungsurteil durch Bescheid vom 24. August 2007 (Az. 5246510-425) nachgekommen. Dem Ehemann der Antragstellerin wurde sodann eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erteilt.

Am 21. November 2007 hat die Antragstellerin die Befristung der Wirkungen der Abschiebung beantragt, diesen Antrag jedoch nicht weiterverfolgt, nachdem ihr die Kosten der Abschiebung mitgeteilt worden waren, die vor einer Befristungsentscheidung zu erstatten seien.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2012 wurden die Wirkungen der Abschiebung der Antragstellerin auf den 31. Januar 2012 befristet, nachdem die Kosten der Abschiebung erstattet worden waren.

Am 2. Mai 2013 reiste die Antragstellerin mit einem Schengenvisum der ungarischen Botschaft in Baku in das Bundesgebiet ein. Ihren Antrag vom 6. Mai 2013 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat sie mit den Vorschriften in § 23a AufenthG und in § 30 AufenthG begründet.

Mit Bescheid vom 27. September 2013 lehnte die Antragsgegnerin das Begehren der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Erlass einer Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ab; der Bescheid wurde dem Bevollmächtigten der Antragstellerin am selben Tag per Telekopie nach Art. 5 VwZVG übermittelt. Unter dem 8. Oktober 2013 und dem 23. Oktober 2013 erinnerte die Antragsgegnerin den Bevollmächtigten an die Rücksendung des Empfangsbekenntnisses. Am 31. Oktober 2013 bestätigte der Bevollmächtigte der Antragstellerin den Empfang des Bescheides zum 7. Oktober 2013.

Mit Fernkopie vom 6. November 2013 hat die Antragstellerin Klage erheben und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragen lassen, wobei sie auf Art. 6 GG sowie auf § 36 Abs. 2 AufenthG hinwies.

Mit Beschluss vom 5. Mai 2014 hat das Verwaltungsgericht den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt. Zur Begründung wurde zum einen ausgeführt, dem einstweiligen Rechtsschutzbegehren fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil die am 6. November 2013 beim Verwaltungsrecht eingegangene Klage verfristet sei. Auf dem Bekenntnis, den Bescheid am 7. Oktober 2013 erhalten zu haben, sei als Datum des Empfangs der Telekopie des Bescheids beim Rechtsanwalt der 27. September 2013, 16:17 Uhr, abgedruckt, so dass der Bevollmächtigte unfreiwillig ein Empfangsbekenntnis auch für diesen Zeitpunkt abgegeben habe. Zum anderen lägen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 AufenthG, die allein in Betracht komme, nicht vor. Es sei nicht nachgewiesen, dass sich die Antragstellerin auf zumindest einfache Art in deutscher Sprache verständigen könne, und auch nicht, dass ihr Lebensunterhalt gesichert sei. Nachdem der Ehemann der Antragstellerin über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG verfüge, könne ihr lediglich eine der in § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG genannten Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden. Die von ihr begehrte familiäre Aufenthaltserlaubnis zähle hierzu nicht. Schließlich sei die Antragstellerin ohne Beachtung des Visumverfahrens eingereist und habe daher den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG (mit der Folge des Nichtvorliegens der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) erfüllt. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Durchführung des Visumverfahrens seien nicht erkennbar; eine kurzzeitige Trennung von Eheleuten zur Durchführung des Visumverfahrens verstoße nicht gegen Art. 6 GG. Ferner fehle es an Anhaltspunkten dafür, dass der Ehemann der Antragstellerin auf deren Hilfe unabdingbar angewiesen sei. Es sei lediglich ein Arztbrief des Klinikums N. vom 22. Januar 2014 vorgelegt worden, wonach sich der Ehemann der Antragstellerin für ca. fünf Wochen aufgrund diverser Erkrankungen in stationärer Behandlung aufgehalten habe und in adäquatem Gesundheitszustand zur Nachsorge habe entlassen werden können.

