Hessischer Verwaltungsgerichtshof:
Beschluss vom 7. Mai 1993
Aktenzeichen: 11 TH 1563/92

(Hessischer VGH: Beschluss v. 07.05.1993, Az.: 11 TH 1563/92)

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehung seiner Heranziehung zu Beiträgen zum Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Hessen. Er ist im Jahre 1995 geboren und seit Mitte 1982 als Rechtsanwalt in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen. Nach kurzer Tätigkeit in Freiburg im Breisgau war er in der Zeit von Anfang 1983 bis Ende Juni 1990 in Hamburg als Rechtsanwalt tätig, wo es kein Versorgungswerk für Rechtsanwälte gibt. Ende Juni 1990 wurde er beim Amtsgericht Frankfurt am Main und kurze Zeit später beim Landgericht Frankfurt am Main zugelassen.

Nachdem der Antragsteller auf eine Aufforderung des Antragsgegners zur Darlegung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht reagiert hatte, erließ der Antragsgegner am 16. November 1990 einen Bescheid, in dem die Mitgliedgliedschaft des Antragstellers im Versorgungswerk festgestellt und unter Bezugnahme auf § 27 der Satzung des Antragsgegner der monatliche Beitrag auf 589,05 DM (5/10 des Beitragssatzes zur Angestelltenversicherung) festgesetzt wurde. Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller beim Antragsgegner am 13. Dezember 1990 Widerspruch ein, den er wie folgt begründete: Da es in Hamburg kein anwaltliches Versorgungswerk gebe, habe er sich wegen seiner dortigen Tätigkeit in verschiedener Weise für sein Alter und das Risiko der Berufsunfähigkeit abgesichert. Zum einen habe er selbst eine private Berufungsunfähigkeits- und Lebensversicherung bei der Deutschen Anwalts- und Notarversicherung abgeschlossen, zum anderen habe er im Rahmen der derzeitigen überörtlichen Sozietät einen Alters- und Berufsunfähigkeitsrentenanspruch, der zu 50 % durch Versicherungen gedeckt sei und in Höhe der Pension eines Richters am Landgericht in der Bundesrepublik Deutschland bestehe. Schließlich habe er gemeinsam mit seiner Ehefrau Vermögenswerte von derzeit über 1.000.000,00 DM angeschafft, die zu 90 % auf Grundvermögen entfielen. Deshalb sei er nach § 9 Abs. 1 der Satzung des Antragsgegners von der Mitgliedschaft zu befreien, zumindest aber gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 2 oder Nr. 3 der Satzung von der Beitragspflicht.

Nach Anhörung des Antragstellers durch den Widerspruchsausschuß I des Beklagten am 9. August 1991 wies der Antragsgegner den Rechtsbehelf mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 1991, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, zurück.

Am 7. Oktober 1991 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Klage auf Aufhebung des Widerspruchsbescheids und auf Feststellung erhoben, daß er von der Mitgliedschaft bei dem Antragsgegner befreit sei. Diese Klage ist beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main noch unter dem Aktenzeichen IX/1 E 1080/91 anhängig. Am 4. Oktober 1991 hat der Antragsteller bei dem Antragsgegner unter Bezugnahme auf diese Klage Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollstreckbarkeit der Beitragsforderung bis zur Entscheidung über das eingeleitete Klageverfahren beantragt; dieser Antrag ist, soweit sich dies den Akten entnehmen läßt, noch nicht förmlich beschieden. Im Klageverfahren hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 26. November 1991 seine Anträge dahin geändert, daß er nunmehr die Verpflichtung des Antragsgegners zu seiner Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk, hilfsweise von der Beitragspflicht, unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide vom 16. November 1990 und 6. September 1991 beantragt.

Nachdem der Antragsgegner ihm mit Schreiben vom 14. November 1991 die zwangsweise Beitreibung der rückständigen Zahlungen einschließlich Zinsen und Säumniszuschlag angedroht hatte, hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main am 8. Januar 1992 unter Vertiefung seines bisherigen Vorbringens und unter Bezugnahme auf den als Widerspruch gegen den Bescheid vom 15. November 1991 bezeichneten Schriftsatz an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main vom 26. November 1991 beantragt,

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Vollstreckungsandrohung des Antragsgegners vom 14. November 1991 anzuordnen.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er hält die Heranziehung des Antragstellers zu Beiträgen für offensichtlich rechtmäßig.

Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat mit Beschluß vom 17. Juni 1992 den als Aussetzungsantrag gegen den Sofortvollzug der Heranziehung zu Beiträgen ausgelegten Antrag zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat sich unter Hinweis auf den Kanzleisitz des Antragstellers in Frankfurt am Main für örtlich zuständig angesehen und in der Sache selbst ausgeführt, der kraft Gesetzes sofort vollziehbare Beitragsfestsetzungsbescheid vom 26. November 1990 sei offensichtlich rechtmäßig. Im übrigen sei ein Bescheid des Antragsgegners vom 15. März 1991, mit dem die Beiträge ab 1. April 1991 neu festgesetzt worden seien, bestandskräftig geworden. Die Heranziehung des Antragstellers zu Beiträgen sei entsprechend den einschlägigen gesetzlichen und Satzungsbestimmungen, an deren Rechtmäßigkeit nicht zu zweifeln sei, erfolgt.

Gegen diesen seinen Prozeßbevollmächtigten am 1. Juli 1992 zugestellten Beschluß hat der Antragsteller am 8. Juli 1992 bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Beschwerde eingelegt. Er hält sowohl die Satzung des Antragsgegners als auch die zugehörige Ermächtigungsnorm wegen Vorstoßes gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts für unwirksam, weil nicht der Gesetzgeber, sondern der Antragsgegner im wesentlichen die Entscheidung darüber getroffen habe, wer Mitglied des Versorgungswerks sein solle. Im übrigen hält der Antragsteller den Gleichheitsgrundsatz für verletzt, weil § 14 Abs. 1 der Satzung Rechtsanwälten und Rechtsbeiständen, die am 24. Dezember 1987 an der Rechtsanwaltskammer in Hessen angehört und das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt hätten, die Möglichkeit einräume, auf Antrag von der Mitgliedschaft oder der Beitragspflicht ganz oder teilweise befreit zu werden, soweit sie durch private Vorsorgemaßnahmen eine bestimmte Quote des Höchstbeitrags der gesetzlichen Rentenversicherung erreichten. Daß ihm dieser Ausnahmetatbestand nicht zugute komme, verletze ihn in seinem Anspruch auf Gleichbehandlung. Auch von der Anwendung des § 9 Abs. 2 Ziffer 3 der Satzung des Antragsgegners sei er gleichheitswidrig ausgeschlossen, weil es in Hamburg kein Versorgungswerk für Rechtsanwälte gebe und er deswegen nicht dort eine Befreiung habe erwirken können. Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens des Antragstellers im Beschwerdeverfahren wird auf den Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 29. Juli 1992 verwiesen.

Der Antragsteller beantragt,

1. unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Frankfurt am

Main die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 16. November 1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 1991 anzuordnen;

2. unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Frankfurt am

Main die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Vollstreckungsanordnung vom 14. November 1991 im Hinblick auf die Festsetzung von Zinsen und Säumniszuschlag anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Dem Senat liegen die Akten IX/1 E 2080/91 (früheres Aktenzeichen: V/3 E 2080/91) des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main sowie die das Verwaltungsverfahren betreffenden Akten des Antragsgegners (ein Hefter, Blatt 1 - 30) vor.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 147 VwGO).

Sie ist jedoch unbegründet, denn das Verwaltungsgericht hat den Aussetzungsantrag im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Allerdings ist das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main für die Entscheidung über den Eilantrag örtlich nicht zuständig gewesen, weil der Antragsteller seinen für den Gerichtsstand gemäß § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO maßgebenden Wohnsitz im Landkreis hat; für diesen Landkreis ist gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 HessAGVwGO das Verwaltungsgericht Darmstadt zuständig. Die Frage der örtlichen Zuständigkeit des erstinstanzlich tätig gewordenen Verwaltungsgerichts ist in der Beschwerdeinstanz trotz der Regelung in § 17a Abs. 5, die für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit im Verwaltungsprozeß entsprechend anwendbar ist (§ 83 Satz 1 VwGO), zu prüfen. Denn § 17a GVG ist ersichtlich für Hauptsache- (Klage-) Verfahren konzipiert und in verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren nicht anwendbar (OVG Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 1. September 1992 - 7 E 11459/92 -, NVwZ 1993, 381).

