Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Beschluss vom 27. Juli 2010
Aktenzeichen: L 11 KA 3/10 B ER

(LSG Nordrhein-Westfalen: Beschluss v. 27.07.2010, Az.: L 11 KA 3/10 B ER)

Tenor

Dem Antragsgegner wird aufgegeben, es unter Androhung eines in jedem Fall der Wiederholung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungsgeld bis zu sechs Monaten, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens L 11 KA 3/10 B ER zu unterlassen, die nachfolgend wiedergegebenen Äußerungen zu verbreiten und/oder verbreiten zu lassen,a) "Stattdessen drängen Hausärzte und auch die Allgemeine Ortskrankasse hier in Baden-Württemberg uns Kinder- und Jugendärzte in einen Vertrag, der keinerlei kindgerechte Leistungen beinhaltet" und/oderb) "Der Vergleich mit dem bayerischen PzV zeigt die mangelnde Berücksichtigung der kinder- und jugendmedizinischen Inhalte." und/oderc) "Diese (Allgemeinmediziner) können in der Regel keine kindgerechte Praxisausstattung vorweisen. Säuglingswaage, Wärmelampen, altersgerechte Manschetten oder pädiatrische Notfallkoffer - all diese Geräte sind Hausarztpraxen kaum vorhanden."

Gründe

Der Senat erlässt die tenorierte Zwischenregelung, weil ansonsten der durch Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebotene effektive Rechtsschutz nicht gewährleistet ist. Ob und inwieweit die Beschwerde zulässig und begründet sind, bleibt der verfahrensbeendenden Entscheidung vorbehalten.

1. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch im Antragsverfahren nach §§ 80, 80a und § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) Zwischenregelungen dann statthaft sind, wenn der Antragsteller ohne die Zwischenregelung unzumutbar schweren, anders nicht abwendbaren Nachteilen ausgesetzt wäre. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn auf andere Weise der durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene effektive Rechtsschutz nicht gewährleistet ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.03.2010 - 11 S 11.10 -; OVG Thüringen, Beschluss vom 03.05.2002 - 4 VO 48/02 -; VGH Hessen, Beschluss vom 04.04.2000 - 12 TZ 577/00 -; OVG Berlin, Beschluss vom 03.02.1998 - 8 S 184.97 -; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16.07.1997 - B 2 S 317/97 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.07.1994 -18 E 249/94 -; OVG Saarland, Beschluss vom 15.12.1992 - 2 W 36/92 -; OVG Hamburg, Beschluss vom 10.03.1988 - Bs V 10/88 -; vgl. auch Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Auflage 2004, § 80 Rdn. 54; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage 2009, § 80 Rdn. 170). Die sozialgerichtliche Rechtsprechung ist dem gefolgt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.10.2008 - L 11 KR 4810/08 ER-B -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.08.2002 - L 10 B 12/02 KA ER - vgl. auch Frehse in Jansen, SGG, 3. Auflage, 2009, § 155 Rdn. 6 b). Eine derartige Zwischenregelung wird dann als sachgerecht angesehen, wenn jedenfalls auf den ersten Blick eine offensichtliche Aussichtslosigkeit des auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichteten Begehrens nicht feststellbar ist (OVG Saarland, Beschluss vom 15.12.1992 - 2 W 36/92 -). Sie kann auch noch im Beschwerdeverfahren ergehen (OVG Thüringen, Beschluss vom 25.02.1999 - 4 ZEO 1076/97 -).

Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Durch das am 02.01.2002 in Kraft getretene 6. SGG-ÄndG (BGBl. I S. 2144 ff.) ist der einstweilige Rechtsschutz im SGG in Anlehnung an §§ 80 ff. VwGO geregelt worden. Dies rechtfertigt es, die zu §§ 80, 80a, 123 VwGO entwickelten Grundsätze auf das sozialgerichtliche Verfahren zu übertragen (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.08.2002 - L 10 B 12/02 KA ER - m.w.N.).