Zur Begründung der hiergegen gerichtete Beschwerde vom 26. Mai 2014 wurde zum einen ausgeführt, das Empfangsbekenntnis wirke € entsprechend dem vom Bevollmächtigten eingetragenen Datum € für den 7. Oktober 2013, zum anderen, nach der Einreise der Antragstellerin habe sich der Gesundheitszustand ihres Ehemannes (ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste) so verschlechtert, dass er auf die Pflege seiner Ehefrau zur nötigen Stabilisierung des Gesundheitszustandes angewiesen sei. Der Antragstellerin sei daher eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen. Die Antragstellerin beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses vom 5. Mai 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage vom 6. November 2013 herzustellen,

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen,

und verteidigt den Beschluss des Verwaltungsgerichts.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet, sodass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern ist. Das einstweilige Rechtsschutzbegehren ist zulässig. Die Frage, ob die Antragstellerin mit ihrer Klage im Verfahren AN 5 K 13.1922 erfolgreich sein wird, ist offen und die Abwägung der Interessen, die von einer sofortigen Vollziehung des Titelablehnungs- und Aufenthaltsbeendigungsbescheids vom 27. September 2013 betroffen sein würden, ergibt ein Überwiegen der Interessen der Antragstellerseite.

1. Die Antragstellerin wendet sich zu Recht gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, einstweiliger Rechtsschutz könne schon deshalb nicht gewährt werden, weil die Klage in der Hauptsache verfristet sei. Das Verwaltungsgericht hat diese Auffassung auf die Annahme gestützt, der Angabe des erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin in der Empfangsbestätigung nach Art. 5 Abs. 7 Satz 2 VwZVG, er habe den Bescheid am 7. Oktober 2013 erhalten, komme keine Bedeutung zu, weil auf dieser Empfangsbestätigung auch das Fax-Eingangsdatum des von der Antragsgegnerin gefaxten Bescheides vermerkt sei (27.9.2013, 16:17 Uhr) und der Klägervertreter somit € unfreiwillig € bestätigt habe, den Bescheid bereits am 27. September 2013 erhalten zu haben. Diese Auffassung ist unrichtig.

Die Zustellung €gegen Empfangsbekenntnis€ setzt € neben der (vorliegend unzweifelhaft vorhandenen) Zustellungsabsicht des Versenders € voraus, dass ein Empfangsbekenntnis erfolgt. Der Adressat muss vom Zugang des Schriftstücks (nicht nur) Kenntnis erhalten, sondern zudem entscheiden, ob er es als zugestellt ansieht. Eine Willensäußerung dahingehend, das Schriftstück anzunehmen (Empfangsbereitschaft) ist € anders als etwa bei einer Zustellung durch den Gerichtsvollzieher € zwingende Voraussetzung der wirksamen Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (vgl. Engelhardt/App. VwZG, VwVG, 9. Aufl. 2011, § 5 VwZG Rn. 3,18); der Empfänger muss an der Zustellung willentlich mitwirken (vgl. OLG Hamm, U.v. 12.1.2010 € 4 U 193/09 € Juris Rn. 25 ff., und OLG Köln, B.v. 4.7.2006 € 6 W 81/06 € Juris Rn. 7 ff., jeweils unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, U.v. 30. 6 2008 € L 1 U 373/07 € Juris Rn. 26). Wer mit der Möglichkeit rechnet, dass der Verfahrensbevollmächtigte die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis missbräuchlich zu einer Verschiebung des Zustellungszeitpunktes nutzt (in ihrer Klageerwiderung vom 13.11.2013 hat die Antragsgegnerin angemerkt, just bei dieser Kanzlei falle Derartiges nicht zum ersten Mal auf), muss auf andere Zustellungsarten zurückgreifen (OLG Köln, B.v. 4.7.2006, a.a.O.; die dem Art. 5 Abs. 4 VwZVG entsprechende Vorschrift des § 174 Abs. 1 ZPO ergänzt die in beiden Vorschriften enthaltene Aufzählung von Berufen um sonstige Personen, bei denen €aufgrund ihres Berufes von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann€).

