Bundespatentgericht:
Beschluss vom 20. Dezember 2010
Aktenzeichen: 20 W (pat) 378/05

(BPatG: Beschluss v. 20.12.2010, Az.: 20 W (pat) 378/05)

Tenor

Das Patent 100 03 089 wird widerrufen.

Gründe

I.

Auf die am 25. Januar 2000 eingereichte Patentanmeldung, für die die koreanische Unionspriorität mit dem Aktenzeichen 99-3067 (vom 30. Januar 1999) in Anspruch genommen ist, hat das Deutsche Patentund Markenamt das Patent mit der Bezeichnung "Verfahren und Apparat für das wahlweise Betrachten digitaler Fernsehsendungen über jeweils unterschiedlichen Medien" erteilt. Das erteilte Patent umfasst 5 Patentansprüche. Die Patenterteilung wurde am 19. Mai 2005 im Patentblatt veröffentlicht.

Gegen das Patent hat die jetzige I... GmbH & Co. KG noch unter ihrer früheren Firma, der "I1... GmbH & Co. KG", mit Schriftsatz vom 18. August 2005 (eingegangen per Fax am gleichen Tag) Einspruch erhoben.

Der Einspruch stützt sich auf die im § 21 Abs. 1 Nr. 1 PatG angegebenen Gründe. Der angegriffene Patentgegenstand sei nicht neu, § 3 PatG, und beruhe gegenüber dem Stand der Technik auf keiner erfinderischen Tätigkeit nach § 4 PatG.

Die Einsprechende stützt ihren Einspruch auf die Druckschriften: D1: Fachzeitschrift: Funkschau, Heft 6/1996 (1. März 1996), Seiten 70-75 D2: EP 0 849 943 A1 (in der Streitpatentschrift im Absatz 7 genannt)

D3: Fachzeitschrift: RFE Heft 10/1996, Seiten 38-39, 41, "Multimediales TV-Gerät"

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Einsprechenden wird auf den Inhalt der Akten verwiesen.

Die Einsprechende hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass der Druckschrift D1 ein Verfahren für das Betrachten eines von mindestens zwei digitalen Fernsehübertragungen in einem Fernsehempfänger, die über ein jeweils unterschiedliches Medium übertragen werden, entnehmbar sei, das entsprechend der Merkmalskombination nach dem erteilten Patentanspruch 1 ablaufe. Bezüglich des in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentanspruchs 1 macht die Einsprechende geltend, dass das damit verteidigte Verfahren sich in den ursprünglichen Unterlagen nicht wieder finden lasse und selbst dieses als unzulässig erweitert angesehene Verfahren durch den Fachartikel neuheitsschädlich vorweggenommen sei.

Die Einsprechende beantragte daher, das Patent 100 03 089 zu widerrufen.

Die Patentinhaberin hat dem Vorbringen der Einsprechenden widersprochen und die Auffassung vertreten, dass das Verfahren nach dem Patentanspruch 1 nicht nur neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, sondern auch für den Fachmann in der ursprünglichen Beschreibung offenbart sei.

Die Patentinhaberin beantragte, das Patent in der Fassung der Patentansprüche 1 bis 3 aus der mündlichen Verhandlung aufrechtzuerhalten;

für die verteidigte Fassung sollen die Beschreibung und die Zeichnungen gemäß Streitpatentschrift gelten.

Der angegriffene Patentanspruch 1 in der verteidigten Fassung lautet:

"1. Verfahren für das Betrachten eines von mindestens zwei digitalen Fernsehübertragungen in einem Fernsehempfänger, wobei eine erste der mindestens zwei digitalen Fernsehübertragungen über ein erstes Medium übertragen wird und eine zweite der mindestens zwei digitalen Fernsehübertragungen über ein zweites Medium übertragen wird und die digitalen Fernsehübertragungen in Form von kanalmodulierten Bitströmen übertragen werden, die die übertragenen digitalen Fernsehsendungen in multiplexierter und codierter Form enthalten, wobei das Verfahren die folgenden Schritte enthält:

(a)

Einrichten (300) eines Benutzerschnittstellenmenüs für das wahlweise Betrachten einer der mindestens zwei digitalen Fernsehübertragungen;

(b)

