Bundespatentgericht:
Beschluss vom 31. Juli 2002
Aktenzeichen: 5 W (pat) 419/01

(BPatG: Beschluss v. 31.07.2002, Az.: 5 W (pat) 419/01)

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluß des Deutschen Patent- und Markenamts - Gebrauchsmusterabteilung I - vom 18. Dezember 2000 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.

Gründe

I Der Antragsgegner ist Inhaber des am 25. September 1993 beim Deutschen Patentamt mit vierzehn Schutzansprüchen angemeldeten Gebrauchsmusters 93 14 558 (Streitgebrauchsmuster) mit der Bezeichnung "Faltkiste", das am 22. September 1994 in die Gebrauchsmusterrolle eingetragen worden ist. Die Schutzdauer ist auf 10 Jahre verlängert.

Der eingetragene Schutzanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:

Faltkiste mit einem Bodenteil (1), einer am Bodenteil (1) angelenkten Rückwand (7), an der die Seitenwände und der Deckel (8) angelenkt sind und einer an den Seitenwänden angelenkten Vorderwand (11), mit geteilt ausgebildeten Seitenwänden, die in das Kisteninnere klappbar sind, die Rückwand (7) gegen das Bodenteil (1) klappbar ist und dabei die Vorderwand (11) gegen den Boden (2) zu liegen kommt und der Deckel gegen die Rückwand klappbar ist, dadurch gekennzeichnet, daß das Bodenteil (1) randseitig einen umlaufenden, senkrecht vom Boden (2) abstehenden Steg (3) aufweist, die Vorderwand (11) eine Länge (L) aufweist, die etwa dem inneren Abstand (S) der Seitenstege (5) entspricht, die an den vertikalen Stirnseiten (12) der Vorderwand (11) angelenkten Seitenwandteile (10) jeweils um eine im Innern der Vorderwand (11) liegende Gelenkachse (14) schwenkbar sind, die jeweils einen Abstand zu den benachbarten vertikalen Stirnseiten (12) der Vorderwand (11) aufweisen, der etwa der halben Materialstärke der Vorderwand (11) entspricht und die Höhe des umlaufenden Stegs (3) etwa der Gesamtmaterialstärke der Vorderwand (11) und zweier Seitenwandteile (9, 10) entspricht.

Wegen des Wortlauts der eingetragenen Schutzansprüche 2 bis 14 wird auf die Registerakte verwiesen.

Die Antragstellerin hat am 12. Mai 1999 Antrag auf Löschung des Gebrauchsmusters in vollem Umfang gestellt. Sie hat zum Stand der Technik die europäische Offenlegungsschrift EP 0 236 652 A1 (L1) genannt und die offenkundige Vorbenutzung einer Faltkiste mit der Bezeichnung "Raubox" gemäß den von ihr eingereichten Anlagen L2 bis L6 geltend gemacht. Sie ist der Auffassung, der Gegenstand des Streitgebrauchsmusters sei demgegenüber nicht schutzfähig.

Der Antragsgegner hat dem Löschungsantrag rechtzeitig widersprochen. Die Schutzfähigkeit werde durch die EP 0 236 652 A1 nicht in Frage gestellt. Die bei der Antragstellerin entwickelte Raubox habe bis zum Anmeldetag nur aus den eingereichten Vorschlagsskizzen bestanden, die nicht alle Merkmale der von dem Antragsgegner angemeldeten Lösung erkennen ließen und im übrigen beliebigen Dritten nicht zugänglich gewesen seien.

Durch Beschluß vom 18. Dezember 2000 hat die Gebrauchsmusterabteilung I des Deutschen Patent- und Markenamts den Löschungsantrag zurückgewiesen.

Gegen diesen Beschluß hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt. Ergänzend hat sie im Beschwerdeverfahren zum Stand der Technik folgende Unterlagen vorgelegt:

- europäische Offenlegungsschrift EP 0 321 840 A1 (L9),

- Prospekt mit Preisliste, gültig ab 1. Juli 1993, für Klappbox-Systeme der LINPAC FRIEDRICH GmbH (L10),

- Prospekt "Die Mehrweglösung" der Nefab GmbH, Stand der Angaben: August 1993 (L11).

Sie ist der Auffassung, der Gegenstand des Streitgebrauchsmusters beruhe auch gegenüber diesem Stand der Technik nicht auf einem erfinderischen Schritt.