Aus der Angabe des erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin in der Empfangsbestätigung, er habe den Bescheid am 7. Oktober 2013 erhalten, ergibt sich, dass er vor dem 7. Oktober 2013 nicht empfangsbereit gewesen ist. Auch das Verwaltungsgericht geht bei der Vorverlagerung des Empfangszeitpunkts von einem €unfreiwillig€ bestätigten Zustellungszeitpunkt aus, zieht hieraus jedoch nicht die gebotene rechtliche Schlussfolgerung. Entgegen der in der Beschwerdebegründung geäußerten Auffassung spricht zwar viel dafür, dass der erstinstanzlich bevollmächtigte Prozessvertreter gegen seine Berufspflicht aus § 14 BORA verstoßen hat, wonach der Rechtsanwalt ordnungsgemäße Zustellungen entgegenzunehmen und das Empfangsbekenntnis, mit dem Datum versehen, unverzüglich zu erteilen hat. Für die Wirksamkeit der Zustellung gegen Empfangsbekenntnis kommt es hierauf jedoch nicht an. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Zustellung ist allein derjenige, in dem der Zustellungsempfänger bestätigt, dass er das zuzustellende Dokument als zugestellt annimmt (BVerfG, B.v. 27.3.2001 € ZBvR 2211/97 € NJW 2001, 1563 f., Engelhardt/App, a.a.D., Rn. 21; Sadler, VwVG, VwZG, 5. Aufl. 2002, § 5 VWZG Rn. 37 ff.).

Eine Heilung dergestalt, dass von einer (zur Klageverfristung führenden) Zustellung vor dem 6. Oktober 2013 auszugehen wäre, scheidet aus; der Mangel des Empfangswillens kann nicht geheilt werden (OLG Hamm, U.v. 12.1.2010, a.a.O. Rn. 30; vgl. im Übrigen den Wortlaut der Vorschrift des Art. 9 VwZVG).

2. Das Verwaltungsgericht hält das einstweilige Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin wegen fehlender Erfolgsaussicht der Hauptsacheklage auch für unbegründet. Jedoch erweist sich das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens als offen und die deshalb gebotene Nachteilsabwägung führt zu einem Überwiegen der Interessen der Antragstellerin.

Das Verwaltungsgericht legt dar, die Antragstellerin habe die Aufenthaltserlaubnis zur ehelichen Lebensführung wegen Nichterfüllung mehrerer gesetzlicher Erfordernisse (des Spracherfordernisses des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, des Regelerfordernisses der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und des Visumverfahrenserfordernisses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), wegen Vorliegens eines Ausweisungsgrundes im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sowie im Hinblick auf die einschränkende Vorschrift des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu Recht abgelehnt. Dies ist zweifelhaft; jedenfalls steht es nicht mit der für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erforderlichen Sicherheit fest.

Vorschriften, die - wie die vom Verwaltungsgericht angeführten - zum Schutz gewichtiger ausländerrechtlicher Gemeinwohlbelange den Nachzug von Familienangehörigen beschränken, sind im Allgemeinen unbedenklich. Das Familienleben steht zwar unter dem Schutz von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, kann aber in der Regel auch im Heimatland stattfinden. Einem Ausländer, dessen Nachzugsbegehren in Widerspruch zu solchen Belangen steht, ist es zuzumuten, seine im Bundesgebiet verfolgten Aufenthaltszwecke (Erwerbstätigkeit, Studium o. ä.) zu Gunsten des Familienlebens zurückzustellen (BVerwG, U.v. 26.08.2008 - 1 C 32/07 - BVerwGE 131,370, juris Rn. 27,31, und vom 30.3.2010 - 1 C 8/09 - juris Rn. 45 sowie OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 21.05.2012 - OVG 2 B 8.11 - juris Rn. 25). Das Visumerfordernis des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und das Spracherfordernis des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG sind auch deshalb in der Regel unbedenkliche Beschränkungen, weil sie subjektiven Charakter haben, also die Möglichkeit offen lassen, die Beschränkung durch persönliche Bemühungen zu beseitigen, und dem Nachzug daher nicht dauerhaft entgegenstehen.