Kanaldemodulieren des über das erste Medium empfangenen Fernsehübertragungssignals in einer ersten Abstimmund Kanaldemodulationseinheit und Ausgeben eines Bitstromes und des über das zweite Medium empfangenen Fernsehübertragungssignals in einer zweiten Abstimmund Kanaldemodulationseinheit und Ausgeben eines Bitstromes;

(c)

Erkennen (310), durch Nutzung des eingerichteten Benutzerschnittstellenmenüs, der mindestens zwei digitalen, über die zwei Medien übertragenen Fernsehsendungen, die derzeit in der ersten und zweiten Abstimmund Kanaldemodulationseinheit empfangen werden können, wobei das Erkennen in Antwort auf eine Benutzeranforderung erfolgt und dadurch erfolgt, indem zunächst der Bitstrom der ersten Abstimmund Kanaldemodulationseinheit auf über das erste Medium empfangene digitale Fernsehsendungen geprüft wird und anschließend der Bitstrom der zweiten Abstimmund Kanaldemodulationseinheit auf über das zweite Medium empfangene digitale Fernsehsendungen geprüft wird;

(d)

Anzeigen der erkannten, über die zwei Medien empfangenen digitalen Fernsehsendungen auf einem Bildschirm;

(e)

Auswahl (320), durch Nutzung des eingerichteten Benutzerschnittstellenmenüs, einer zu betrachtenden, digitalen Fernsehsendung eines Mediums unter den angezeigten digitalen Fernsehsendungen; und

(f)

Wiederherstellen (330) des Zustandes des ausgewählten digitalen Fernsehübertragungssignals der Fernsehsendung, wie er vor der Codierung bestand, durch Erzeugen eines der ausgewählten digitalen Fernsehsendung entsprechenden Bildbitstroms und Tonbitstroms durch Demultiplexieren des der Auswahl entsprechenden Bitstroms, und durch Decodieren des Bildbitstroms und des Tonbitstroms."

Wegen des Wortlauts der Unteransprüche 2 und 3 wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

In der mündlichen Verhandlung hat der Senat mit den Verfahrensbeteiligten auch die Möglichkeit eines Widerrufs des Streitpatents sowohl in seiner erteilten als auch in der zuletzt verteidigten Fassung wegen unzulässiger Erweiterung gem. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG erörtert. Dabei bestand Einvernehmen darüber, dass die Einsprechende diesen Widerrufsgrund nicht geltend gemacht hatte. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. Januar 1995 -X ZB 11/92, BGHZ 128, 280 -Aluminium-Trihydroxid, hat die Patentinhaberin die Auffassung vertreten, daß das Patentgericht nicht dazu befugt sei, weitere Widerrufsgründe in das Verfahren einzuführen, die nicht bereits von der Einsprechenden geltend gemacht worden seien. Deswegen sei es unzulässig, das Streitpatent wegen unzulässiger Erweiterung gem. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG zu widerrufen.

II.

1.

Der fristund formgerecht erhobene Einspruch ist zulässig und führt zum Erfolg. Denn in der geltenden Fassung der Patentansprüche 1 bis 3 aus der mündlichen Verhandlung kann das Streitpatent nicht aufrechterhalten werden, weil der Gegenstand des geltenden Hauptanspruchs 1 i. S. v. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie bei dem für die Einreichung der Anmeldung zuständigen Deutschen Patentund Markenamt ursprünglich eingereicht worden ist. Das Streitpatent war daher wegen unzulässiger Erweiterung gem. §§ 59 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG zu widerrufen.

2.

Entgegen der Auffassung der Patentinhaberin ist das Patentgericht dazu befugt, das Streitpatent aus einem solchen Widerrufsgrund zu widerrufen, den nicht die Einsprechende geltend gemacht hat, sondern der von dem Patentgericht in das Verfahren eingeführt worden ist.

Der Einspruch ist am 18. August 2005 erhoben worden. Für das sich anschließende Verfahren gilt daher § 147 Abs. 3 PatG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Vorschriften des gewerblichen Rechtsschutzes vom 9. Dezember 2004, BGBl. 2004 Teil I, Seite 3232 (im Folgenden: § 147 Abs. 3 PatG a. F.). § 147 Abs. 3 Nr. 1 PatG a. F. lautet wörtlich:

"(3) Abweichend von § 61 Abs. 1 Satz 1 entscheidet über den Einspruch nach § 59 der Beschwerdesenat des Patengerichts, wenn 1.

die Einspruchsfrist nach dem 1. Januar 2002 beginnt und der Einspruch vor dem 1. Juli 2006 eingelegt worden ist, oder 2.

