Bundespatentgericht:
Beschluss vom 9. Februar 2006
Aktenzeichen: 23 W (pat) 319/05

(BPatG: Beschluss v. 09.02.2006, Az.: 23 W (pat) 319/05)

Tenor

Das Patent wird widerrufen.

Gründe

I.

Das angegriffene Patent 199 42 367 (Streitpatent) wurde unter der Bezeichnung "Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen und Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen" am 4. September 1999 beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet. Unter Berücksichtigung des im Prüfungsverfahren ermittelten Standes der Technik wurde das Patent mit Beschluss vom 14. Juni 2004 mit 10 Patentansprüchen erteilt und dessen Erteilung am 11. November 2004 veröffentlicht.

Gegen das Patent hat die Einsprechende mit Schriftsatz vom 11. Februar 2005, per Fax am gleichen Tag beim Patentamt eingegangen, Einspruch erhoben. Sie beantragt, das Patent in vollem Umfang zu widerrufen, weil der Gegenstand des angegriffenen Patents gegenüber dem Stand der Technik nicht neu und auch nicht erfinderisch sei.

Sie stützt ihren Einspruch zusätzlich zu den im Prüfungsverfahren U1. in Betracht gezogenen Druckschriften D1 DE 94 11 537 U1 - Anlage 2 D2 DE 297 09 871 U1 - Anlage 3 D3 DE 41 36 707 A1 - Anlage 4 auf offenkundige Vorbenutzung von vor dem Anmeldetag des Streitpatents angebotenen und vertriebenen Entriegelungswerkzeugen der Firma A... GmbH, in B..., und der Firma C...in E..., und verweist hierzu auf fol- gende Dokumente:

D4 Verkaufskatalog der Mibostahl GmbH mit Preisliste ab 1. Oktober 1995 aus dem Jahr 1995, "Mibotool Extraction Tools (Devices)" - Anlage 7 D5 Verkaufskatalog der Mibostahl GmbH, "Mibotool Entriegelungswerkzeuge", 1997 - Anlage 8 D6 Verkaufskatalog der Mibostahl GmbH, "Entriegelungswerkzeuge", 1998 - Anlage 9 D7 Katalog der Firma Sauer-Werkzeug, Hamburg, "Kabelentriegelungswerkzeuge", 1997, - Anlage 12 D8 3 Blatt technische Zeichnungen der Schäfte der Entriegelungswerkzeuge 93005, 94024 und 95513 - Anlagen 13a - 13c D9 Kopien von Rechnungen der Mibostahl GmbH aus dem Jahre 1998

- Anlagen 10a - 10k D10 vier kopierte Fotos - Anlage 11 D11 2 Empfangsscheine vom 2. Dezember 1996 D12 Muster der in D10 abgebildeten Entriegelungswerkzeuge.

Außerdem wird hinsichtlich der geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzung und der Richtigkeit der genannten Angaben Zeugenbeweis angeboten. Für die mündliche Verhandlung wurden zu den mit Einspruchsschriftsatz in Kopie übermittelten Katalogen D4, D5 und D7 wurden Originalexemplare vorgelegt.

Der Patentinhaber tritt dem Vorbringen der Einsprechenden in allen wesentlichen Punkten entgegen und ist der Auffassung, dass die Gegenstände der erteilten Patentansprüche 1 und 6, zumindest in der hilfsweise verteidigten Fassung vom 21. Oktober 2005, gegenüber den entgegengehaltenen Druckschriften und dem Gegenstand der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung neu seien und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhten. Im Übrigen bestreitet er die offenkundige Vorbenutzung und vertritt die Auffassung, dass die seitens der Einsprechenden zum Nachweis einer offenkundigen Vorbenutzung vorgelegten Unterlagen nicht ausreichend seien. Darüber hinaus macht er geltend, dass auf Seiten der Einsprechenden keine Entriegelungswerkzeuge mit den Merkmalen des Streitpatents vor dessen Anmeldetag hergestellt und angeboten worden seien und bietet hierzu Zeugenbeweis an.

In der mündlichen Verhandlung hat der Patentinhaber zur beschränkten Verteidigung des Streitpatents neue Patentansprüche nach weiteren Hilfsanträgen 2 bis 4 vorgelegt.

Die Einsprechende beantragt, das Patent zu widerrufen.

