Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 4. Dezember 2000
Aktenzeichen: 1 BvR 1797/00

(BVerfG: Beschluss v. 04.12.2000, Az.: 1 BvR 1797/00)

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Verden (Aller) vom 16. Juni 2000 - 2 S 116/00 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 12.000 DM (in Worten: zwölftausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine gerichtliche Entscheidung, mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist versagt worden ist.

I.

1. Im Ausgangsverfahren wies das Amtsgericht eine von der Beschwerdeführerin erhobene Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld ab. Die Beschwerdeführerin legte dagegen am 17. April 2000 fristgerecht Berufung ein. Nach ihren Angaben beantragte sie mit Schriftsatz vom 12. Mai 2000, der nach der eidesstattlichen Erklärung einer Kanzleiangestellten ihres Prozessbevollmächtigten noch am selben Tag bei der Post aufgegeben wurde, die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 7. Juni 2000; begründet wurde dies mit "übermäßigem Geschäftsandrang" des Prozessbevollmächtigten. Nachdem ihm auf seine Anfrage vom Landgericht am 29. Mai 2000 mitgeteilt worden war, dass ein Verlängerungsantrag nicht vorliege, beantragte der Prozessbevollmächtigte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Verlängerung der genannten Frist bis zum 7. Juni 2000.

Das Landgericht hat den Antrag mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung lägen nicht vor. Die Beschwerdeführerin, die sich das Verhalten ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen müsse, habe nicht glaubhaft gemacht, dass dieser ohne Verschulden an der Wahrung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei. Ein Antrag auf deren Verlängerung sei nicht eingegangen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob die Angestellte des Prozessbevollmächtigten den entsprechenden Schriftsatz tatsächlich noch am 12. Mai 2000 zur Post gebracht habe. Jedenfalls hätte sich der Prozessbevollmächtigte vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist darüber Gewissheit verschaffen müssen, ob der Antrag bei Gericht eingegangen und insbesondere die beantragte Fristverlängerung bewilligt worden sei. Hierin liege das Verschulden des Prozessbevollmächtigten.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die angegriffene Entscheidung widerspreche der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und den vom Bundesverfassungsgericht hierzu aufgestellten Rechtsgrundsätzen. Ein Verschulden könne danach nicht darin gesehen werden, dass ihr Prozessbevollmächtigter innerhalb der Berufungsbegründungsfrist nicht beim Gericht nachgefragt habe, ob dem Antrag auf Fristverlängerung entsprochen worden sei. Eine solche Obliegenheit bestehe nicht, weil der Prozessbevollmächtigte grundsätzlich darauf habe vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werde.

3. Das Niedersächsische Justizministerium und die Beklagten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit, Stellung zu nehmen.

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen bei der Auslegung und Anwendung der für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand maßgeblichen Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um eine Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>). Denn der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes, der für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgt (vgl. BVerfGE 85, 337 <345> m.w.N.), verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <25 f.>; 69, 381 <385>; 88, 118 <123 ff.>).

Eine derartige Erschwerung liegt vor, wenn die Gerichte bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verhalten als schuldhaft ansehen, das nach der Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts eindeutig nicht zu beanstanden ist. Grundsätzlich sind die unteren Instanzen der Gerichte zwar nicht gehindert, insoweit abweichende Auffassungen zu der Rechtsprechung übergeordneter Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, zu vertreten. Sie dürfen allerdings aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit solche Meinungsunterschiede nicht zu Lasten des Bürgers austragen und es ihm nicht zum Verschulden gereichen lassen, wenn er auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut hat. Nur wenn dem rechtsuchenden Bürger bekannt sein muss, dass eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften durch das angerufene Gericht zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 79, 372 <376 f.>; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1998, S. 3703 f. m.w.N.).

Weiterhin hat es das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Überprüfung von gerichtlichen Wiedereinsetzungsentscheidungen - dort hinsichtlich des rechtzeitigen Eingangs von Fristsachen oder Verlängerungsanträgen bei Gericht - als nicht zulässig angesehen, dem Bürger Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder Zustellung durch die Post als Verschulden anzurechnen (vgl. BVerfGE 41, 23 <25 f.>; 53, 25 <28>; 62, 334 <336>).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Sie überspannt die von der Beschwerdeführerin einzuhaltenden Sorgfaltsanforderungen. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin musste nicht damit rechnen, dass seinem Fristverlängerungsantrag nicht stattgegeben würde. Er durfte vielmehr auf eine Stattgabe vertrauen.

aa) Ob ein Prozessbevollmächtigter darauf vertrauen darf, dass seinem Verlängerungsantrag stattgegeben wird, beurteilt sich zunächst nach der Auslegung und Anwendung des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO durch den Bundesgerichtshof. Danach darf ein Prozessbevollmächtigter mit großer Wahrscheinlichkeit dann mit der Bewilligung einer erstmals beantragten Fristverlängerung rechnen, wenn erhebliche Gründe im Sinne dieser Vorschrift dargelegt sind. Hierzu zählt auch die - hier geltend gemachte - berufliche Überlastung des Anwalts (vgl. BGH, NJW 1991, S. 2080 <2081>; VersR 1993, S. 771 <772>; NJW-RR 2000, S. 799 <800>; ebenso BAG, NJW 1995, S. 1446).