..."

Für das Einspruchsverfahren vor dem Beschwerdesenat des Patentgerichts gelten die §§ 59 bis 62, mit der Ausnahme des § 61 Abs. 1 Satz 1, entsprechend. Der Einspruch ist beim Deutschen Patentund Markenamt einzulegen. Der Beschwerdesenat entscheidet in der Besetzung von einem technischen Mitglied als Vorsitzendem, zwei weiteren technischen Mitgliedern und einem rechtskundigen Mitglied. Gegen die Beschlüsse der Beschwerdesenate findet die Rechtsbeschwerde an den Bundesgerichtshof nach § 100 statt."

Demnach sollte das Einspruchsverfahren nach § 59 PatG mit allen seinen patentrechtlichen Besonderheiten aufrechterhalten bleiben mit der verfahrensrechtlichen Veränderung, dass in dem vorgegebenen Zeitraum das Patentgericht und nicht mehr die Patentabteilung beim Patentamt für die erstinstanzliche Entscheidung über den Einspruch befugt war. Zugleich entfiel für die in dem genannten Zeitraum erhobenen Einsprüche das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidung. Der Gesetzgeber hat also für den Zeitraum, für den § 147 Abs. 3 Nr. 1 PatG a. F. gelten sollte, nicht etwa das herkömmliche Einspruchsverfahren umgewandelt in ein Beschwerdeverfahren, mit dem Dritte die Patenterteilung vor dem Patentgericht hätten angreifen können.

In dem hiesigen erstinstanzlichen Einspruchsverfahren hatte das Patentgericht daher dieselben Befugnisse, wie sie dem Patentamt im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren zustehen. Im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren kann das Patentamt nach pflichtgemäßen Ermessen anstelle der von den Einsprechenden geltend gemachten Widerrufsgründe weitere Widerrufsgründe nach § 21 Abs. 1 PatG in das Verfahren einbeziehen und gegebenenfalls zur Grundlage eines Widerrufs machen, BGHZ 128, 280 -Aluminium-Trihydroxid.

Die Einführung neuer Widerrufsgründe durch das Patentgericht ist nur im Einspruchsbeschwerdeverfahren unzulässig, BGH a. a. O., das für die Einspruchsverfahren gem. § 147 Abs. 3 Nr. 1 PatG a. F. von vornherein nicht statthaft ist.

3.

Das Streitpatent wendet sich seinem sachlichen Inhalt nach an einen Nachrichtentechniker mit Hochschulausbildung mit besonderen Kenntnissen auf dem Gebiet der Entwicklung von digitalen Fernsehempfangsgeräten.

4.

Das Streitpatent betrifft ein Verfahren für das wahlweise Betrachten digitaler Fernsehsendungen, die jeweils über unterschiedliche Medien übertragen werden. Als Übertragungsmedien im Sinne des angegriffenen Patents kommen dabei die Übertragung mittels Satelliten sowie terrestrische Funkund kabelgebundene Übertragung von digitalen Fernsehsignalen in Betracht (vgl. Patentschrift [0002]). Nach fachmännischem Verständnis klassifizieren sich die verschiedenen (Übertragungs-) Medien dadurch, dass die Signalübertragung sendeund empfangstechnisch von einander unterscheidbar sein müssen, d. h. für den Empfangeines Fernsehsignals eines Mediums muss eine speziell darauf konzipierte Signalverarbeitung vorgehalten werden. Da beispielsweise in einem Fernsehempfänger für den Empfang digitaler terrestrischer Fernsehsignale und in einem digitalen Satellitenfernsehempfänger systembedingt jeweils unterschiedliche Kanaldemodulationsverfahren zur Anwendung kommen, ist ein digitaler terrestrischer Fernsehempfänger für den Empfang einer digitalen Satellitenfernsehübertragung ebenso ungeeignet wie ein digitaler Satellitenfernsehempfänger für den Empfang von digitalen terrestrischen Fernsehübertragungssignalen (vgl. Patentschrift [0005] und [0006]). Ausgehend davon verfolgt das angegriffene Patent das Ziel, ein verbessertes Verfahren und eine Vorrichtung für den Empfang und die Auswahl digitaler Fernsehübertragungssignale unterschiedlicher Übertragungsmedien in einem digitalen Fernsehempfänger zur Verfügung zu stellen (vgl. Patentschrift [0008]). Dies geschieht zum einen dadurch, dass ein Benutzerschnittstellenmenü zur Verfügung gestellt wird, das ein erstes Menü für die Erkennung der digitalen Fernsehsendungen der Medien enthält, die in dem digitalen Fernsehempfänger empfangen werden können, und ein zweites Menü für die Auswahl einer bestimmten digitalen Fernsehsendung aus den erkannten digitalen Fernsehsendungen. Zum anderen ist der digitale Fernsehempfänger empfangstechnisch für das wahlweise Betrachten einer von mindestens zwei digitalen Fernsehsendungen ausgerüstet, die über ein jeweils unterschiedliches Medium übertragenen werden.