Der Patentinhaber beantragt, das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten.

Hilfsweise beantragt er, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:

Patentansprüche 1 bis 10, eingegangen am 21. Oktober 2005, Beschreibung, Seiten 1 bis 4, Zeichnung, Figuren 1 bis 3, jeweils gemäß Patentschrift.

Weiter hilfsweise beantragt er, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:

Patentansprüche gemäß Hilfsanträgen 2 bis 4, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 9. Februar 2006, Beschreibung, Seiten 1 bis 4, Zeichnung, Figuren 1 bis 3, jeweils gemäß Patentschrift.

Die verteidigten - erteilten - Patentansprüche 1 bis 10 nach Hauptantrag haben folgenden Wortlaut:

"1. Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass ein als Endlosmaterial vorliegender, im Querschnitt runder oder polygonaler Federstahl (3) verwendet wird, der abgelängt und abgeschnitten wird, dass der mindestens eine Entriegelungsstift durch mindestens ein freies Ende des Federstahls (3) gebildet wird, dass der abgelängte und abgeschnittene Federstahl (3) in das dem Griff abgewandte Ende der Hülse gedrückt und mit der Hülse verkrimpt wird.

2. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass der Federstahl (3) in ein U-Profil gezogen und umgebogen wird.

3. Verfahren nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, dass das mindestens eine freie Ende des Federstahls (3) geschliffen wird.

4. Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass der Federstahl (3) auf Maß geschliffen wird.

5. Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass der Federstahl (3) entgratet wird.

6. Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass an dem dem Griff abgewandten Ende in den Schaft (1) ein Federstahl (3) gepresst ist, der einen runden oder polygonalen Querschnitt aufweist und an dessen freien Enden mindestens ein Entriegelungsstift ausgebildet ist.

7. Werkzeug nach Anspruch 6, dadurch gekennzeichnet, dass der Federstahl (3) U-förmig umgebogen ist.

8. Werkzeug nach Anspruch 6 oder 7, dadurch gekennzeichnet, dass der Schaft (1) einen runden Querschnitt aufweist.

9. Werkzeug nach einem der Ansprüche 6 bis 8, dadurch gekennzeichnet, dass der Federstahl (3) ein angeschliffenes Ende (31) aufweist.

10. Werkzeug nach einem der Ansprüche 6 bis 9, dadurch gekennzeichnet, dass der Federstahl (3) eine Verjüngung (32) aufweist."

Die verteidigten Patentansprüche 1 und 6 nach Hilfsantrag 1 haben folgenden Wortlaut (Ergänzungen gegenüber Patentanspruch 1 bzw. 6 nach Hauptantrag unterstrichen):

"1. Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass ein als Endlosmaterial vorliegender, im Querschnitt runder oder polygonaler und maßgewalzter Federstahl (3) verwendet wird, der abgelängt und abgeschnitten wird, dass der mindestens eine Entriegelungsstift durch mindestens ein freies Ende des Federstahls (3) gebildet wird, dass der abgelängte und abgeschnittene Federstahl (3) in das dem Griff abgewandte Ende der Hülse gedrückt und mit der Hülse verkrimpt wird.

6. Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass an dem dem Griff abgewandten Ende in den Schaft (1) ein Federstahl (3) gepresst ist, der einen runden oder polygonalen Querschnitt aufweist und an dessen freien Enden mindestens ein Entriegelungsstift ausgebildet ist, wobei der Federstahl maßgewalzt ist."

Die verteidigten Patentansprüche 1 und 6 nach Hilfsantrag 2 haben folgenden Wortlaut:

"1. Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass ein als Endlosmaterial vorliegender, im Querschnitt polygonaler und maßgewalzter Federstahl (3) verwendet wird, der abgelängt und abgeschnitten wird, dass der mindestens eine Entriegelungsstift durch mindestens ein freies Ende des Federstahls (3) gebildet wird, dass der abgelängte und abgeschnittene Federstahl (3) in das dem Griff abgewandte Ende der Hülse gedrückt und mit der Hülse verkrimpt wird.

6. Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass an dem dem Griff abgewandten Ende in den Schaft (1) ein Federstahl (3) gepresst ist, der einen polygonalen Querschnitt aufweist und an dessen freien Enden mindestens ein Entriegelungsstift ausgebildet ist, wobei der Federstahl maßgewalzt ist."

