Landgericht Göttingen:
Beschluss vom 13. Mai 2002
Aktenzeichen: 5 T 112/02

(LG Göttingen: Beschluss v. 13.05.2002, Az.: 5 T 112/02)

Tenor

Der Beschluss des Amtsgerichts Göttingen vom 16. April 2002 - 72 M 763/02 - wird aufgehoben.

Die vom Gläubiger beantragte Herausgabevollstreckung bezüglich des auf dem Grundstück G. gelegenen H. durch den Gerichtsvollzieher ist unzulässig.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich des Erinnerungsverfahrens trägt die Schuldnerin zu 2.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO n. F.).

Wert für das Beschwerdeverfahren: 1 Millionen Euro.

Gründe

Der Gläubiger betreibt gegen die Schuldner die Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil des Landgerichts Göttingen vom 30.11.2001 - 4 O 175/01 -. Darin sind die Schuldner als Beklagte verurteilt worden, das auf dem Grundstück G. gelegene I. an den Kläger herauszugeben. Der vom Gläubiger mit der Durchführung der Zwangsvollstreckung beauftragte Gerichtsvollzieher hat aufgrund von Bedenken hinsichtlich der zu gewährleistenden Versorgung der Heimbewohner bei Räumung durch die Schuldner als derzeitige Betreiber sowie zur weiteren Verfahrensweise angesichts eines streitigen Vermieterpfandrechtes die Sache gemäß § 60 Abs. 3 Ziff. a GVGA dem Amtsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Eine dagegen gerichtete Eingabe des Verfahrensbevollmächtigten des Gläubigers vom 11. April 2002, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, hat das Amtsgericht als Erinnerung gegen die Weigerung des Gerichtsvollziehers ausgelegt. Mit Beschluss vom 16. April 2002 hat das Amtsgericht den Gerichtsvollzieher auf die Erinnerung des Gläubigers angewiesen, die Zwangsvollstreckung wegen des Herausgabeanspruches vorzunehmen. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Schuldnerin zu 2. vom 29. April 2002, auf die ebenfalls Bezug genommen wird.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

Tatsächlich ist in dem noch nicht rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Göttingen nicht lediglich ein schlichter Herausgabeanspruch des Gläubigers tituliert worden. Vielmehr verpflichtet der Tenor die beiden Schuldner - zumindest auch - zu einer unvertretbaren Handlung, die gemäß § 888 ZPO zu vollstrecken ist.

1.

Ob ein Titel, der seinem Wortlaut nach lediglich einen Herausgabeanspruch beinhaltet, zugleich mit weitergehenden Handlungspflichten des Schuldners verbunden ist, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln (LG Frankenthal in DGVZ 1985, 184 (orientiert am Vollstreckungszweck); MüKO/Schilken, ZPO, 2. Auflage, § 883 Rdnr. 8 m.w.Nachw.). Im vorliegenden Fall wäre eine bloße Besitzaufgabe mit Zugangsverschaffung seitens der derzeitigen Betreiber angesichts der in den Räumlichkeiten noch verbleibenden Heimbewohner, die mittels Pflegeverträge an die Schuldner gebunden sind und nicht ohne weiteres zum Abschluss neuer Heimverträge mit einer neuen Betreibergesellschaft verpflichtet oder gezwungen werden können, keineswegs ausreichend, um dem Gläubiger eine auch faktisch ungehinderte Verfügungsgewalt oder Nutzungsmöglichkeit zu geben.

Erforderlich wäre vielmehr eine ordnungsgemäße objektbezogene Betriebsabwicklung, die auf verschiedene Weise bewerkstelligt werden kann. Insbesondere kann auf Seiten der Schuldner entweder eine komplette Räumung des Objektes, einschließlich der sich dort aufgrund der Pflegeverträge aufhaltenden Personen, etwa durch Verlagerung der Betriebsstätte, oder aber eine ordnungsgemäße Betriebsübergabe an den Gläubiger oder von ihm beauftragte Dritte erfolgen. In letzterem Fall wären insbesondere die Rechte der Heimbewohner sowie die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften des HeimG zu berücksichtigen. Gegebenenfalls sind auch andere Arten der konkreten Durchführung denkbar. Jedenfalls ist eine bloße Herausgabe ohne weitere, auf eine ordnungsgemäße Abwicklung des Heimbetriebes oder Betriebsübergabe gerichtete Handlungen nicht ausreichend.