Die Antragstellerin beantragtdie Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Löschung des Gebrauchsmusters.

Der Antragsgegner beantragtdie Zurückweisung der Beschwerde.

Er tritt dem Vorbringen der Antragstellerin entgegen.

Wegen Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II Die Beschwerde ist zulässig, in der Sache bleibt sie jedoch ohne Erfolg.

Der Löschungsantrag ist nicht begründet, weil der geltend gemachte Löschungsanspruch aus § 15 Abs 1 Nr 1 GebrMG nicht gegeben ist. Es kann nicht festgestellt werden, daß der Gegenstand des Streitgebrauchsmusters nicht schutzfähig iSv §§ 1, 3 GebrMG ist.

A 1. Das Streitgebrauchsmuster betrifft eine Faltkiste. Sie besteht aus einem Bodenteil, einer Rückwand, einer Vorderwand, zwei Seitenwänden und einem Deckel. Wenn sie nicht zum Transport oder zur Lagerung von Gegenständen eingesetzt wird, kann sie in der Weise zu einer kompakten platzsparenden Einheit zusammengefaltet werden, daß zunächst die vertikal geteilten, an der Vorder- und Rückwand angelenkten Seitenwände in das Kasteninnere geklappt werden, wobei die gelenkig miteinander verbundenen Seitenwandteile gegen die Vorderwand und die am Bodenteil angelenkte Rückwand zu liegen kommen. Sodann wird die Rückwand derart gegen das Bodenteil geklappt, daß die Vorderwand unmittelbar am Boden anliegt. Schließlich wird der Deckel mit seiner Außenseite gegen die Außenseite der Rückwand geklappt. Eine derartige Faltkiste ist bspw aus der europäischen Offenlegungsschrift EP 0 236 652 A1 (Anlage L1) bekannt. Die Beschreibung des Streitgebrauchsmusters gibt dazu an, daß bei nicht sachgemäßer Handhabung der Faltkiste im zusammengeklappten Zustand die einzelnen Teile voneinander wegklappen könnten, insbesondere der Boden von der Vorderwand wegklappe.

2. Durch das Streitgebrauchsmuster soll nach den Angaben in der Beschreibung (S 1 Abs 4) die Handhabung der Faltkiste im zusammengeklappten Zustand erleichtert werden. Auch soll, ohne daß dies in den Unterlagen des Streitgebrauchsmusters erwähnt wird, ein Schutz der Stirnkanten der Vorderwand und der Seitenwände geschaffen werden.

3. Hierzu lehrt Schutzanspruch 1 des Streitgebrauchsmusters in seiner ursprünglich eingereichten, eingetragenen und verteidigten Fassung eine Faltkiste, die - in Anlehnung an die "Merkmalsanalyse" der Antragstellerin - folgende Merkmalsgruppen aufweist:

A Die Faltkiste weist ein Bodenteil auf;

B die Faltkiste weist eine am Bodenteil angelenkte Rückwand auf;

C an der Rückwand sind die Seitenwände und der Deckel angelenkt;

D an den Seitenwänden ist eine Vorderwand angelenkt;

E die Faltkiste weist geteilt ausgebildete Seitenwände auf;

F die Seitenwände sind in das Kisteninnere klappbar;

G die Rückwand ist gegen das Bodenteil klappbar, wobei die Vorderwand gegen den Boden zu liegen kommt;

H der Deckel ist gegen die Rückwand klappbar;

I das Bodenteil weist randseitig einen umlaufenden, senkrecht vom Boden abstehenden Steg auf;

J die Vorderwand weist eine Länge auf, die etwa dem inneren Abstand der Seitenstege entspricht;

K die an den vertikalen Stirnseiten der Vorderwand angelenkten Seitenwandteile sind jeweils um eine im Innern der Vorderwand liegende Gelenkachse schwenkbar;

L die Gelenkachsen weisen zu den benachbarten vertikalen Stirnseiten der Vorderwand jeweils einen Abstand auf, der etwa der halben Materialstärke der Vorderwand entspricht;

M die Höhe des umlaufenden Stegs entspricht etwa der Gesamtmaterialstärke der Vorderwand und zweier Seitenwandteile.