Die verteidigten Patentansprüche 1 und 6 nach Hilfsantrag 3 haben folgenden Wortlaut (Ergänzungen gegenüber Patentanspruch 1 bzw. 6 nach Hauptantrag unterstrichen):

"1. Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass ein als Endlosmaterial vorliegender, im Querschnitt in Breite und Höhe maßgewalzter Federstahl (3) verwendet wird, der abgelängt und abgeschnitten wird, dass der mindestens eine Entriegelungsstift durch mindestens ein freies Ende des Federstahls (3) gebildet wird, dass der abgelängte und abgeschnittene Federstahl (3) in das dem Griff abgewandte Ende der Hülse gedrückt und mit der Hülse verkrimpt wird.

6. Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass an dem dem Griff abgewandten Ende in den Schaft (1) ein Federstahl (3) gepresst ist, der einen viereckigen Querschnitt aufweist und an dessen freien Enden mindestens ein Entriegelungsstift ausgebildet ist, wobei der Federstahl in Breite und Höhe maßgewalzt ist."

Die verteidigten Patentansprüche 1 und 4 nach Hilfsantrag 4 haben folgenden Wortlaut (Ergänzungen gegenüber Patentanspruch 1 bzw. 6 nach Hilfsantrag 3 unterstrichen):

"1. Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass ein als Endlosmaterial vorliegender, im Querschnitt in Breite und Höhe maßgewalzter Federstahl (3) verwendet wird, der abgelängt und abgeschnitten wird, dass der mindestens eine Entriegelungsstift durch mindestens ein freies Ende des Federstahls (3) gebildet wird, dass der abgelängte und abgeschnittene Federstahl (3) in das dem Griff abgewandte Ende der Hülse gedrückt und mit der Hülse verkrimpt wird und dass eine Bearbeitung des Federstahls in Breite und Höhe nicht erforderlich ist.

4. Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen mit einem Schaft (1), der von einer Hülse gebildet, in einen Griff (2) gepresst und mit mindestens einem Entriegelungsstift versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass an dem dem Griff abgewandten Ende in den Schaft (1) ein Federstahl (3) gepresst ist, der einen viereckigen Querschnitt aufweist und an dessen freien Enden mindestens ein Entriegelungsstift ausgebildet ist, wobei der Federstahl in Breite und Höhe maßgewalzt ist und in Breite und Höhe bearbeitungslos verpresst ist."

Hinsichtlich der geltenden Unteransprüche nach Hilfsanträgen 1 bis 4 und hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II.

Die Zuständigkeit des (technischen) Beschwerdesenats des Bundespatentgerichts für die Entscheidung über den Einspruch ergibt sich aus § 147 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 PatG. Danach ist nicht das Patentamt, sondern das Patentgericht zuständig, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Einspruchsfrist nach dem 1. Januar 2002 zu laufen begonnen hat und der Einspruch vor dem 1. Juli 2006 eingelegt worden ist.

III.

Der form- und fristgerecht erhobene Einspruch ist zulässig. Er ist auch begründet, denn das Streitpatent erweist sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung in der Fassung nach Hauptantrag und Hilfsanträgen 3 und 4 als nicht patentfähig. Die verteidigten Patentansprüche 1 und 6 nach Hilfsanträgen 1 und 2 sind unzulässig erweitert.

1.) Gegen die Zulässigkeit des Einspruchs bestehen keine Bedenken. Die Einsprechende hat den Widerrufsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht und diesen innerhalb der Einspruchsfrist ausreichend substantiiert. So setzt sich der Einspruch im Rahmen der Ausführungen zur - aus der Sicht der Einsprechenden - fehlenden Neuheit mit sämtlichen Merkmalen des erteilten Patentanspruchs 1 bzw. 6 im Hinblick auf den geltend gemachten Stand der Technik im einzelnen auseinander, vgl. Seite 5 vorle. Abs. bis Seite 11 le. Abs. des Einspruchsschriftsatzes.

Die Zulässigkeit des Einspruchs ist vom Patentinhaber im Übrigen auch nicht in Frage gestellt worden.