2. Ausgehend hiervon ergibt sich:

a) Die Antragstellerin hat die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 07.12.2009 am 11.01.2010 beim Senat anhängig gemacht. Zwischenzeitlich haben die Beteiligten weiter umfangreich zur Sache vorgetragen. Am 26.05.2010 ist ein Erörterungstermin durchgeführt worden, in dem namentlich die Frage besprochen worden ist, ob sich die Antragstellerin eines Anordnungsgrundes berühmen kann. Im Sitzungsprotokoll ist hierzu festgehalten:

"Der Vorsitzende weist auf Folgendes hin: Es ist weiterhin fraglich, ob die Antragstellerin sich eines Anordnungsgrundes berühmen kann. Nach § 86b SGG sind u.a., wie sich aus dem Verweis des § 86b Abs. 2 Satz 3 SGG auf § 920 Abs. 2 ZPO ergibt, Anspruch und Arrestgrund glaubhaft zu machen. Befreiungstatbestände enthält das SGG nicht. Auch § 12 Abs. 2 UWG enthält für das sozialgerichtliche Verfahren keine Ausnahmeregelung. Er verweist ausschließlich auf die Vorschriften für das zivilrpozessrechtliche Verfahren. Angesichts dieser gesetzlichen Vorgaben ist auch für eine entsprechende Anwendung des § 12 Abs. 2 UWG kein Raum (vgl. Senat, Beschluss vom 25.05.2008 - L 11 B 6/08 KA ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.11.2009 - L 11 KR 3727/09 ER-B -). Nach derzeitiger Einschätzung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass dem Begehren der Antragstellerin die Geltendmachung einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu Grunde liegt. Bei der Regelungsanordnung ist Anordnungsgrund die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile. Vermieden werden soll, dass der Antragsteller vor vollendeten Tatsachen gestellt wird, bevor er wirksamen Rechtsschutz erlangt. Ein Regelungsgrund wird nur angenommen, wenn es aus besonderen Gründen unzumutbar erscheint, den Antragsteller zur Durchsetzung seines Anspruches auf das Hautpsacheverfahren zu verweisen (vgl. Düring in Jansen, SGG, 3. Auflage, 2009, § 86b Rdn. 26). Wesentlicher Nachteil ist die Gefahr der Vereitelung des Rechts. Angesichts dieser Vorgaben erachtet es der Senat, wie sich aus den den Beteiligten zugeleiteten Entscheidungen ergibt, grundsätzlich als geboten, dass der Antragsteller schwerwiegende wirtschaftliche Beeinträchtigungen glaubhaft macht. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass dieser gleichsam "SGG-typische"-Anordnungsgrund in Fallgestaltungen wie der vorliegenden unter Umständen zu kurz greift. Vorliegend macht die Antragstellerin geltend, dass die Antragsgegnerin unwahre Tatsachenbehauptungen in ihrem Internetauftritt veröffentlicht hat. Diese sollen beseitigt werden. Der Anordnungsgrund "schwerwiegende wirtschaftliche Beeinträchtigung" deckt solche Fallgestaltungen nicht ab. Vor dem Hintergrund des Einflusses zivilrechtlicher Fragestellungen auf den Streitgegenstand könnte erwogen werden, die Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 935 ZPO im Hinblick auf unwahre Tatsachenbehauptungen bzw. Ehrenschutz auf das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach dem SGG, hier namentlich die Frage, ob und inwieweit ein Anordnungsgrund vorliegt, zu übertragen oder aber hierauf hilfsweise zurückzugreifen. Dies könnte dazu führen, dass ein Anordnungsgrund im Hinblick auf unwahre Tatsachenbehauptungen unter der Voraussetzung angenommen werden kann, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der unwahren Tatsachenbehauptung schwer oder nicht messbar sind, die Zielrichtung der unwahren Tatsachenbehauptung nicht auf finanzielle Auswirkungen beim Antragsteller gerichtet ist, dies vielmehr (mittelbare) Folge der unwahren Behauptung sein kann und erhebliche Nachteile nichtpekuniärer Art drohen. Im Übrigen werden mit den Beteiligten erörtert die Entscheidungen des BGH vom 02.12.2008 - VI ZR 219/06 -, vom 22.04.2008 - VI ZR 83/07 - und vom 22.06.1982 - VI ZR 251/80 - betreffend Ehrenschutz juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Des Weiteren weist der Vorsitzende darauf hin, dass er dazu neigt, die erste von der Antragstellerin angegriffene Behauptung insoweit als "unwahr" anzusehen als dort formuliert ist "keinerlei" kindgerechte Leistung. Auf die Darlegungen im Erörterungstermin zu diesem Punkt wird verwiesen. Entsprechendes gilt für die zweite von der Antragstellerin angegriffene Behauptung betreffend den Passus "mangelnde" Berücksichtigung der kinder- und jugendmedizinischen Inhalte. Soweit es die dritte Behauptung anlangt, könnte in dem Satzteil "kaum vorhanden" eine dem Beweis nicht zugängliche Bewertung liegen. Hierin könnte allerdings auch eine reale Tatsachenbasis liegen, die dem Beweis zugänglich ist. Ob und inwieweit hierüber sodann Beweis zu erheben wäre, bleibt den weiteren Überlegungen des Senats vorbehalten. Der Vorsitzende weist ergänzend darauf hin, dass ggf. erwogen wird, einen Hängebeschluss zu erlassen (vgl. hierzu: LSG NRW, Beschluss vom 23.08.2002 - L 10 B 12/02 KA ER-)."