5.

Nach dem Verständnis der Patentinhaberin ist unter dem Begriff "Fernsehsendungen" die Wiedergabe von Sendungsinhalten zu verstehen, die sowohl die Darstellung von Programmführern als auch Bildund Tonsignale umfassen können, was sich für den Fachmann auch aus der Gesamtheit der Offenbarung ohne weiteres ergebe. Des Weiteren seien die Begriffe "Fernsehsendung" und "Fernsehübertragung" Synonyme.

6.

Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses des Begriffs "Fernsehsendungen" kommt der Fachmann zwanglos zu dem Ergebnis, dass mit dem Vorgang "Anzeigen der erkannten, über die zwei Medien empfangenen digitalen Fernsehsendungen auf einem Bildschirm" (vgl. Merkmal (d) des verteidigten Patentanspruchs 1 und Merkmal (b) des erteilten Patentanspruchs 1) auch die Anzeige von Bildund Tonsignalen, mithin auch eine gleichzeitige Darstellung zum Zwecke der im Verfahrensablauf nachgestellten Auswahl einer Fernsehsendung mit umfasst ist.

Der ursprüngliche Anmeldegegenstand wird in der Sache zur Überzeugung des Senats dadurch insofern unzulässig erweitert, als in den ursprünglichen Unterlagen ein "Anzeigen der erkannten, über die zwei Medien empfangenen digitalen Fernsehsendungen auf einem Bildschirm" nicht angesprochen ist und in den ursprünglichen Unterlagen (vgl. hierzu A1-Schrift) nur eine Anzeige von Arten von ermittelten Fernsehübertragungen in Form eines Prüfergebnisses auf dem Bildschirm offenbart ist (vgl. A1-Schrift, Spalte 5, Zeilen 15 bis 21 und Spalte 7, Zeilen 5 bis 8), mit dessen Hilfe der Benutzer dann diejenige Fernsehsendung auswählt (vgl. A1-Schrift, Spalte 5, Zeilen 26 bis 32 und Spalte 7, Zeilen 7 bis 10), die letztendlich als Auswahlergebnis auf dem Bildschirm zur Anzeige gebracht werden soll. Allein schon aus der Differenzierung von "Arten von ermittelten Fernsehübertragungen" und "Fernsehsendungen" bzw. "Fernsehübertragungen" an sich schließt der Fachmann, dass gemäß der ursprünglichen Offenbarung dem Nutzer vor dem Vorgang der Auswahl Bildund Tonsignale der eigentlichen Fernsehsendung gerade nicht zur Anzeige gebracht werden, sondern, wie die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung bestätigt, nur entsprechende Informationen, bspw. in Form eines Programmführers, anhand derer der Nutzer seine Auswahl für die endgültige Anzeige einer Fernsehsendung auf dem Bildschirm treffen kann.

7.

Ob der im Einspruch geltend gemachte Widerrufsgrund der mangelnden Patentfähigkeit vorliegt, kann bei dieser Sachlage dahingestellt bleiben.

Dieser Auslegung der synonymen Begriffe "Fernsehsendung" und "Fernsehübertragung" schließt sich der Senat an.

Dr. Mayer Werner Gottstein Musiol prö






BPatG:
Beschluss v. 20.12.2010
Az: 20 W (pat) 378/05


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