2.) Nach den Angaben in der Beschreibungseinleitung (Abschnitte [0004] und [0005]) der Streitpatentschrift) geht das Streitpatent im Oberbegriff der erteilten Patentansprüche 1 bzw. 6 von einem Verfahren zur Herstellung von Werkzeugen für die Entriegelung von Kabelverbindungen bzw einem entsprechenden Werkzeug aus, wie es z. B. aus den Druckschriften D1, D2 oder D3 bekannt ist. Zusammengefasst haben die bekannten Entriegelungswerkzeuge nach Auffassung des Patentinhabers den Nachteil, dass die zur Ausbildung der Entriegelungsstifte vorgesehene Ausnehmung bzw. der Schlitz aus dem vollen Material des Schaftes gefräst und geschliffen sowie anschließend poliert ist, wodurch die Innenseiten der Stifte eine durch das Fräsen und Schleifen hervorgerufene hohe Rauhtiefe aufweisen, die an den Kontakten zwangsläufig zu Beschädigungen führt. Darüber hinaus ist die Ausbildung der Entriegelungsstifte durch separate Stifte, die in Bohrungen an der Stirnfläche des freien Endes des Schaftes eingesetzt werden, aufwendig. Das Einbringen der Bohrungen sowie die Herstellung der Stifte selbst und deren Einsetzen in die Bohrungen gestalten die Herstellung der Entriegelungswerkzeuge arbeitsintensiv und erhöhen somit die Kosten.

Dem Streitpatent liegt demgegenüber die Aufgabe zugrunde (Abschnitt [0006] bzw. [0011]), die bislang aufwendige Herstellung mit gefrästen Stiften zu vereinfachen bzw. ein Werkzeug zur Entriegelung von Steckkontakten zu schaffen, das in der Herstellung preiswert und gleichzeitig stabil ist.

Gelöst wird diese Aufgabe durch die in den Patentansprüchen 1 und 6 nach Hauptantrag und Hilfsanträgen 1 bis 3 bzw. durch die in den Patentansprüchen 1 und 4 nach Hilfsantrag 4 genannten Merkmale.

3. a) Hauptantrag Die Zulässigkeit der erteilten Patentansprüche 1 und 6 kann dahinstehen. Denn das Entriegelungswerkzeug nach dem erteilten Patentanspruch 6 ist gegenüber dem Stand der Technik nach der Druckschrift D4 nicht neu.

Der von der Einsprechenden im Original vorgelegte Firmenkatalog D4, der unbestritten aus dem Jahr 1996 stammt (vgl. den Hinweis auf der letzten Seite "This price is valid as from October 1, 1995"), ist als vorveröffentlichte Druckschrift zu werten, da von einer vor dem Anmeldetag des Streitpatents (=4. September 1999) erfolgten Verteilung jedenfalls im Umfang der in dem Katalog enthaltenen Farbphotos mit den nebeneinander liegenden Entriegelungswerkzeugen des Verkaufskatalogs an einen erheblichen Teil der interessierten Fachkreise - hier insbesondere der angesprochenen Automobilindustrie samt Werkstätten und Zulieferern - auszugehen ist (GRUR 1991, 821 - "Hochspannungstransformator"). Der vom Patentinhaber bevollmächtigte Vater, Herr E..., der nach eigener Aussage bis 1996 als Werkstattleiter bei der Einsprechenden tätig war (vgl. hierzu auch den Einspruchsschriftsatz vom 11. Februar 2005 Seite 5 le. Abs.), hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt, dass er damals jedenfalls diese Farbphotos für den Verkaufskatalog 1996 selbst angefertigt habe und dieser auch an Fachkreise verteilt worden sei.