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann für die Bestimmung des Gerichtsstands hier nicht auf den Ort abgestellt werden, in dem der Antragsteller seine Kanzlei im Sinne des § 27 Abs. 2 BRAO eingerichtet hat. Zum einen haben natürliche Personen grundsätzlich keinen Sitz im Sinne des § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO, wie schon das Verwaltungsgericht festgestellt hat; deshalb ist bei natürlichen Personen ohnehin stets auf den Wohnsitz abzustellen, zumal § 52 eine Ausnahme von diesem Grundsatz nur für sogenannte "Beamtenklagen" im Sinne des § 52 Nr. 4 VwGO vorsieht, bei denen es vorrangig auf den "dienstlichen Wohnsitz" des Klägers ankommt. Zum anderen würde ein Abstellen auf den Ort der Kanzlei eines Rechtsanwalts für die Bestimmung des Gerichtsstands nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen führen, da es bei sogenannten überörtlichen Sozietäten, wie sie der Antragsteller eingegangen ist, unter Umständen mehrere Kanzleien an verschiedenen Orten geben kann (vgl. hierzu BGH - Senat für Anwaltssachen -, Beschluß vom 18. September 1989 - AnwZ (B) 30/89 -, BGHZ 108, 290 = MDR 1990, 150, unter Hinweis auf BVerfG NJW 1988, 191 <194, 196>). Schließlich ist das Abstellen auf den bürgerlichen Wohnsitz hier auch deshalb sachgerecht, weil letztlich um die soziale Absicherung des Antragstellers als Privatperson gestritten wird, nicht um eigentliche Berufspflichten des Anwalts im Rahmen seiner anwaltlichen Tätigkeit.

Der Senat hebt die erstinstanzliche Entscheidung wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main auf, entscheidet aber aus prozeßökonomischen Gründen zugleich in der Sache selbst, ohne zuvor das als Gericht der Hauptsache für die Angelegenheit zuständige Verwaltungsgericht Darmstadt nochmals mit dem Eilantrag zu befassen.

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, soweit er sich gegen die sofortige Vollziehung der Beitragsforderung des Antragsgegners richtet. Denn insoweit ist der angegriffene Bescheid vom 16. November 1990 gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Bei den angeforderten Geldleistungen handelt es sich nämlich um Beiträge, die zur vollen oder teilweisen Deckung des Aufwandes einer öffentlichen Einrichtung von denjenigen erhoben werden, denen die Herstellung oder der Bestand der Einrichtung besondere Vorteile gewährt (vgl. Kopp, VwGO, 9. Auflage, Rdnr. 37a zu § 80 VwGO mit weiteren Nachweisen; §§ 1 und 6 Abs. 1 des Gesetzes über die Hessische Rechtsanwaltsversorgung - Hess.RAVG - vom 16. Dezember 1987 (GVBl. I Seite 232). Unzulässig ist der Aussetzungsantrag hingegen, soweit mit dem im Beschwerdeverfahren zu Ziffer 2 gestellten Antrag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs des Antragstellers gegen die Festsetzung von Zinsen und Säumniszuschlag in dem Bescheid des Antragsgegners vom 14. November 1991 begehrt wird. Soweit es sich dabei um Zinsen handelt, mag dahinstehen, ob Zinsen auf Beiträge Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind, was für die Statthaftigkeit des Aussetzungsantrags Voraussetzung ist. Jedenfalls fehlt dem Antragsteller insoweit das Rechtsschutzbedürfnis für seinen Antrag, weil er die Festsetzung von Zinsen ausschließlich mit Einwendungen gegen die Hauptforderung angreift und eine etwa bestehende sofortige Vollziehbarkeit der Zinsforderung nach der Natur der Sache dann entfallen würde, wenn die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Beitragsbescheid selbst angeordnet würde, was der Antragsteller in erster Linie begehrt. Hinsichtlich der Festsetzung eines Säumniszuschlags ist der Aussetzungsantrag unstatthaft, weil Säumniszuschläge keine öffentlichen Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind und entsprechende Festsetzungsbescheide deswegen nicht kraft Gesetzes sofort vollzogen werden können (OVG Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 15. Juli 1986 - 12 B 79/86 -, NVwZ 1987, 64 <65> unter Hinweis auf die Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte, unter anderem des Hess. VGH, Beschluß vom 27. Oktober 1975 - V TH 13/75 -, VerwRspr. 27, 1010; Bayerischer VGH, Beschluß vom 02. April 1985 - 23 C 85 A.361 -, NVwZ 1987, 63; weitere Nachweise bei Kopp, a.a.O., Rdnr. 37a zu § 80 VwGO). Die in der Rechtsprechung teilweise vertretene Gegenansicht (OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ 1984, 395) verkennt, daß auch nach Inkrafttreten des § 1 Abs. 3 der Abgabenordnung 1977, der Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen den Vorschriften der Abgabenordnung unterwirft, Säumniszuschläge ein an das Verhalten des Abgabenschuldners anknüpfendes Druckmittel sind, das an der Ausgabendeckungsfunktion der geschuldeten Abgabenleistung nicht teilnimmt. Ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung können diese zusätzlichen Leistungen nicht als öffentliche Abgaben gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO angesehen werden. Da der in der Beschwerdeinstanz zu Ziffer 2 gestellte Antrag aus diesen Gründen schon unzulässig ist, kann dahinstehen, ob der Antragsteller gegen die Mahnung vom 14. November 1991 rechtzeitig und ordnungsgemäß Widerspruch eingelegt hat, was nach wie vor ungeklärt ist, weil auch dem beschwerdebegründenden Schriftsatz vom 29. Juli 1992 die darin angekündigte Kopie eines Widerspruchsschreibens vom 26. November 1991 nicht beigefügt war.

