Brandenburgisches Oberlandesgericht:
Beschluss vom 20. Februar 2006
Aktenzeichen: 1 Ws 25/06

(Brandenburgisches OLG: Beschluss v. 20.02.2006, Az.: 1 Ws 25/06)

Tenor

Die Beschwerden der Angeklagten zu 3., 4. und 5. gegen den die Beiordnung eines zweiten notwendigen Verteidigers ablehnenden Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts ... vom 4. Januar 2006 werden als unbegründet zurückgewiesen.

Die Angeklagten zu 3., 4. und 5. tragen die Kosten ihrer Rechtsmittelverfahren und die ihnen in diesen entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I. Gegen die insgesamt sechs Angeklagten ist bei der 1. großen Strafkammer (Schwurgericht) des Landgerichts ... ein Strafverfahren wegen zweifachen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangenen versuchten Mordes anhängig. ... Ihnen wird vorgeworfen, am 3. Juli 2005 gegen 1:30 Uhr aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses auf der ... zwei Personen, die sie der sog. linken Szene der Stadt zuzuordnen glaubten, mit Bierflaschen, gezielten Tritten und Schlägen gegen Kopf und Körper angegriffen und erheblich verletzt (Schnittwunde, Hämatome, Gehirnerschütterung) zu haben; den von ihnen für möglich gehaltenen verletzungsbedingt eintretenden Tod der Geschädigten sollen sie billigend in Kauf genommen und aufgrund einer verfestigten rechtsextremen Gesinnung gehandelt haben.

Das Schwurgericht hat die entsprechende Anklage der Staatsanwaltschaft ... zur Hauptverhandlung zugelassen, die am 20. Dezember 2005 begonnen hat und für die zunächst 17 Verhandlungstage vorgesehen sind; zu der Hauptverhandlung sind ein Ergänzungsrichter und zwei Ergänzungsschöffen beigezogen worden. Die Staatsanwaltschaft nimmt an der Hauptverhandlung bislang mit zwei Sitzungsvertretern teil.

Den von den Angeklagten zu 3.,4.und 5. gestellten Antrag auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers hat der Vorsitzende des Schwurgerichts durch den angefochtenen Beschluss mit der Begründung abgelehnt, weder aufgrund des Umfangs noch wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage bestehe ein unabweichbares Bedürfnis, zur Sicherstellung einer ausreichenden Verteidigung einen weiteren Verteidiger zu bestellen. Auch die voraussichtliche Verfahrensdauer berge - zumal nicht mehrjährig - keine ernsthafte Gefahr, dass es infolge einer Verhinderung des bereits gestellten Pflichtverteidigers zu maßgeblichen Verfahrensverzögerungen komme; einzelnen Terminskollisionen könnten durch Unterbrechungen der Hauptverhandlung, die Beurlaubung gem. § 231 c StPO, das Tätigwerden eines Vertreters gem. § 53 BRAO oder die Bestellung eines anderen Verteidigers bei Eintritt der Verhinderung begegnet werden, wobei die bisher vorgesehenen Sitzungstage allerdings insgesamt mit den Verteidigern abgestimmt worden seien.

Hiergegen wenden sich die Angeklagten zu 3., 4.und 5. mit ihren Beschwerden. Sie machen vor allem geltend, angesichts der zu erwartenden Verfahrensdauer sei bei Eintritt eines Verhinderungsfalls keine sachgemäße Verteidigung mehr möglich; angesichts der Heranziehung von Ergänzungsrichtern und -schöffen sowie des bisherigen Auftretens von zwei Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung tangiere die Verweigerung weiterer Pflichtverteidiger im übrigen die Grundsätze des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit.

II. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg. Zurecht hat der Schwurgerichtsvorsitzende die Beiordnung von weiteren notwendigen Verteidigern für die Angeklagten zu 3., 4.und 5. abgelehnt.

1. Die Beschwerde ist aber allerdings nicht bereits unzulässig, insbesondere nicht unstatthaft. Denn Entscheidungen des Gerichtsvorsitzenden über die Bestellung bzw. Abbestellung eines Pflichtverteidigers unterliegen in jeder Lage des Verfahrens - auch wenn sie (wie hier) während laufender Hauptverhandlung ergehen - nach § 304 Abs. 1 StPO der Beschwerde.