Es spricht jedoch viel dafür, dass der vorliegende Sachverhalt keinen Regelfall darstellt, in dem die Familieneinheit im Heimatland gelebt oder ihre Herstellung im Bundesgebiet schadlos um (mindestens) mehrere Monate hinausgeschoben werden kann.

Die Antragstellerin und ihr Ehemann können sich auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berufen. Zwar war die Familieneinheit zwischen März 2007 und Mai 2013 unterbrochen. Dies beruhte jedoch - ähnlich wie bei einer Inhaftierung (vgl. hierzu sowie zu anderen unfreiwilligen Unterbrechungen Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 10. Aufl. 2013, Rn. 46 zu § 27 AufenthG) - nicht auf einer Entscheidung der Eheleute, sondern auf dem Umstand, dass der Ehemann aus gesundheitlichen Gründen nicht in seiner Heimat zurückkehren konnte, seine Familie aber dorthin abgeschoben wurde (aufgrund der behördlichen Annahme, das gesundheitliche Ausreisehindernis des Ehemannes bestehe nur übergangsweise). Es fehlt auch an Anhaltspunkten für die Annahme, die faktische Trennung sei durch Entfremdung zu einer ehelichen Trennung geworden. Die Antragstellerin, die durch die Abschiebung und durch die Unerreichbarkeit einer ausreichenden ärztlichen Behandlung der Krankheit ihres Ehemannes in Aserbaidschan zur Alleinerziehenden geworden ist, hatte bereits im November 2007 eine Befristung der Wirkungen ihrer Abschiebung beantragt und dieses Begehren offensichtlich nur deshalb nicht weiterverfolgt, weil sie zu der Begleichung der Abschiebungskosten nicht in der Lage war, die die Antragsgegnerin zur Voraussetzung einer Befristung gemacht hatte. Im Jahr 2011 hat sie den Befristungsantrag wieder aufgegriffen, die Abschiebungskosten bezahlt und eine Befristung auf den 31. Januar 2012 erreicht (Bescheid vom 24.1.2012).

Das Familienleben der Antragstellerin und ihres Ehemanns kann nicht in Aserbaidschan stattfinden. Die gesundheitliche Problematik des Ehemanns hat nicht nur übergangsweise bestanden. Ihm ist das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuerkannt und auf dieser Grundlage eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erteilt worden. Angesichts der rechtskräftigen Feststellung, dass ihm im Fall der Rückkehr nach Aserbaidschan eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht, ist ihm eine solche Rückkehr auch auf freiwilliger Basis nicht zumutbar.

a) Nach § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden. Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz ist die Frage, ob humanitäre Gründe vorliegen, anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Jedoch ist, €sofern die Herstellung der Familieneinheit im Ausland aus zwingenden persönlichen Gründen unmöglich ist,€ stets ein dringender humanitärer Grund im Sinne der Vorschrift anzunehmen. Bei Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 bis 3 besitzen, ist - außer in den Fällen des § 60 Abs. 4 - anzunehmen, dass die Herstellung der familiären Einheit im Herkunftsstaat unmöglich ist. Ob die Herstellung in einem anderen als dem Herkunftsstaat möglich ist, bedarf nur der Prüfung, sofern ein Ehegatte oder ein Kind in einem Drittland ein Daueraufenthaltsrecht besitzt" (Nr. 29.3.1.1 AVwV AufenthG). Nachdem weder ein Fall des § 60 Abs. 4 AufenthG noch ein Aufenthaltsrecht eines Familienmitglieds in einem Drittland ersichtlich ist, scheitert die beantragte Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach derzeitigem Sachstand nicht an § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