Durch den randseitig umlaufenden Steg (Merkmalsgruppe I) mit einer Höhe entsprechend Merkmal M werden die Stirnseiten der Vorderwand und der Seitenwandteile im zusammengefalteten Zustand der Kiste geschützt. Zugleich kann durch den inneren Abstand der Seitenstege, der etwa der Länge der Vorderwand entspricht (Merkmalsgruppe J), eine reibschlüssige Verbindung zwischen den seitlichen (vertikalen) Stirnseiten der Vorderwand und den zum Kisteninneren weisenden Flächen der Seitenstege erzeugt werden, die ein unbeabsichtigtes Wegklappen des Bodens von der Vorderwand verhindert. Schließlich wird durch die Lage der Gelenkachsen für die Seitenwandteile im Innern der Vorderwand entsprechend den Merkmalsgruppen K und L sichergestellt, daß die seitlichen (vertikalen) Stirnseiten der vorderen Seitenwandteile im zusammengefalteten Zustand nicht über die seitlichen Stirnseiten der Vorderwand vorstehen; zugleich können im aufgestellten Zustand die unteren Stirnflächen der Seitenwandteile auf den nach oben weisenden Stirnflächen der Seitenstege aufliegen und die vorderen vertikalen Stirnflächen der vorderen Seitenwandteile bündig mit der Außenfläche der Vorderwand abschließen (vgl insbes Fig 2 und 4 der Unterlagen des Streitgebrauchsmusters).

4. Zum Verständnis der Lehre des Streitgebrauchsmusters bedarf das in den Merkmalsgruppen J, L und M verwendete Wort "etwa" der Auslegung durch Heranziehung der Zeichnung und Beschreibung unter Berücksichtigung des vorauszusetzenden Wissens und Könnens des hier einschlägigen Fachmanns, eines Diplomingenieurs (FH) für Verpackungstechnik mit mehrjähriger Erfahrung in der Konstruktion, dem Bau und der Verwendung von Faltkisten.

a) Dieser Fachmann erkennt beim Betrachten von Figur 4 und der zugehörigen Beschreibung des Streitgebrauchsmusters ohne weiteres Nachdenken, daß das Wort "etwa" für die Länge der Vorderwand in der Merkmalsgruppe J nicht den umgangssprachlichen Begriffsinhalt von "etwas kürzer" über "genau" bis "etwas größer" haben kann, sondern nur in einem Längenbereich von "etwas kürzer" bis "geringfügig kürzer" zu verstehen ist. Wäre die Länge der Vorderwand nämlich genauso lang wie oder etwas größer als der innere Abstand der Seitenstege, dann ließe sich die unter Schutz gestellte Faltkiste nicht in der bestimmungsgemäßen Weise zusammenfalten, weil eine Vorderwand, die genau gleich lang wie der innere Abstand der Seitenstege oder etwas länger ist, sich nicht beim Zusammenfalten zwischen diese legen kann.

b) Die Angabe in der Merkmalsgruppe L, wonach die im Innern der Vorderwand liegenden Gelenkachsen jeweils zu der benachbarten vertikalen Stirnseite der Vorderwand einen Abstand aufweisen, der "etwa" der halben Materialstärke der Vorderwand entspricht, versteht der Fachmann im Sinne von "geringfügig weniger" bis "geringfügig mehr" mit einer maximal zulässigen Abweichung vom genauen Wert, mit der noch ein einwandfreies Zusammenfalten mit innerhalb des umlaufenden Steges dicht aufeinanderliegenden Wänden möglich ist.

c) Schutzanspruch 1 des Streitgebrauchsmusters enthält keine Angaben zur Länge der Rückwand. Ist sie in einer Länge ausgeführt, die größer als der Abstand zwischen den Seitenstegen ist (vgl zB Fig 3 iVm S 4 Abs 3 Satz 1 der Beschreibung), dann kann der Fachmann das Wort "etwa" in der Merkmalsgruppe M nur so verstehen, daß die Höhe des umlaufenden Stegs genau der Summe der Dicken von Vorderwand und zwei Seitenwandteilen oder etwas weniger betragen muß, weil bei einem etwas höheren Steg der Rand der Rückwand auf dem oberen Rand des Steges aufliegen und dadurch ein dichtes Zusammenfalten der Wände aufeinander verhindern würde. Entspricht hingegen die Länge der Rückwand der Länge der Vorderwand, wie mit Schutzanspruch 2 des Streitgebrauchsmusters gekennzeichnet und in Figur 4 dargestellt, so erkennt der Fachmann ohne weiteres Nachdenken mit einem Blick auf diese Figur, daß die Höhe des umlaufenden Steges in diesem Fall auch etwas mehr als die Summe der Dicken von Vorderwand und zwei Seitenwandteilen betragen kann, weil ein randseitiges Aufliegen der Rückwand auf den Steg nicht auftreten kann. Die Vorteile einer etwas höheren Ausführung des Steges (teilweiser Schutz der Stirnseiten und seitliche Fixierung der Rückwand), die bei gleicher Länge von Vorder- und Rückwand möglich ist, liegen für den Fachmann auf der Hand.