Soweit der Antrag zulässig ist, ist er unbegründet, weil die Beitragserhebung offensichtlich rechtmäßig ist und es daher bei dem vom Gesetzgeber unterstellten Vorrang des öffentlichen Interesses am Sofortvollzug der Beitragserhebung gegenüber den entgegenstehenden Interessen des Antragstellers zu bleiben hat. Der Senat hat die Vereinbarkeit der hessischen Regelung über die Zwangsmitgliedschaft von Rechtsanwälten im Versorgungswerk kürzlich im Urteil vom 16. März 1993 - 11 UE 895/91 - umfassend geprüft und für gegeben erachtet. Dieses Urteil enthält folgende Ausführungen (Seiten 13 ff. des amtlichen Urteilsumdrucks):

"Der Kläger ist nach § 2 ... Hess.RAVG ... in Verbindung mit § 8 der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Hessen - im folgenden: Satzung - vom 12. Oktober 1988 (JMBl. 1988 Seite 788) Mitglied des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Hessen und als solches beitragspflichtig im Sinne von § 27 der Satzung. Der Kläger gehört unstreitig der Rechtsanwaltskammer im Lande Hessen an, ist deren Mitglied auch vor Vollendung des 45. Lebensjahres geworden und hatte das 45. Lebensjahr am 24. Dezember 1987 noch nicht vollendet ... .

Die Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Hessen und die daraus folgende Beitragspflicht sind in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Die Gesetzgebungszuständigkeit des Landes Hessen zum Erlaß des Hess.RAVG ... folgt aus Artikel 70 GG (vgl. BVerfGE 12, 319 <323> = NJW 1961, 1155; BVerfG NJW 1990, 1653). Die Einführung eines berufsständischen Versorgungswerks mit Zwangsmitgliedschaft und Mindestbeiträgen verstößt weder gegen Artikel 2 Abs. 1 GG noch gegen Artikel 12 Abs. 1 GG, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach mit näherer Begründung entschieden hat (BVerfGE 10, 354 <362 ff.> = NJW 1960, 619; BVerfG, Kammerbeschluß vom 4. April 1989 - 1 BvR 685/88 -, NJW 1990, 1653). Das Gericht hat in diesem Zusammenhang insbesondere ausgeführt, daß berufsständische Versorgungswerke maßgeblich auf dem Solidaritätsprinzip beruhen mit der Folge, daß eine so konstruierte kollektive Versorgung wirtschaftlich nur durchführbar ist, wenn grundsätzlich alle Berufsangehörigen zur Teilnahme verpflichtet sind, gleichgültig ob es dem Einzelnen mehr oder weniger günstig erscheint. Unzumutbar kann nach dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine Zwangsmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk allenfalls dann sein, wenn bei der Bemessung der Pflichtbeiträge schwerwiegende Besonderheiten und Härten nicht berücksichtigt würden (BVerfG, NJW 1990, 1653). Unter diesem Gesichtspunkt bestehen indes gegen das Hess.RAVG keine Bedenken im Hinblick auf die insoweit insbesondere in § 2 Abs. 3 und § 16 getroffenen Regelungen. Auch das Bundesverwaltungsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung in Anknüpfung an die zuvor dargestellte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung die Auffassung, daß gegen die Errichtung derartiger berufsständischer Versorgungswerke mit Pflichtmitgliedschaft und Pflichtbeiträgen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken bestehen und diese insbesondere mit Artikel 2, 3, 12 und 14 GG vereinbar sind (vgl. zuletzt etwa BVerwG, NJW 1990, 589 sowie BVerwGE 87, 324 ff. m. w. N.).