b) Es spricht viel dafür, dass sie auch nicht an der fehlenden Unterhaltssicherung scheitert. Dem Aufenthaltserlaubnis-Antrag steht § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht entgegen, denn der Ehemann der Antragstellerin hat im Bundesgebiet keine Familienangehörigen oder Haushaltsangehörigen, denen er unterhaltspflichtig ist. Die Regelvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird in einem Fall, in dem - wie hier - die familiäre Lebensgemeinschaft nur in Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, regelmäßig zurückgedrängt (Dienelt, a.a.O., § 27 Rn. 69 unter Hinweis auf den B. des BVerfG v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80,81/95 und auf das U. des OVG Berlin-Brandenburg vom 21.5.2012 - OVG 2 B 8/11 - Juris Rn. 25).

c) Gründe für einen Verzicht auf das Visumerfordernis (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und auf das Regelerfordernis, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, hier: falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Schengen-Visums i.S.d. § 55 Abs. 2 Nr.1 lit. a AufenthG) sind bis Anfang Dezember 2013 nicht ersichtlich gewesen, denn damals hat nichts für eine Notwendigkeit gesprochen, die eheliche Lebensgemeinschaft sofort herzustellen. Der Ehemann der Antragstellerin war trotz seiner Herzerkrankung, Depression und Anpassungsstörung, deretwegen eine Betreuung für ihn errichtet worden ist, erwerbstätig und demzufolge wohl kaum auf familiären Beistand angewiesen.

Im Dezember 2013 hat sich jedoch die Gesundheit des Ehemanns der Antragstellerin erheblich verschlechtert, sodass ab dann - nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes notwendigerweise summarischen Überprüfung -von einer Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sowie von einem Ausnahmefall auszugehen ist, in dem der Regelablehnungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keine Anwendung finden kann.

Die Antragstellerin hat dem Verwaltungsgericht Belege dafür vorgelegt, dass ihr Ehemann während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (im Dezember 2013) eine Hirnblutung erlitten hat, die die Entfernung eines Angioms und eine € bei der Klinikentlassung noch bestehende € Teillähmung der rechten Körperseite zur Folge hatte (Bericht der Neurochirurgischen Klinik des Klinikums N. vom 23.1.2014). Das Verwaltungsgericht hat diese Belege nicht hinreichend gewürdigt. Die Ausführung im Beschluss des Verwaltungsgerichts (S. 7), aus dem Klinikbericht ergebe sich, dass der Ehemann der Antragstellerin €in adäquatem Gesundheitszustand zur Nachsorge€ habe entlassen werden können, übergeht die Frage, welchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Entlassungszustand adäquat ist, und damit die Frage nach dem Schweregrad. Die im Klinikbericht vom 23. Januar 2014 genannten wesentlichen Gesundheitsschäden lassen das nunmehr vorgelegte psychiatrische Attest vom 22. Mai 2014 plausibel erscheinen, demzufolge der Ehemann der Antragstellerin unter psychischen Störungen leidet und nun aufgrund eines Schlaganfalls im Dezember 2013 gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen ist, weswegen er der häuslichen Gemeinschaft mit seiner Frau existenziell bedürfe, ebenso das allgemeinärztliche Attest vom 26. Mai 2014, wonach der Ehemann der Antragstellerin auf die Unterstützung seiner Ehefrau angewiesen ist (diese ärztlichen Feststellungen sprechen im Übrigen auch dafür, dass sich der Sozialleistungsbedarf im Falle der Anwesenheit der Antragstellerin im Bundesgebiet als geringer erweisen könnte als im Falle einer Beendigung ihres Aufenthalts).

d) Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Nachzugserlaubnis für den Ehegatten eines Ausländers voraus, dass sich der Ehegatte zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann. Nach Nr. 30.1.2.1 AVwVAufenthG umfasst dies die folgenden sprachlichen Fähigkeiten: €Kann vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden, die auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen. Kann sich und andere vorstellen und anderen Leuten Fragen zu ihrer Person stellen - zum Beispiel wo sie wohnen, was für Leute sie kennen und was für Dinge sie haben - und kann auf Fragen dieser Art Antwort geben. Kann sich auf einfache Art verständigen, wenn die Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind zu helfen€. Nach Nr. 30.1.2.2 AVwVAufenthG ist im Einklang mit der gesetzlichen Vorgabe darauf zu achten, dass nicht bereits weitergehende Fähigkeiten verlangt werden.