B Zum Stand der Technik, der in das Löschungsverfahren eingeführt worden und bei der Beurteilung der Erfindung hinsichtlich ihrer Schutzfähigkeit zu berücksichtigen ist, ist nicht die Raubox gemäß den eingereichten Anlagen L2 bis L6 zu zählen. Sie kann nicht als offenkundig vorbenutzt bewertet werden.

Wieweit die bei der Antragstellerin gefertigten Zeichnungen L2 bis L6 den vom Antragsgegner unter Schutz gestellten Gegenstand vorwegnehmen, kann dahinstehen. Denn es läßt sich jedenfalls nicht feststellen, daß das Verhalten im Zusammenhang mit der Entwicklung der Raubox und der Umgang mit den Zeichnungen die nicht entfernte Möglichkeit der Kenntniserlangung vor dem Anmeldetag durch beliebige Dritte eröffnet haben.

Die Zeichnungen sind im Verlauf einer Zusammenarbeit zwischen der Antragstellerin und der S... AG entstanden, bei der es nach einem Besuchsbericht der Antragstellerin vom 17. Mai 1993 über eine Besprechung um den Aufbau eines Pool-Systems für Mehrwegverpackungen ging; zunächst sollten zusammen die Anforderungen an ein solches System erarbeitet werden. Als erster Konstruktionsentwurf wurden sodann die Zeichnungen L2 und L3 angefertigt und der S... vorgestellt (Besuchsbericht vom 28. Juni 1993). Der nächste Besuchsbericht vom 19. August 1993 hält als Besprechungsergebnis ua fest, es sei Ziel, "daß R... [die Antragstellerin] eine Faltbox entwickelt und fer- tigt, die patentgeschützt ist"; ferner müsse Ziel sein, "daß S... und R... gemeinsam ein System anbieten und eine Vorreiterrolle spielen".

Hierzu macht die Antragstellerin geltend, die Gespräche mit der Schenker Eurocargo, bei denen die Zeichnungen L2 und L3 (fortentwickelt in den Zeichnungen L5 und L6) vorgestellt worden seien, hätten nicht unter Geheimhaltungsvorbehalt gestanden; keine der beiden Seiten sei davon ausgegangen, daß eine Geheimhaltung stillschweigend vereinbart sei.

Demgegenüber folgert der beschließende Senat aus dem Inhalt der Besuchsberichte, daß beide Seiten ein Geheimhaltungsinteresse hatten. Darüber hinaus konnte von der berechtigten Erwartung ausgegangen werden, daß die S... ... als Empfänger der Informationen die Vertraulichkeit wahren würde. Dies lag in der Zielrichtung der gemeinsamen Entwicklungstätigkeit, wie sie den Besuchsberichten zu entnehmen ist, nämlich gemeinsam ein Verpackungssystem einzurichten und eine Vorreiterrolle zu spielen. Je länger den Wettbewerbern die Kenntnis von den gemeinsamen Entwicklungsergebnissen vorenthalten werden konnte, desto vorteilhafter war es ersichtlich für die Erreichung der unternehmerischen Zielsetzung.

Dem Einwand der Antragstellerin, die Angaben in dem Besuchsbericht vom 19. August 1993 gäben nur den einseitigen Wunsch der Berichtsverfasser von der Firma R... wieder, folgt der Senat nicht. Die gesamten Umstände lassen die dort notierten Zielsetzungen als gemeinsame unternehmensstrategische Ausrichtung nur folgerichtig erscheinen. So wurde in den Gesprächen auch anderweitig das Bemühen deutlich, sich bei der Systementwicklung von Wettbewerbern, u.a. einem der "schärfsten Konkurrenten", der näher bezeichnet wurde (Besuchsbericht vom 28. Juni 1993) abzugrenzen. Dies findet im nachhinein seine Bestätigung in der gefundenen Einigung bezüglich des Vertriebs der Boxen auf "Exklusivität für Schenker für [zunächst] 1 Jahr" (Bericht vom 18. Oktober 1993).