Auch die Einräumung der Satzungsgewalt in § 11 Hess.RAVG zur Regelung der nicht gesetzlich bestimmten Angelegenheiten des Versorgungswerks begegnet keinen durchgreifenden Bedenken. Das gilt auch insoweit, als der Gesetzgeber wesentliche Merkmale der Pflichtversicherung bzw. der Befreiungstatbestände nicht selbst festgelegt, sondern der Regelung durch den Satzungsgeber überlassen hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Verleihung autonomer Satzungsgewalt an Selbstverwaltungseinrichtungen nicht generell ein dem Artikel 80 GG entsprechender enger Maßstab anzuwenden. Vielmehr darf der autonomen Satzungsgewalt. ein angemessener Gestaltungsspielraum belassen werden. Dabei nehmen die Anforderungen an die Ermächtigung zur satzungsmäßigen Regelung der Intensität des Eingriffs zu; insbesondere die Eingriffe in Grundrechte müssen um so deutlicher in der gesetzlichen Ermächtigung bestimmt werden, je empfindlicher in das Grundrecht eingegriffen werden darf (BVerwGE 87, 324 <327> m. w. N.). Diesem Maßstab wird das Hess.RAVG jedoch gerecht. Denn es trifft selbst die wesentlichen Grundentscheidungen, insbesondere zu den Leistungen des Versorgungswerks, zu den Grundvoraussetzungen der Mitgliedschaft und zu den Grundlagen der Befreiungsmöglichkeiten von der Mitgliedschaft (vgl. §§ 2, 8, 16 Hess.RAVG). Durch diese gesetzlichen Regelungen wird insbesondere auch dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der Berücksichtigung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit hinreichend Rechnung getragen und ferner vermieden, daß eine unzumutbare Überversicherung anderweitig bereits versicherter Mitglieder mit der gesetzlichen Begründung einer Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk eintreten kann. Im übrigen ist es unbedenklich und liegt innerhalb der Gestaltungsfreiheit des Satzungsgebers, den Kreis der Mitglieder so weit und die Befreiungstatbestände so eng zu fassen, daß im Hinblick auf eine angemessene Versorgung eine möglichst leistungsfähige Solidargemeinschaft entsteht (BVerfG, Kammerbeschluß vom 25. September 1990 - 1 BvR 907/87 - unter Hinweis auf BVerfGE 44, 70 <90>; BVerwGE 87, 324 ff. <329>). Die Satzung begegnet auch in formeller Hinsicht keinen Bedenken. Sie ist gemäß § 4 Abs. 4 Hess.RAVG durch die erste Vertreterversammlung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Hessen vom 12. Oktober 1988 beschlossen. Mit Bescheid des Hessischen Ministers der Justiz vom 24. Oktober 1988 im Einvernehmen mit dem Hessischen Minister für Wirtschaft und Technik nach § 13 Abs. 2 Satz 1 und 2 RAVG genehmigt und im Justizministerialblatt für Hessen 1988 S. 788 ff. veröffentlicht worden.