§ 305 Satz 1 StPO steht ihrer Zulässigkeit nicht entgegen. Es handelt sich vorliegend nämlich nicht um eine Entscheidung des €erkennenden Gerichts, die der Urteilsfällung vorausgeht€ (vgl. RGSt 67, 3110; OLG Hamm NJW 1973, 818; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1064; Senat in OLG NL 2003, 261). Dies folgt indes nicht schon daraus, dass sich das Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Gerichtsvorsitzenden richtet. § 305 StPO unterfallen nämlich nicht lediglich Entscheidungen des erkennenden €Gerichts€, sondern auch Entscheidungen, die von dessen Vorstand getroffen worden sind (OLG Stuttgart NJW 1976, 1647; OLG Düsseldorf StV 1986, 239). Entscheidend ist aber, dass der angegriffene Beschluss nicht in dem in § 305 Satz 1 StPO vorausgesetzten inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung steht. Die prozessuale Bedeutung der Nichtzulassung eines weiteren Pflichtverteidigers geht über die Vorbereitung der Endentscheidung der Kammer vielmehr hinaus; sie sichert das justizförmige Verfahren (vgl. Löwe/Rosenberg, StPO, § 141 Rz. 47).

2. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.

a) Es besteht keine dahingehende normative Regelung, unter welchen Voraussetzungen die Mitwirkung mehrerer Verteidiger des Angeklagten im Hauptverfahren geboten ist. § 140 StPO bestimmt lediglich, dass dem Angeklagten ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn dies wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann; § 140 Abs. 1 StPO gestaltet diesen, in Abs. 2 derselben Vorschrift enthaltenen gesetzlichen Grundgedanken näher aus.

10Die Beiordnung eines zweiten Verteidigers ist vor dem Hintergrund der strafprozessualen Bestimmungen zur Pflichtverteidigung nur in Ausnahmefällen angezeigt, die sich aus dem Zweck des Rechtsinstituts der notwendigen Verteidigung herleiten lassen. Die Pflichtverteidigung bezweckt, dem Beschuldigten einen rechtskundigen Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (BVerfGE 68, 237, 254; BGHSt 3, 395; OLG Düsseldorf JZ 1986, 204). Hieraus folgt, dass - unter näher zu bestimmenden Voraussetzungen - die außergewöhnliche Schwierigkeit der Sache, der außergewöhnliche Umfang des Verfahrensstoffes oder die außergewöhnlich lange Dauer der Hauptverhandlung die Bestellung eines zweiten Verteidigers rechtfertigen können (vgl. OLG Celle StV 1988, 379; OLG Düsseldorf a. a. O.; OLG Frankfurt am Main StV 1993, 348; OLG Hamburg StraFo 2000, 383).

11b) Für die Abgrenzung, wann der Verfahrensstoff derart außergewöhnlich umfangreich oder schwierig ist, dass ein unabwendbares Bedürfnis zur Mitwirkung eines zweiten Verteidigers entsteht, um eine ausreichende Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten, ist beachtlich, dass jeder Verteidiger voll eingearbeitet sein muss, um sachgerecht verteidigen zu können. Deshalb hat der Pflichtverteidiger jedenfalls in umfangreichen Verfahren grundsätzlich kontinuierlich an der Hauptverhandlung teilzunehmen (OLG Celle StV 1988, 379; OLG Frankfurt am Main NJW 1972, 1964). Dies bedeutet, dass die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers einerseits dann erforderlich ist, wenn der Verfahrensstoff derart außergewöhnlich umfangreich und schwierig ist, dass er - auch nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel - ausschließlich bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann (OLG Düsseldorf NStZ 1990, 47; OLG Hamburg StV 200, 409).