Hinsichtlich der Substantiierungs- und Konkretisierungsanforderungen, die an die Darlegung der "erhebliche(n) Gründe" im Sinne des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO zu stellen sind, hat der Bundesgerichtshof (vgl. BGH, VersR 1985, S. 972 f. m.w.N.; NJW-RR 1989, S. 1280; NJW 1991, S. 2080 <2081>) für den Grund der Arbeitsüberlastung entschieden, dass ein Prozessbevollmächtigter nicht deshalb mit einer Ablehnung seines Verlängerungsantrags rechnen muss, weil er die Gründe der Arbeitsüberlastung und die Auswirkungen auf die Bearbeitung gerade der konkreten Sache nicht näher substantiiert und glaubhaft gemacht hat. Er dürfe vielmehr so lange auf eine Stattgabe seines Antrags vertrauen, wie im Vergleich zu einer höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht eine deutlich restriktivere Praxis des angerufenen Gerichts in dessen Bezirk bekannt geworden sei (vgl. auch BAGE 75, 350 <353 f.>; 78, 68 <71>).

Es gereicht einer Partei schließlich auch nicht zum Verschulden, wenn ihr Prozessbevollmächtigter sich nicht fernmündlich nach der Entscheidung über den Antrag auf Fristverlängerung erkundigt. Wenn mit einer Verlängerung der Frist gerechnet werden kann, besteht keine Notwendigkeit für eine Rückfrage bei Gericht vor Ablauf der Frist (vgl. BGH, WM 1983, S. 477 <478>; NJW 1991, S. 2080 <2081>; VersR 1993, S. 771 <772>; NJW 1999, S. 430).

bb) Vor dem Hintergrund dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung konnte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin erwarten, dass das Landgericht seinem Fristverlängerungsantrag entsprechen würde. Dass der Schriftsatz, mit dem der Prozessbevollmächtigte diesen Antrag nach seinen Angaben bei Gericht einreichen wollte, am 12. Mai 2000 und damit fünf Tage vor dem am 17. Mai 2000 eingetretenen Ablauf der Berufungsbegründungsfrist zur Post gegeben worden ist, hat das Berufungsgericht nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Jedenfalls hat es die Ablehnung des Wiedereinsetzungsgesuchs der Beschwerdeführerin darauf nicht gestützt. Das Landgericht hat vielmehr darauf abgestellt, dass sich der Prozessbevollmächtigte vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht darüber Gewissheit verschafft habe, ob sein Antrag bei Gericht eingegangen und insbesondere die beantragte Fristverlängerung bewilligt worden sei. Zu beidem hatte der Prozessbevollmächtigte jedoch keinen Anlass. Der Verlängerungsantrag war, unterstellt, dass er am 12. Mai 2000 tatsächlich auf den Weg zum Gericht gebracht wurde, so früh zur Post gegeben worden, dass er bei normaler Postlaufzeit das Gericht rechtzeitig erreichen musste. Auch hatte der Prozessbevollmächtigte den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist erstmals gestellt und - in der Substantiierung offenbar ausreichend - mit Arbeitsüberlastung ("übermäßiger Geschäftsandrang") begründet. Nach der angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs konnte er deshalb mit einer Verlängerung der Frist rechnen. Dass dem Prozessbevollmächtigten - etwa aus seiner Erfahrung mit der Kammer des Landgerichts - hinsichtlich der Behandlung von Anträgen auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist eine strengere Praxis des zuständigen Spruchkörpers bekannt sein musste, ist weder der angegriffenen Entscheidung zu entnehmen noch sonst hervorgetreten. Das Landgericht durfte deshalb das Unterlassen der von ihm für erforderlich gehaltenen Erkundigungen durch den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin diesem nicht als Verschulden anlasten. Dass es dies dennoch getan hat, widerspricht dem Gebot rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung. Die Ablehnung des Wiedereinsetzungsgesuchs hat mithin der Beschwerdeführerin den Zugang zur Berufungsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert und sie in ihrem Recht auf rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt.

c) Der angegriffene Beschluss beruht auf diesem Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht der Beschwerdeführerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte und in eine Sachbehandlung eingetreten wäre, wenn es das Recht der Beschwerdeführerin auf eine rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung beachtet hätte.

2. Die angegriffene Entscheidung ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).






BVerfG:
Beschluss v. 04.12.2000
Az: 1 BvR 1797/00


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