Vor diesem Hintergrund kommt es auf die Frage, ob der Gläubiger bzw. eine nach seinem Vortrag bereitstehende neue Betreibergesellschaft aufgrund eigener Qualifikation und Kapazitäten in der Lage wäre, den Heimbetrieb entsprechend den Anforderungen des HeimG sicherzustellen, nicht an. Entscheidend ist, dass mit einer bloßen Herausgabe noch nicht alle Voraussetzungen dafür geschaffen wären, um den Heimbetrieb anstelle der Schuldner fortzusetzen. Dies gilt sowohl in rechtlicher (z. B. Überleitung der Heimverträge), als auch in faktischer (Fortführung von Buchhaltung, Verpflegung und Verträgen mit Dritten) Hinsicht, so dass auch nicht ohne weiteres von einem Betriebsübergang i. S. v. § 613 a BGB ausgegangen werden kann.

Die Notwendigkeit zum Abschluss von Folgeverträgen haben offenbar auch die Parteien des Hauptmietvertrages vom 14. Dezember 1998 erkannt. Allerdings haben sie in § 16 Abs. 2 des Vertrages lediglich eine Benennungspflicht des Vermieters bzgl. einer neuen Betreibergesellschaft geregelt. Die tatsächliche Überleitung auf eine neue Betreibergesellschaft ist demgegenüber gerade Teil der Handlungen, deren Vornahme zu erzwingen wäre.

Eine anderweitige, nicht auf Fortführung des Altenheimbetriebes gerichtete Nutzung wäre dem Gläubiger aufgrund einer bloßen Herausgabevollstreckung aus den oben dargelegten Gründen ebenfalls nicht möglich.

2.

Die Vollstreckung derartiger Handlungspflichten erfolgt grundsätzlich nach §§ 887, 888 ZPO. Im vorliegenden Fall handelt es sich um unvertretbare Handlungen, deren Erzwingung nach § 888 ZPO erfolgt.

Die Unvertretbarkeit der geschuldeten Handlung folgt bereits aus dem unmittelbaren Hineinwirken in Rechtsbeziehungen der Schuldner zu Dritten. Der vorliegende Fall entspricht dabei einer Verurteilung zu komplexen Handlungen, bei deren Durchführung mehrere Beklagte zusammenwirken müssen und Eingriffe in sonstige Rechtsgüter der Beklagten unvermeidbar sind (OLG München in NJW-RR 1992, 768: unvertretbare Handlungen). Ferner gilt für Handlungspflichten des Vermieters die Anwendbarkeit von § 888 ZPO grundsätzlich dann, wenn die Mitwirkung eines Dritten notwendig ist. Insbesondere soll eine an sich vertretbare Handlung dadurch unvertretbar werden, dass der Vermieter als Schuldner die Fläche an einen Dritten vermietet oder ihm sonstwie überlassen hat (Baumbach/ Hartmann, ZPO, 60. Auflage, § 887 Rdnr. 38 m.w.Nachw.).

3.

Die mit einer ordnungsgemäßen Übergabe des Objektes verbundenen Handlungspflichten haben ihre Ursache vorliegend in der konkreten Beschaffenheit der Sache, nämlich der mietvertragskonformen Nutzung als Altenwohn- und Pflegeheim mit den daran geknüpften personellen Verflechtungen, sowohl hinsichtlich der Bewohner als auch des Pflegepersonals. Die Frage, wie sachbezogene Handlungspflichten zu vollstrecken sind, ist umstritten (MüKO/Schilken a.a.O., Rdnr. 8 ff.).

Teilweise wird unter Bezugnahme auf zumeist ältere Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass in solchen Fällen ausschließlich eine Herausgabevollstreckung erfolgen soll und der Gläubiger bei Erfolglosigkeit lediglich auf das Interesse des § 893 ZPO zu verweisen sei. Dieser Lösungsansatz und die dazu vorgebrachten Argumente sind indes in dem vorliegenden Fall schon insoweit nicht einschlägig, als es dabei um Fallgestaltungen ging, in denen eine vertretbare oder unvertretbare Sache geschuldet wurde, wobei der Handlungsbezug lediglich in der Anschaffung/Erstellung oder dem Transport dieser Sachen lag (so das RG in RGZ 36, 369 ff: Transport verkauften Mehls oder in RGZ 58, 160 ff: Leistung erst noch nicht vorhandener Sachen).

Differenzierter und im vorliegenden Fall einschlägiger erscheint die Ansicht, nach der jedenfalls dann, wenn der Handlungspflicht eine eigenständige Bedeutung zukommt, eine Vollstreckung nach §§ 887, 888 ZPO zu erfolgen hat (vgl. z.B. Zöller/Stöber, ZPO, 21. Auflage, § 883 Rdnr. 9 m.w.Nachw.; Baumbach/Hartmann, ZPO, 55. Auflage, § 887 Rdnr. 1 m.w.Nachw. sowie MüKO/Schilken, ZPO, 3. Auflage, a.a.O., Rdnr. 9 f, jeweils m.w.Nachw. aus Literatur und Rechtsprechung).