Der Senat geht davon aus, dass die Antragstellerin diese Vorgaben erfüllt, weil sich ihr gesamter Aufenthalt im Bundesgebiet (ohne den Zeitraum seit ihrer letzten Einreise am 2.5.2013) auf mehr als fünf Jahre beläuft. Sie ist von Juli 2004 bis März 2007 zur Durchführung eines Asylverfahrens im Bundesgebiet gewesen. Ihren Angaben vom 20. September 2004 vor dem Bundesamt zufolge hat sie sich darüber hinaus in der Zeit zwischen dem Beginn des Jahres 1990 und Mai 1991 im Bundesgebiet aufgehalten, als ihr Ehemann bei einem hier stationierten Teil der ehemaligen Sowjetarmee gearbeitet hat. Diese Angaben sind plausibel, nachdem als Geburtsort für den am ... geborenen Sohn R... "Weimar/DDR" angegeben wird. Der streitgegenständliche Bescheid vom 27. September 2013 geht demgegenüber nicht von ausreichenden Deutschkenntnissen aus, weil die Antragstellerin zusammen mit einem Dolmetscher am 5. August 2013 bei der Ausländerbehörde vorgesprochen hat. Jedoch ist zweifelhaft, ob diese Schlussfolgerung begründet ist. Durch den Vorsprachetermin vom 5. August 2013 ist die Aufenthaltsbeendigung vorbereitet worden; der Antragstellerin wurde bei dieser Gelegenheit das diesbezügliche Anhörungsschreiben ausgehändigt. Es entspricht der Vernunft, dass ein Ausländer bei einem derartigen Vorsprachetermin das vollständige Erfassen der Kommunikation mittels eines Dolmetschers zu gewährleisten versucht, auch wenn er über die von § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geforderten sprachlichen Fähigkeiten (jedoch über keine weitergehenden) verfügt; die Annahme, die anstehende Thematik könne verlässlich mithilfe €alltäglicher Ausdrücke und ganz einfacher Sätze" (Nr. 30.1.2.1 AVwV AufenthG) erörtert werden, begegnet erheblichen Zweifeln.

Auch wenn sich bei einer sachgerechten Ermittlung der Sprachfähigkeiten der Antragstellerin ergeben sollte, dass sie sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann, rechtfertigt dies nicht die Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzgesuchs.

Die gesetzlichen Ausnahmeregelungen zur Vorschrift des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfassen Fälle nicht, in denen die Forderung, die gesetzlich vorgeschriebenen Sprachfähigkeiten im Heimatland zu erwerben, den in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK enthaltenen Wertungen widerspricht, weil auch eine nur kurzfristige Unterbrechung der Lebensgemeinschaft mit unzumutbaren Nachteilen verbunden ist. Hieraus ergibt sich jedoch keine Verfassungswidrigkeit der Spracherfordernis-Regelung. Der verfassungsrechtlich gebotene Interessenausgleich kann auch auf andere Weise (einfachgesetzlich) herbeigeführt werden, insbesondere durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen vorübergehenden Aufenthalt zum Zweck der Spracherwerbs nach § 16 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, U.v. 30.3.2010 - 1 C 8/09 - Juris Rn. 46).

Nach der vorliegend angezeigten summarischen Überzeugungsbildung wäre ein solcher Interessenausgleich zur Vermeidung eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht aus denselben Gründen geboten wie der Verzicht auf die Nachholung des Visumverfahrens (vgl. lit. c) und wie die Annahme eines Ausnahmefalls im Hinblick auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (vgl. lit. b).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).






Bayerischer VGH:
Beschluss v. 13.08.2014
Az: 19 CS 14.1196


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