Bundespatentgericht:
Urteil vom 15. Juni 2005
Aktenzeichen: 4 Ni 38/03

(BPatG: Urteil v. 15.06.2005, Az.: 4 Ni 38/03)

Tenor

1. Das europäische Patent EP 0 745 307 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patent EP 0 745 307 (Streitpatent), das am 12. Dezember 1995 unter Inanspruchnahme der Priorität der europäischen Patentanmeldung EP 942 03 642 vom 14. Dezember 1994 angemeldet worden ist. Das in der Verfahrenssprache Englisch veröffentlichte Streitpatent umfasst insgesamt 15 Ansprüche, von denen die Ansprüche 1 bis 6 ein Verfahren zum Übertragen codierter Daten, die Ansprüche 7 bis 12 ein Verfahren zum Empfangen codierter Daten, Anspruch 13 einen Sender, Anspruch 14 einen Empfänger und Anspruch 15 ein Bildsignal betreffen.

Patentanspruch 1 lautet in deutscher Übersetzung wie folgt:

Verfahren zum Übertragen codierter Daten, die ein graphisches Bild in Form eines rechteckigen Gebietes innerhalb eines aktiven Videogebietes definieren, wobei die Pixel, die das genannte Gebiet bilden, durch die codierten Daten einzeln definiert werden, dadurch gekennzeichnet, dass die codierten Daten die Größe und die Lage des genannten Gebietes und eine Zeitmarke umfassen, welche die Zeit darstellt, in der das genannte Gebiet wiedergegeben werden soll.

Wegen des Inhalts der Ansprüche 2 bis 15 wird auf die Streitpatentschrift EP 0 745 307 B1 Bezug genommen.

Die Klägerin behauptet, die im Streitpatent beanspruchte Erfindung sei in den Prioritätsunterlagen nicht offenbart, insbesondere fehlten dort die kennzeichnenden Merkmale des Patentanspruchs 1. Außerdem enthalte das Prioritätsdokument keine nacharbeitbare Lehre. Die Priorität der europäischen Anmeldung EP 942 03 642 sei deshalb nicht wirksam in Anspruch genommen. Die Klägerin ist weiter der Ansicht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Zur Begründung beruft sie sich ua auf folgende Druckschriften:

- Digital Video Broadcasting DVB Document A009, Oktober 1995 (NK2)

- JP 07 099 616 A

- und die hieraus hervorgegangene US-Nachanmeldung US 5 512 954 (NK4)

- US 5 208 665 (NK5)

- ISO/IEC-Norm 13818-1, November 1994 (NK6)

Zur Vorveröffentlichung der als Anlage NK6 vorgelegten Norm bietet die Klägerin Zeugenbeweis an.

Die Klägerin beantragt, das europäische Patent 0 745 307 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie meint, die Priorität sei wirksam in Anspruch genommen; deshalb seien die Dokumente NK2 und NK4, die einen späteren Zeitrang als das Prioritätsdatum haben, für die Beurteilung der Patentfähigkeit nicht zu berücksichtigen. Zu NK6 rügt die Beklagte, es sei unklar, welcher Entwurf der ISO/IEC-Norm im Zeitraum zwischen 30. Juni und 30. Oktober 1994 der Öffentlichkeit zugänglich gewesen sei. Im Übrigen hält sie den Gegenstand des Streitpatents für patentfähig.

Die Beklagte hat ihren Vortrag in der mündlichen Verhandlung durch eine Power-Point-Präsentation unterstützt. Die Klägerin hält dies für unzulässig.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Gegenstand des Streitpatents beruht im Hinblick auf die vor dem Prioritätszeitpunkt veröffentlichte Druckschrift US 5 208 665 (NK5) nicht auf erfinderischer Tätigkeit (Art II § 6 Abs 1 Nr 1 IntPatÜG iVm Art 138 Abs 1 lit a, Art 56 EPÜ). Die Frage, ob die Priorität der Voranmeldung EP 942 03 642 wirksam in Anspruch genommen worden ist, kann deshalb dahinstehen.

I.

Die Art des Vortrags der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verstößt weder gegen den Grundsatz der Mündlichkeit (§ 99 Abs 1 PatG iVm § 137 Abs 2 ZPO) noch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw der Waffengleichheit als Ausprägung des Gebots zur rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung (Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG).