Im hier zu entscheidenden Fall liegt das Hauptgewicht der Schuldnerpflichten nicht auf der schlichten Herausgabe des Objektes durch Besitzaufgabe, sondern in der Abwicklung des an komplexe rechtliche und personelle Strukturen geknüpften Betriebes, sei es durch dessen Übergabe oder seine Verlagerung. Die letztendliche Herausgabe des Objektes tritt demgegenüber in den Hintergrund.

Hinzu kommt, dass der Verweis des Gläubigers auf das Interesse im Falle erfolgloser Herausgabevollstreckung in Fällen wie dem vorliegenden ökonomisch zumeist nicht praktikabel sein wird. Gerade in Fallgestaltungen, in denen die Herausgabepflicht auf der Kündigung des Nutzungsverhältnisses wegen Zahlungsverzuges infolge wirtschaftlicher Insolvenz des Nutzungsberechtigten beruht, würde der Rechtsanspruch des Gläubigers letztlich leerlaufen und gerade nicht durch Ausgleich des wirtschaftlichen Interesses kompensiert werden. Eine nutzlose und ungeeignete Zwangsvollstreckung wird jedoch ihrem Wesen als einer mit staatlichen Zwangsmitteln garantierten Durchsetzung titulierter Ansprüche nicht gerecht (mit dieser Begründung zur Anwendbarkeit von § 888 ZPO gegenüber § 883 ZPO: OLG Düsseldorf in NJW 1958, 1831 f.; LG Frankenthal in DGVZ 1985, 184 f.).

4.

Es kann offen bleiben, ob die Zwangsvollstreckung ausschließlich nach § 888 ZPO erfolgt, oder nach Erfüllung/Erzwingung der weiteren Handlungen eine separate Vollstreckung der Herausgabepflicht nach § 885 ZPO zu erfolgen hat. Selbst bei einer Kombination beider Vollstreckungsmöglichkeiten (so MüKO/Schilken a.a.O. Rdnr. 10) unterliegt die Durchführung der Zwangsvollstreckung der inneren Logik, dass zunächst die wesentlich komplexeren Handlungspflichten erfüllt worden sein müssen, bevor die schlichte Herausgabe vollstreckt werden kann.

Soweit der angefochtene Beschluß des Amtsgerichts keine Entscheidung über die Vorlage des Gerichtsvollziehers zu dem streitigen Vermieterpfandrecht enthält, ist darüber auch in dem Beschwerdeverfahren nicht zu entscheiden. Im übrigen dürfte sich diese mit der begehrten Herausgabevollstreckung verknüpften Frage mit der vorliegenden Kammerentscheidung zunächst erledigt haben.

5.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 788 Abs. 1 ZPO. Die Schuldnerin zu 2. hat mit ihrer sofortigen Beschwerde zwar Erfolg, jedoch beruht dies letztlich auf Umständen und insbesondere rechtlichen Erwägungen, die sich dem Gläubiger nicht aufdrängen mußten und ihn von den konkreten Zwangsvollstreckungsmaßnahmen hätten abhalten müssen. Das Risiko von aus Gläubigersicht erst im Nachhinein zu Tage tretenden Zwangsvollstreckungshindernissen ist dem Gläubiger grundsätzlich nicht aufzubürden. Vielmehr handelt es sich um notwendige Kosten der Zwangsvollstreckung i. S. v. § 788 Abs. 1 ZPO, die von der Schuldnerin zu 2. zu tragen sind. Demgegenüber fallen die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht auch der Schuldnerin zu 1. zu Last, da diese keinen Rechtsbehelf eingelegt hat (§ 788 Abs. 1 Satz 3 ZPO i. V. m. § 100 Abs. 3 ZPO; Zöller/Stöber, ZPO, 21. Aufl., § 788 Rn. 10).

Die Wertfestsetzung folgt aus §§ 3 ZPO, 57 Abs. 3 BRAGO. Maßgeblich ist das Interesse der Beschwerdeführerin an einer sachgerechten Abwicklung des Betriebes zum Zwecke der Herausgabe. Das mag einen Zeitaufwand von 3-4 Monaten erfordern, woraus sich ein Beschwerdewert von 1 Million Euro rechtfertigt (Jahresmietzins ca. 3,14 Millionen Euro).

6.

Die Kammer lässt die Rechtsbeschwerde gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO n. F. zu.

Die Zulassung ist, gerade auch in Ansehung der wirtschaftlichen und personalen Bedeutung des vorliegenden Falls, gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO n. F. gerechtfertigt zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Bereits die grundsätzliche Rechtsfrage, welche Vollstreckungsnorm beim Zusammentreffen von Herausgabe- und Handlungspflichten anwendbar ist, wird in Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt (vgl. MüKo/Schilken, a. a. O.).






LG Göttingen:
Beschluss v. 13.05.2002
Az: 5 T 112/02


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