Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 23. März 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 238/01

(BVerfG: Beschluss v. 23.03.2001, Az.: 1 BvR 238/01)

Tenor

Die Vollziehung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 6. November 2000 - AnwZ (B) 3/00 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde dreier Rechtsanwälte, die eine Anwaltskanzlei betreiben, wendet sich gegen die durch gerichtliche Entscheidung festgestellte Verpflichtung, nach § 3 Abs. 2 der Berufsordnung der Rechtsanwälte in der Fassung vom 22. März 1999 (im Folgenden: BORA) vier Mandate niederzulegen, nachdem sie einen Rechtsanwalt angestellt haben, der aus einer Kanzlei stammt, die bei diesen Mandaten die Gegenseite vertritt.

1. Die Beschwerdeführer betreiben als Gesellschafter bürgerlichen Rechts eine Anwaltskanzlei, ab 1. Oktober 1999 ist Rechtsanwalt Dr. L. in die Kanzlei als angestellter Rechtsanwalt eingetreten; er wird im Briefkopf unter der Überschrift "Rechtsanwälte" neben den drei Sozien genannt. Zuvor war Rechtsanwalt Dr. L. in der Anwaltssozietät W., D. als angestellter Rechtsanwalt beschäftigt; auch auf deren Briefbogen trat er in Erscheinung. Betroffen von dem Wechsel waren zunächst neun Mandate zwischen den beiden Kanzleien mit einem Auftragsvolumen von ca. 85.000 DM. Es handelte sich dabei ausschließlich um Mandate, in denen Rechtsanwalt Dr. L. in dem abgebenden Büro nicht als Anwalt tätig geworden war. In der Kanzlei der Beschwerdeführer ist durch interne Weisungen sichergestellt, dass er in diesen Mandaten nicht tätig wird.

Auf Nachfrage der Beschwerdeführer stellte die zuständige Anwaltskammer fest, dass die Fortführung solcher Mandate einen Verstoß gegen § 3 BORA darstelle; sie verpflichtete die Beschwerdeführer, die Mandatsniederlegung bis zu einem festgesetzten Termin anzuzeigen. Nach anderslautender Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs stellte der Bundesgerichtshof die Ausgangslage wieder her. Nach § 43 a Abs. 4 BRAO dürfe der Rechtsanwalt keine widerstreitenden Interessen vertreten. Das sei aber der Fall, wenn er zunächst die eine Partei vertrete und später nach einem Sozietätswechsel deren Gegner. In einer Sozietät handele regelmäßig jeder Rechtsanwalt namens der Sozietät. Dies habe zur Folge, dass der Mandant von allen Sozietätsmitgliedern vertreten werde. Unerheblich sei deshalb, ob der die Sozietät wechselnde Rechtsanwalt in der früheren Kanzlei das Mandat persönlich bearbeitet habe und ob er in seiner jetzigen Kanzlei das Mandat des Gegners persönlich bearbeite. "Vertretung" im Sinne des § 43 a Abs. 4 BRAO sei im weitesten Sinn zu verstehen, sie setze ein "Bearbeiten" nicht voraus. Allerdings sei Rechtsanwalt Dr. L. nur so genannter Außensozius gewesen. Da er jedoch auf den Briefbögen beider Kanzleien als Mitglied der Sozietät in Erscheinung getreten sei, sei er jeweils in die Mandatsverhältnisse einbezogen und hafte deshalb den Auftraggebern in gleicher Weise wie die Mitglieder der jeweiligen Sozietät. Auch in Ansehung des Schutzzwecks der Norm sei diese Auslegung geboten. Für die Mandanten der früheren Sozietät erwecke sein Kanzleiwechsel den Eindruck, er sei nunmehr, weil er den Gegner vertrete, gegen sie. Die Mandanten der neuen Kanzlei könnten umgekehrt der Meinung sein, ihm sei zu misstrauen, weil er "von der Gegenseite" komme. Diese Ansicht stehe auch in Einklang mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit. Zwar werde die Möglichkeit eines Kanzleiwechsels erschwert, indes habe der Schutz des Vertrauens des Mandanten in die Unabhängigkeit seines Rechtsanwalts und somit in die Integrität der Rechtspflege den Vorrang.

2. Ihre dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde und ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG begründen die Beschwerdeführer wie folgt: Der Beschluss des Bundesgerichtshofs verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 12 GG. Die Vertretung im Sinne des § 43 a Abs. 4 BRAO sei nicht im weitesten Sinn zu verstehen. Das Verbot richte sich nur an den einzelnen Anwalt, anderenfalls hätte der Gesetzgeber in § 43 a BRAO eine Erstreckungsregelung auf Sozien aufgenommen. § 3 Abs. 2 und 3 BORA seien von der Ermächtigungsnorm in § 59 b Abs. 2 Nr. 1 BRAO nicht gedeckt.

Werde der Beschluss des Bundesgerichtshofs vollzogen, müssten sie die betroffenen Mandate niederlegen. Dies werde zu einem geschätzten Gebührenverlust von mindestens 26.000 DM führen. Dieser wirtschaftlichen Einbuße stehe vorliegend kein gewichtiger Gemeinwohlbelang entgegen. Denn die Mandanten hätten - in Kenntnis des Sozietätswechsels von Rechtsanwalt Dr. L. - inzwischen auf beiden Seiten der Mandatsfortführung durch die Beschwerdeführer zugestimmt.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 94, 334 <347>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten zu klären, ob § 3 Abs. 2 und 3 BORA, insbesondere in der Auslegung durch den angegriffenen Beschluss des Bundesgerichtshofs, mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist (vgl. hierzu BVerfGE 101, 312).

3. Die danach gebotene Folgenabwägung führt vorliegend zum Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, mit der die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 6. November 2000 ausgesetzt wird.

Unterbliebe die Anordnung der Aussetzung der Vollziehung, hätte die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, müssten die Antragsteller zwei Mandate niederlegen; ihnen entginge damit ein geschätztes Gebührenaufkommen von ca. 26.000 DM. Darüber hinaus könnte der endgültige Verlust der Mandanten im Anschluss an eine solche Mandatsniederlegung für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Würde die einstweilige Anordnung erlassen, hätte die Verfassungsbeschwerde jedoch keinen Erfolg, könnten die Antragsteller bis zu diesem Zeitpunkt die Mandate fortführen. Belange von Mandanten der Beschwerdeführer oder von Mandanten aus der früheren Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. L. würden hiervon nicht berührt, weil diese einer Fortführung nach Offenlegung des Sozietätswechsels zugestimmt haben. Von ihrer Seite ist auch kein Vertrauensverlust für die Anwaltschaft zu besorgen. Die Gefahr, dass die Rechtspflege insgesamt durch die Fortführung der zwei Mandate im Einverständnis mit den betroffenen Mandanten einen Schaden erleidet, ist zu vernachlässigen. Es fehlt auch an Anhaltspunkten für die Annahme, das Ansehen der Anwaltschaft im Allgemeinen könnte hierdurch gefährdet werden. Nach alledem wiegen die Nachteile, die bei einer Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung drohen, schwerer als die nachteiligen Folgen, die auf Seiten der betroffenen Mandanten und der Rechtspflege eintreten, wenn die einstweilige Anordnung erlassen wird.






BVerfG:
Beschluss v. 23.03.2001
Az: 1 BvR 238/01


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