12c) Die ausnahmsweise Bestellung eines zweiten Verteidigers bei Durchführung einer mutmaßlich außergewöhnlich langen Hauptverhandlung ist notwendig und gerechtfertigt, wenn und soweit andere gesetzliche Reaktionsmöglichkeiten auf die unvorhergesehene Verhinderung eines Verteidigers (etwa die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 229 StPO, die Beurlaubung gem. § 231 c StPO oder die Bestellung eines anderen Verteidigers bei Eintritt der Verhinderung) nicht ausreichen. Ihre Grenzen findet diese Verfahrensweise jedoch in dem Gebot sachgerechter Verteidigung, die gerade in umfangreichen und schwierigen Sachen Einarbeitung und kontinuierliche Begleitung der Hauptverhandlung voraussetzt. Gleichwohl bleibt auch in Komplexverfahren die Mitwirkung eines ad hoc bestellten und noch nicht voll eingearbeiteten Verteidigers für Hauptverhandlungstage zulässig, an denen lediglich einfach gelagerte Teile des Verfahrensstoffs behandelt werden, die keine umfassende Vorbereitung des Verteidigers erfordern, solange überhaupt zur Sache verhandelt und die Verhandlung nicht lediglich aus Gründen der Wahrung prozessualer Fristen fortgesetzt wird (Senat a.a.O.).

d) Die Anwendung dieser Grundsätze ergibt, dass der Vorsitzende der Schwurgerichtsstrafkammer das ihm bei der nach §§ 141, 142 StPO getroffenen Entscheidung zustehende Ermessen nicht missbraucht bzw. seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat.

Der Verfahrensstoff ist nicht derart außergewöhnlich schwierig oder umfangreich, dass ein Verteidiger allein ihn nicht beherrschen könnte. Es stehen lediglich zwei, noch dazu weitgehend gleichartige und mutmaßlich auf einem zeitnah zusammenhängend gefassten Tatentschluss derselben Beteiligten beruhende Tatvorwürfe zur Verhandlung an, und der Aktenumfang (derzeit knapp 1600 Blatt Hauptakten, 1 Ladungsheft und ein Protokollband) ist für erstinstanzliche Strafkammersachen, auch für Kapitalsachen, nicht als überdurchschnittlich anzusehen.

Eine besonders lange Hauptverhandlung gegen die Rechtsmittelführer zeichnet sich ebenso- wenig ab. Nach Abstimmung mit den Verteidigern hat der Vorsitzende bislang 17 Hauptverhandlungstermine für den Zeitraum vom 20. Dezember 2005 bis zum 30. März 2006 bestimmt. Weder aus der Frequenz der Hauptverhandlungstage noch aus der Anzahl zu vernehmender Zeugen (in der Anklageschrift sind 19 benannt) bzw. aus anderen Umständen wie Reisewegen notwendiger Verfahrensbeteiligter erwachsen über theoretische Möglichkeiten hinausgehende Anhaltspunkte für Gefährdungen des Verhandlungs- und Verfahrensablaufes, denen nicht mehr mit anderen gesetzlichen Möglichkeiten bis zur ad-hoc-Bestellung eines Verteidigers für Überbrückungstermine begegnet werden könnte. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die den Beschwerdeführern bestellten notwendigen Verteidiger in absehbarer Zeit aus dringenden Gründen nicht in der Lage sein könnten, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, sind schließlich ebenfalls weder dargetan noch anderweitig ersichtlich.

e) Auf die im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte, vor allem die Besetzung der Richterbank mit Ergänzungsrichtern und -schöffen sowie die Teilnahme von mehreren Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung, kommt es nach Vorstehendem nicht an. Weder die prozessuale Fürsorgepflicht noch die Grundsätze des fair trial und der Waffengleichheit der Verfahrensbeteiligten erfordern bei dieser Sachlage die Beiordnung weiterer Verteidiger. Das Recht der Pflichtverteidigung gibt hierfür keine verfahrensrechtliche Grundlage ab, und den Angeklagten bleibt es unbenommen, sich - wie in jedem anderen Strafverfahren - zusätzlicher Verteidiger ihrer Wahl zu bedienen, um sich gegen die Tatvorwürfe zur Wehr zu setzen (§ 137 Abs. 1 Satz 2 StPO).

3. Die Rechtsmittel waren danach mit der sich aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO ergebenden Kostenfolge als unbegründet zurückzuweisen.






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