In dieser Druckschrift D4 sind in den Farbphotos ua unter der Werkzeug-Nummer 93.005, 93.007 und 94.024 Entriegelungswerkzeuge (Extraction Tools) zur Entriegelung von Kabelverbindungen (vgl. die Titelseite des Katalogs) dargestellt, in dessen in Form einer Hülse ausgebildeten, im Griff gepressten Schaft - im Unterschied zu Entriegelungswerkzeugen mit gefrästen Entriegelungsstiften - an dem dem Griff abgewandten Ende jeweils ein gabelförmiges Entriegelungsteil gepresst ist, das einen runden (Werkzeug-Nr. 93.005 bzw. 93.007) oder viereckigen Querschnitt (Werkzeug-Nr. 94.024) aufweist und an dessen freien Enden jeweils ein Entriegelungsstift ausgebildet ist. Das gegenüber diesen bekannten Entriegelungswerkzeugen einzig verbleibende Merkmal im erteilten Anspruch 6, wonach das Entriegelungsteil aus Federstahl besteht, ist zwar dieser Druckschrift nicht explizit zu entnehmen. Es ergibt sich jedoch für den zuständigen Fachmann, einen mit hochwertigen Entriegelungswerkzeugen und deren Herstellung vertrauten, berufserfahrenen Werkzeugmacher, ohne weiteres aus dem bestimmungsgemäßen Einsatz derartiger Entriegelungswerkzeuge. Denn die Entriegelungsstifte müssen zur Einführung in die Kammern der Kabelverbinder insbesondere für den Einsatzbereich in Kfz.-Werkstätten zum einen korrosionsbeständig und zum anderen elastisch sein, wofür Federstahl vom Fachmann als vorherrschend gebräuchliches Material als besonders geeignet ohne weiteres erkannt und in Gedanken gleich mitgelesen wird (BGH GRUR 1995, 330 Ls. 2 - "Elektrische Steckverbindung").

Soweit bei den vorstehend genannten Werkzeugen nach Druckschrift D4 die Entriegelungsstifte ein angeschliffenes Ende bzw eine Verjüngung aufweisen, kann darin kein Unterschied zum Gegenstand des erteilten Anspruchs 6 gesehen werden. Denn auch vom erteilten Anspruch 6 werden derartige Nachbearbeitungen (31; 32; 33) ausdrücklich mitumfaßt, wie aus den darauf rückbezogenen Unteransprüchen 9 und 10 sowie dem diesbezüglichen Ausführungsbeispiel gemäß Fig. 3 hervorgeht.

Das Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen nach Patentanspruch 6 gemäß Hauptantrag ist daher mangels Neuheit nicht patentfähig.

Mit dem nicht patentfähigen Sachanspruch 6 fällt - aufgrund der Antragsbindung (BGH GRUR 1997, 120 Ls., 122 - "Elektrisches Speicherheizgerät" m. w. Nachw.) -notwendigerweise auch der erteilte Verfahrensanspruch 1 gemäß Hauptantrag, einschließlich der auf die Ansprüche 1 und 6 rückbezogenen Unteransprüche.

Im Übrigen weist auch der Verfahrensanspruch 1 gemäß Hauptantrag keine Merkmale von erfinderischem Gehalt auf. Denn hinsichtlich der mangelnden Patentfähigkeit des Verfahrensanspruchs 1 gelten die im Zusammenhang mit dem Sachanspruch 6 oben genannten Gründe entsprechend, wobei die zusätzliche Maßnahme, dass ein als Endlosmaterial vorliegender, im Querschnitt runder oder polygonaler Federstahl verwendet wird, der abgelängt und abgeschnitten wird, im Rahmen fachmännischen Handelns liegt. Denn der Hersteller von derartigen Entriegelungswerkzeugen wird für die Serienfertigung derartiger Massenprodukte die zu verpressenden Entriegelungsstifte schon aus Kostengründen aus dem vom Stahlhersteller üblicherweise zu beziehenden Endlosmaterial herstellen und als davon abgelängtes und abgeschnittenes Teil mit der Hülse formverpressen bzw. verkrimpen.

b.) Hilfsanträge 1 und 2 Die geltenden Patentansprüche 1 und nach Hilfsantrag 1 und 2 sind unzulässig erweitert (§ 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG).

Der Verfahrensanspruch 1 und der Sachanspruch 6 nach Hilfsantrag 1 bzw. 2 unterscheidet sich von dem erteilten Anspruch 1 bzw. 6 gemäß Hauptantrag jeweils dadurch, dass der Federstahl runden oder polygonalen Querschnitts maßgewalzt ist (Hilfsantrag 1) bzw. dass der Federstahl polygonalen Querschnitts maßgewalzt ist (Hilfsantrag 2).