Eine von den Beteiligten avisierte einvernehmliche Streitbeilegung ist bislang nicht zustande gekommen. Vielmehr werden neuerlich "streitige" Schriftsätze zur Sache gewechselt. Vor diesem Hintergrund ist ein weiteres Zuwarten angesichts von Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr tunlich.

b) In der Sache ist darauf hinzuweisen, dass der Senat sich den Darlegungen des Vorsitzenden im Erörterungstermin vom 26.05.2010 anschließt. Der Senat geht mithin nach derzeitiger Einschätzung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass ein Anordnungsgrund vorliegt. Der Anordnungsanspruch folgt daraus, dass der Eingriff bereits stattgefunden hat und Wiederholungsgefahr droht. Die Behauptungen zu a) und b) sind unwahr. Eine Tatsache ist unwahr, wenn sie im Zeitpunkt ihrer Verbreitung (RGZ 66, 227, 231) aus Sicht eines objektiven, durchschnittlichen Empfängers von der Realität abweicht (z.B. RGZ 75, 61, 63; BGH WM 69, 915, 916; NJW 85, 1621, 1622 f.; E 92, 1312). Das ist der Fall. Auf die Darlegungen im Erörterungstermin ist zu verweisen. Soweit es die Behauptung zu c) anlangt, neigt der Senat dazu, einen Mischtatbestand anzunehmen (hierzu BGH, Urteil vom 16.11.2004 - VI ZR 298/03 -; OLG Hamm, Urteil vom 12.11.2009 - 4 U 100/09 -), wobei der Satzteil "kaum vorhanden" eine Wertung enthält, die ggf. auf dem Beweis zugängliche Tatsachen zurückgeführt werden könnte. Da eine Beweiserhebung im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zwar möglich ist, das anhängige Verfahren dann allerdings sachlichinhaltlich zu einem Hauptsachverfahren zu mutieren droht, erachtet es der Senat im Rahmen einer Interessenabwägung als vertretbar, der Antragsgegnerin einstweilen auch die Behauptung zu c) zu untersagen. Dies gilt umso mehr, als die Behauptung zu c) in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit den unwahren Behauptungen zu a) und b) steht und für sich allein als Torso nicht mehr verständlich wäre.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).






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