Unter Berücksichtigung dieser gesetzlichen und satzungsmäßigen Regelungen sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf vollständige Befreiung von der Mitgliedschaft und ein daraus resultierendes völliges Entfallen der Beitragspflicht. Nach § 16 Abs. 2 Hess.RAVG i. V. m. § 40 Abs. 3 der Satzung erfüllen Beiträge zu einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung keinen Befreiungstatbestand. Das Verwaltungsgericht ist insoweit zu Recht davon ausgegangen, daß der Satzungsgeber den ihm zukommenden angemessenen Gestaltungsspielraum für Befreiungstatbestände unter Berücksichtigung der Funktionsfähigkeit des Versorgungswerks und des dem berufsständischen Versorgungswerk zugrundeliegenden Solidargedankens nicht überschritten hat, zumal das Versorgungswerk in erster Linie die Sicherung der Altersversorgung von Rechtsanwälten zum Gegenstand hat und nur sekundär auch eine Absicherung gegen Berufsunfähigkeit beinhaltet. Der Vergleich eines berufsständischen Versorgungswerks mit privaten Lebensversicherungen ist in der Regel sowohl hinsichtlich der gewährten Leistung als auch hinsichtlich der Beitragsbemessung regelmäßig ohnehin nicht möglich (vgl. BVerfG, NJW 1990, 1653). Im Hinblick auf die Befugnis des Satzungsgebers, im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit die Befreiungstatbestände so eng zu fassen, daß hinsichtlich einer angemessenen Versorgung eine möglichst leistungsfähige Solidargemeinschaft entsteht, und im Hinblick auf die von dem Beklagten im Widerspruchsbescheid ... dargelegten Schwierigkeiten, die sich bezüglich der Berücksichtigungsfähigkeit etwaiger Beitragsanteile zu einer Berufungsunfähigkeitszusatzversicherung ergeben hätten, begegnet es grundsätzlich keinen Bedenken, wenn der Beklagte im Rahmen des Befreiungstatbestandes nach § 40 Abs. 3 Nr. 3 der Satzung bei dem berücksichtigungsfähigen Beitragsaufwand etwaige Beitragsanteile für eine Berufsunfähigkeitszusatzversicherung unberücksichtigt gelassen hat... .

Hinsichtlich der von dem Kläger angesprochenen Berücksichtigungsfähigkeit seines ... Grundeigentums gilt nichts anderes. Das von dem Kläger selbst genutzte Einfamilienhaus ist nicht geeignet den Befreiungstatbestand des § 40 Abs. 3 Nr. 1 der Satzung zu erfüllen, weil es - bezogen auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Satzung - keine Nettovermögenserträge abwirft. Die Befreiungstatbestände des § 40 Abs. 3 der Satzung sind maßgeblich dadurch geprägt, daß die zur Sicherung des Lebensunterhalts erforderlichen Mittel im Versorgungsfall sofort zur Verfügung stehen. Auch dieses Kriterium ist bei dem belasteten Grundeigentum des Klägers in Form eines selbstgenutzten Einfamilienhauses nicht erfüllt, denn es ist nicht gewährleistet, daß aus diesem Vermögensobjekt im Versorgungsfall sofort hinreichende Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhalts bereitstehen. Außerdem ist das Kriterium der leichten Nachweisbarkeit einer hinreichenden anderweitigen Vorsorge, das seine sachliche Rechtfertigung in der dadurch erreichten Verwaltungsvereinfachung findet, nicht erfüllt, da ein solches selbstgenutztes Einfamilienhaus keine leichte Feststellung des Befreiungstatbestandes ermöglicht (so zutreffend OVG Münster, vgl. auch VGH Mannheim, NJW 1990, 2148 f. ...)."

Soweit der Antragsteller im Hinblick auf die Befreiungstatbestände des § 9 Abs. 1 der Satzung (Mitgliedschaft) und § 9 Abs. 2 Nr. 3 der Satzung (Beitragspflicht) auf seinen beruflichen Werdegang und die Tatsache hinweist, daß in Hamburg kein anwaltliches Versorgungswerk besteht, sind keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der hier im Streit befindlichen Beitragserhebung herzuleiten. Der Antragsteller hat bei seiner Niederlassung als Anwalt in Hessen gewußt oder hätte wissen müssen, daß hier im Unterschied zu Hamburg ein anwaltliches Versorgungswerk mit Pflichtmitgliedschaft besteht und daß gemäß § 8 Abs. 2 der Satzung nur solche Rechtsanwälte und Rechtsbeistände von der Mitgliedschaft ausgenommen sind, die nach Vollendung des 45. Lebensjahres Mitglieder einer Rechtsanwaltskammer nach Abs. 1 werden. Durch seine Tätigkeit in Hamburg hat der Antragsteller ein schutzwürdiges Vertrauen darauf erworben, bei einem Wechsel in ein anderes Bundesland von den dort bestehenden Regelungen einer Pflichtmitgliedschaft im anwaltlichen Versorgungswerk ausgenommen zu werden. Der Antragsteller hätte mithin Anlaß und Gelegenheit gehabt, sich bei der Entscheidung mit dem Wechsel des Niederlassungsorts auch auf die damit verbundenen Mehrbelastungen durch die Beiträge zum Versorgungswerk einzustellen. Im Unterschied zu den zum Stichtag 24. Dezember 1987 bereits in Hessen ansässigen Rechtsanwälten, denen die Satzung in § 40 durch besondere Regelungen für den sogenannten Gründungsbestand gewisse Erleichterungen einräumt, ist der Antragsteller von den hier streitigen Vorschriften nicht in einer bereits durch die Niederlassung in Hessen verfestigen Situation betroffen worden, sondern hat sich nach Inkrafttreten der einschlägigen Vorschriften bewußt durch die Übersiedlung nach Hessen in die hier gegebene Situation gestellt. Dadurch unterscheidet er sich vom sogenannten Gründungsbestand im Sinne des § 40 der Satzung in so erheblicher Weise, daß auf ihn auch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes § 40 der Satzung weder direkt noch entsprechend anzuwenden ist.