Vor Gericht haben die Parteien eine formell gleiche Rechtsposition, das Gericht hat auf prozessuale Chancengleichheit zu achten (Vollkommer in Zöller, ZPO, 23. Aufl, Einl. Rn 102). In der mündlichen Verhandlung müssen die Parteien ihre Vorträge grundsätzlich in freier Rede halten und dürfen nicht nur Schriftsätze verlesen. Die Streitsache soll dadurch umfassend, aber konzentriert und nicht weitschweifend erörtert werden (vgl Hartmann in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 63. Aufl, § 137 Rn 20 ff; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, § 137 Rn 10, jeweils mit Nachweisen).

Die Beklagte hat in freier Rede vorgetragen und mittels eines Computers Auszüge aus der Streitpatentschrift bzw aus als patentschädlich entgegengehaltenen Druckschriften zur besseren Lesbarkeit und Verdeutlichung an die Wand des Gerichtssaals projiziert; sie hat nicht vorgelesen, sondern ihren freien Vortrag lediglich durch bildliche Bezugnahme auf Schriftstücke unterstützt, die sich bereits bei den Gerichtsakten befunden hatten und damit Gegenstand des Verfahrens waren. Die Beklagte hätte eine ähnliche Wirkung durch Vorlage entsprechend vergrößerter Textstellen in Papierform ohne weiteres erreichen können; sie hat sich durch die Präsentation keinen prozessualen und auch keinen materiellrechtlichen Vorteil verschafft. Die Klägerin ist dadurch in keiner Weise benachteiligt; im übrigen hat sie sich während ihres Vortrags selbst der projizierten Merkmalsanalyse von Anspruch 1 des Streitpatents bedient.

II.

Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Übertragen codierter Daten, die ein graphisches Bild in Form eines rechteckigen Gebietes innerhalb eines aktiven Videogebietes definieren, ein Verfahren zum Empfangen codierter Daten, einen Sender, einen Empfänger und ein Bildsignal. Nach der Patentbeschreibung war im Stand der Technik zum Prioritätszeitpunkt ein Verfahren zum Übertragen von Textinformationen mit der Bezeichnung "Videotext" oder "Teletext" bekannt, wobei die Übertragung zunächst mit einem analogen Fernsehsignal erfolgt sei. Inzwischen werde weltweit die digitale Fernsehnorm MPEG2 zum Übertragen digitaler Fernsehprogramme über Satelliten, Kabel, terrestrische Netzwerke und durch verpackte Medien, wie Tonband oder CD angewandt.

Das damals bekannte Übertragungssystem habe auf der Basis von Schriftzeichen funktioniert, dh, dass zB ein Untertitel nur als Text und nicht als Graphik übertragen worden sei. Das Aussehen des Untertitels sei also nicht mitübertragen worden, sondern habe in der Hardware festgelegen; insoweit habe keine Gestaltungsmöglichkeit hinsichtlich der Schriftart, der Anordnung von Zwischenräumen, der graphischen Gestaltung oder der Verwendung von Farben bestanden. Probleme habe es auch bei zusammengesetzten Schriftzeichen, zB chinesischen oder japanischen Schriftzeichen, die nicht als Bild übertragen worden seien und erst sehr aufwändig durch Zeichengeneratoren erzeugt werden mussten, gegeben. Dieses Videotextsystem sei demnach in Qualität und Leistung sehr beschränkt gewesen.

Ziel der Erfindung ist, das bekannte System zu verbessern und insbesondere eine universelle Lösung für mehrsprachige Untertitelung zu schaffen.

III.

Patentanspruch 1 beschreibt demgemäß ein Verfahren zum Übertragen codierter Daten mit den folgenden Merkmalen:

1.2 Die codierten Daten definieren ein graphisches Bild in Form eines rechteckigen Gebietes.

1.3 Das Gebiet befindet sich innerhalb eines aktiven Videogebietes.

1.4 Die Pixel, die das genannte Gebiet bilden, werden durch die codierten Daten einzeln definiert.

1.5 Die codierten Daten umfassen die Größe und Lage des genannten Gebietes.

1.6 Die codierten Daten umfassen eine Zeitmarke, welche die Zeit darstellt, in der das genannte Gebiet wiedergegeben werden soll.

Der Gegenstand des Patentanspruches 1 beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Aus Druckschrift NK5 ist ein Verfahren zum Übertragen codierter Daten bekannt, die ein grafisches Bild definieren (Sp 43 Z 52-58; Sp 36 Z 20-23) - Teilmerkmal 1.2.

Das durch das graphische Bild definierte Gebiet befindet sich innerhalb eines aktiven Videogebietes (Sp 9 Z 29-34: graphics or text will be overlaid onto the video images; Sp 13 Z 11-13: graphics overlays) - Merkmal 1.3.