Da das in den Patentanspruch 1 und 6 nach Hilfsantrag 1 und 2 aufgenommene Merkmal "maßgewalzt" sowohl in der Patentschrift (Abschnitt [0021]) als auch in den ursprünglichen Unterlagen (Seite 6 Abs. 2) ausschließlich in Verbindung mit einem viereckigen Querschnitt des Federstahls, dessen Breite und Höhe maßgewalzt ist, offenbart ist, führt die Einfügung des Wortes "maßgewalzt" in den geltenden Ansprüchen 1 und 6, die allgemein einen "runden oder polygonalen" Querschnitt (Hilfsantrag 1) bzw einen polygonalen Querschnitt (Hilfsantrag 2) des Federstahls lehren, zu einer unzulässigen Erweiterung des Gegenstandes des Streitpatents. Denn vom Patentgegenstand gemäß Anspruch 1 und 6 nach Hilfsanträgen 1 und 2 sind nunmehr z. B. maßgewalzte runde Querschnittsformen (Hilfsantrag 1) und z. B. maßgewalzte dreieckige oder sechseckige Querschnittsformen (Hilfsantrag 1 und 2) mitumfaßt, die der Fachmann den ursprünglichen Unterlagen nicht als mögliche Ausgestaltung der Erfindung entnehmen kann (BGH GRUR 2002, 49 - "Drehmomentenübertragungseinrichtung" m. w. Nachw.).

c.) Hilfsanträge 3 und 4 Der nebengeordnete Sachanspruch 6 nach Hilfsantrag 3 und der nebengeordnete Sachanspruch 4 nach Hilfsantrag 4 beansprucht ergänzend zu den Merkmalen nach dem erteilten Anspruch 6 einen viereckigen Querschnitt des Federstahls, der in Breite und Höhe maßgewalzt ist (Hilfsantrag 3 und 4) und in Breite und Höhe bearbeitungslos verpresst ist (Hilfsantrag 4).

Der Gegenstand des Patentanspruchs 6 nach Hilfsantrag 3 und der Gegenstand des Patentanspruchs 4 nach Hilfsantrag 4 mag zwar neu sein; deren Lehre beruht jedoch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit des zuständigen, vorstehend definierten Fachmanns. Denn die o. g. zusätzlichen Merkmale tragen zur Patentfähigkeit gegenüber dem Stand der Technik nach Druckschrift D4 weder allein noch in Kombination mit den übrigen Merkmalen etwas bei.

Ausgehend von dem aus der Druckschrift D4 bekannten Entriegelungswerkzeug mit viereckigem Querschnitt der mit dem Schaft verpressten Entriegelungsstifte z. B. nach Werkzeug-Nr. 94.024, liegt es im Rahmen fachmännischen Handelns, für die Serienfertigung dieser Werkzeuge schon allein aus Kostengründen bei dem Stahlhersteller den Federstahl - der üblicherweise als gewalzter Stahl mit z. B. in 1/10 mm abgestuften Querschnittsabmessungen lieferbar ist - mit viereckigem Querschnitt in den Maßen zu bestellen, wie dies im Endprodukt erforderlich ist, d. h. mit in Breite und Höhe maßgewalzter Bemessung. Denn der Vorteil, dass damit eine aufwendige Nachbearbeitung beim Werkzeughersteller überflüssig wird, liegt auf der Hand. Dabei ist es selbstverständlich, den Federstahl in Breite und Höhe bearbeitungslos zu verpressen, zumal der Entriegelungsstift an seinem verpressten Ende nur eine Haltefunktion zu erfüllen hat. Für derartige alltägliche Überlegungen des Fachmanns, der auch dem geschäftlichen Erfolg verpflichtet ist, bedarf es keines ausdrücklichen Nachweises im Stand der Technik (Mitt. 2002, 278 - "Selbstbedienungs-Chipkartenausgabe").

Das Werkzeug zur Entriegelung von Kabelverbindungen nach Anspruch 6 gemäß Hilfsantrag 3 bzw. nach Anspruch 4 gemäß Hilfsantrag 4 ist daher mangels erfinderischer Tätigkeit nicht patentfähig.

Mit dem jeweiligen nebengeordneten Sachanspruch 6 nach Hilfsantrag 3 bzw. Anspruch 4 nach Hilfsantrag 4 fällt auch der jeweilige Verfahrensanspruch 1 sowie die jeweiligen rückbezogenen Unteransprüche nach Hilfsantrag 3 und 4 (BGH "Elektrisches Speicherheizgerät" a. a. O.).

Bei der dargelegten Sachlage war das Patent zu widerrufen.






BPatG:
Beschluss v. 09.02.2006
Az: 23 W (pat) 319/05


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