Daß es dem Antragsteller während seiner Tätigkeit in Hamburg gar nicht möglich war, Mitglied eines anwaltlichen Versorgungswerks zu werden oder seine Befreiung von der Mitgliedschaft oder der Beitragspflicht gegenüber einer solchen Einrichtung zu betreiben, rechtfertigt keine entsprechende Anwendung des § 40 der Satzung oder des § 8 Abs. 2 Nr. 3 der Satzung auf ihn. Der Systematik der Befreiungsvorschriften nach §§ 8 Abs. 1, 8 Abs. 2 Nr. 3 und § 40 der Satzung ist zu entnehmen, daß nach der mit dem Zweck des Versorgungswerks in Einklang stehenden Intention des Satzungsgebers nur die bestehende Mitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Sicherungs- oder Versorgungseinrichtung der Berufsgruppe oder eine erwirkte Befreiung von der Mitgliedschaft in einer solchen Einrichtung eine Befreiung von der Mitgliedschaft oder der Beitragspflicht im hessischen Versorgungswerk ermöglichen soll. Damit soll sichergestellt werden, daß neben Mitgliedern anderer anwaltlicher Versorgungswerke nur solche Anwälte und Rechtsbeistände befreit werden, die in einem geordneten Verfahren außerhalb Hessens nachgewiesen haben, daß sie aufgrund bestehender privater Absicherung nach den dort geltenden Bestimmungen nicht Mitglied eines bestehenden Versorgungswerks werden müssen. Neben der Altersregelung in § 8 Abs. 2 der Satzung tragen diese Bestimmungen der Erfahrung Rechnung, daß in bereits fortgeschrittene Lebensalter im allgemeinen eine Änderung von Dispositionen im Bezug auf die Alters- und Hinterbliebenenversorgung nicht oder nur noch sehr schwer möglich sind, während eine Anpassung an veränderte Verhältnisse in einem früheren Lebensstadium im allgemeinen möglich und zumutbar ist. Dem Antragsteller dürfte es, soweit dies sein weitgehend unsubstantiierter Vortrag zu seiner Absicherung durch Lebensversicherungen und Grundeigentum erkennen läßt, durchaus möglich und zumutbar sein, seine Gesamtbelastung durch Vorsorgeaufwendungen unter Einbeziehung der Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk in eine vertretbare Größenordnung zu bringen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß ein großer Teil der anderweitigen Alterssicherung, insbesondere die teilweise durch Versicherungen gedeckte Versorgungszusage seiner Anwaltssozietät, erst im Zusammenhang mit seinem Wechsel nach Hessen in Kenntnis der geltenden Vorschriften über das anwaltliche Versorgungswerk entstanden sein dürften und damit angesichts der Stichtagsregelung in § 40 der Satzung ohnehin unbeachtlich sind. Aus diesem Grund kann aus der Versorgungszusage der Sozietät auch kein Befreiungsanspruch nach § 9 Abs. 2 Nr. 2 der Satzung hergeleitet worden.






Hessischer VGH:
Beschluss v. 07.05.1993
Az: 11 TH 1563/92


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/a05da826005e/Hessischer-VGH_Beschluss_vom_7-Mai-1993_Az_11-TH-1563-92




Diese Seite teilen (soziale Medien):

LinkedIn+ Social Share Twitter Social Share Facebook Social Share