Als Beispiele für graphische Bilder werden Fotografien (Sp 13 Z 9-14) erwähnt. Fotografien werden üblicherweise pixelorientiert in digitaler Form gespeichert und übertragen. Daraus lässt sich ohne weiteres schließen, dass die Pixel, die das Gebiet des graphischen Bildes bilden, zumindest dann, wenn Fotografien als graphische Bilder übertragen werden, durch die codierten Daten einzeln definiert sind - Merkmal 1.4.

Die codierten Daten werden als sogenannte Datenobjekte (Sp 9 Z 12-24: data objects) in einem Transportstrom übertragen (Fig 12). Zu den codierten Daten, die das graphische Bild definieren, gehören auch sogenannte Scripts, die eine Zeitmarke enthalten, welche die Zeit festlegt, in der das genannte Gebiet wiedergegeben werden soll (Sp 9 Z 25 - 29). Außerdem umfassen die Scripts die notwendigen Informationen, um die Präsentation zu strukturieren (Sp 9 Z 33-34). Da eine Strukturierung der Präsentation durch die Größe und die Lage der genannten Gebiete erreicht wird, enthalten die Scripts somit auch Informationen über Größe und Lage des genannten Gebietes. Damit umfassen die codierten Daten sowohl die Zeitmarke als auch Informationen über die Größe und Lage des genannten Gebietes - Merkmale 1.5, 1.6.

Aus NK5 ist nicht zu entnehmen, welche Form das Gebiet hat, in dem die Graphik dargestellt wird. Für den Fachmann, einen Diplom-Ingenieur der Elektrotechnik mit Berufserfahrung und mehrjähriger Entwicklertätigkeit auf dem Gebiet der Fernseh- und Videotechnik, bietet sich jedoch die Rechteckform als besonders vorteilhaft an, weil sie sich auf dem zeilenförmig aufgebauten Fernsehbild durch besonders wenige Angaben (Adresse eines Eckpunktes, Zahl der Zeilen in vertikaler Richtung und Zahl der Bildpunkte in horizontaler Richtung) festlegen lässt. Für die Rechteckform spricht auch, dass Fotografien, die nach NK5 als graphische Bilder in Frage kommen, in der Regel eine rechteckige Form besitzen und sich die Rechteckform zudem besonders gut für die Darstellung von Schrift eignet. Es liegt daher für den Fachmann nahe, für die graphischen Bilder die Rechteckform zu wählen.

Im Unterschied zu den in der Patentschrift beschriebenen Ausführungsbeispielen betrifft NK5 zwar nicht die Darstellung von Untertiteln, sondern ein interaktives Multimediasystem, mit dem Informationen an die Fernsehgeräte von Abonnenten entsprechend deren Anforderungen verteilt werden können. Da aber der Patentanspruch 1 in seiner allgemeinen Fassung nicht auf die Darstellung von Untertiteln beschränkt ist, kann dieser Unterschied die Patentfähigkeit des Gegenstands des Patentanspruches 1 nicht begründen. Auch die bei dem Verfahren nach NK5 vorgesehene zusätzliche Übertragung von Daten in textcodierter Form (Sp 42 Z 65-66) kann nicht zu einer anderen Beurteilung der Patentfähigkeit führen, da eine solche zusätzliche Übertragung auch bei dem Gegenstand des Patentanspruches 1 nicht ausgeschlossen ist.

Die nebengeordneten Patentansprüche 7, 13, 14 und 15 sind auf ein Verfahren zum Empfangen codierter Daten, einen Sender zum Übertragen codierter Daten, einen Empfänger zum Übertragen codierter Daten und ein Bildsignal mit codierten Daten gerichtet. Diese Ansprüche enthalten im wesentlichen lediglich Merkmale, die den Merkmalen des Gegenstands des Patentanspruches 1 entsprechen. Ihre Gegenstände beruhen daher ebenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Zur Begründung wird auf die Ausführungen zum Patentanspruch 1 hingewiesen.

Die Patentansprüche 2 bis 6 und 8 bis 12 sind ebenfalls nicht rechtsbeständig. Die Klägerin hat diese echten Unteransprüche substantiiert angegriffen, die Beklagte hat jedoch nicht im Einzelnen dargelegt, dass in ihnen Merkmale enthalten sind, die eine erfinderische Tätigkeit begründen könnten. Auch der Senat vermag Derartiges nicht zu erkennen.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 Satz 2 PatG iVm § 91 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 ZPO.

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Urteil v. 15.06.2005
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