In diese Wertung fügt sich auch der Geheimhaltungsvermerk, der auf den Zeichnungen L2 bis L6 aufgebracht ist. Er lautet: "Weitergabe sowie Vervielfältigung dieser Unterlage, Verwertung und Mitteilung ihres Inhalts ist nicht gestattet, soweit nicht ausdrücklich zugestanden. Zuwiderhandlungen verpflichten zum Schadensersatz. Alle Rechte für den Fall der Patenterteilung oder Gebrauchsmuster-Eintragung sind vorbehalten."

Der hier gemachte Vorbehalt einer Schutzrechtsanmeldung zugunsten der Antragstellerin und die Zielvorstellung eines Patentschutzes im Besuchsbericht vom 19. August 1993 bestätigen eine entsprechende Grundeinstellung der Gesprächspartner bei der Entwicklungszusammenarbeit. Ein ausdrückliches Zugestehen der Weitergabe der Informationen, wie in dem Geheimhaltungsvermerk erwähnt, ist nicht erfolgt, was in der mündlichen Verhandlung von der Antragstellerin auch eingeräumt worden ist.

Angesichts dieser feststellbaren Hinweise auf eine berechtigte Erwartung der Vertraulichkeit als Grundlage bei der Vorstellung und Diskussion der Zeichnungen L2 bis L6 war dem Beweisantritt der Antragstellerin durch Benennung der Zeugen Vogler und Gieck nicht nachzugehen. Daß sie, wie die Antragstellerin insoweit behauptet, als Gesprächsteilnehmer davon ausgegangen sind, die Gespräche stünden nicht unter einem Geheimhaltungsvorbehalt, kann als ihre (der Zeugen) persönliche - unberechtigte - Einschätzung als wahr unterstellt werden. Sie muß nicht die Einschätzung der übrigen Gesprächsteilnehmer (im Besuchsbericht vom 19. August 1993 sind für die betreffende Besprechung zwölf Teilnehmer erwähnt) wiedergeben. Sie wird vom Senat überdies nicht als so gewichtig angesehen, daß damit die durch die Gesamtumstände objektiv begründete berechtigte Erwartung der Vertraulichkeit entfiele.

Wenn beide als Zeugen benannten Gesprächsteilnehmer aufgrund ihrer Fehleinschätzung, daß nicht von der Vertraulichkeit der Gespräche auszugehen sei, die erlangten Kenntnisse über die Zeichnungen an beliebige Dritte weitergegeben hätten, wäre deren Offenkundigkeit zu bejahen; eine solche Weitergabe ist aber nicht ersichtlich.

Die Behauptung der Antragstellerin, der Antragsgegner habe als Einsprechender gegen ihr europäisches Patent 0 684 185 die Offenkundigkeit der Vorbenutzung ihrer Raubox eingeräumt, ist im Hinblick auf den Schriftsatz der Vertreter des Antragsgegners vor dem Europäischen Patentamt vom 27. Januar 2000 (Bl 179 VA-Lö) als widerlegt anzusehen.

C 1. Die offensichtlich gewerblich anwendbare Faltkiste gemäß Schutzanspruch 1 ist gegenüber dem von der Antragstellerin genannten druckschriftlichen Stand der Technik unstreitig neu.

a) Von der Faltkiste nach der EP 0 236 652 A1 (L1), von der das Streitgebrauchsmuster im Oberbegriff des Schutzanspruchs 1 ausgeht, unterscheidet es sich durch sämtliche Merkmale des Kennzeichens.

b) Von den Gegenständen, die in den von der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren genannten Schriften (Anlagen L9 bis L11) gezeigt und beschrieben sind, unterscheidet sich die Faltkiste nach Anspruch 1 des Streitgebrauchsmusters zumindest durch die Höhe ihres umlaufenden Steges (Merkmal M).

2. Es kann nicht festgestellt werden, daß die Faltkiste gemäß dem Schutzanspruch 1 nicht auf einem erfinderischen Schritt iSv § 1 Abs 1 GebrMG beruht.

a) Die EP 0 236 652 A1 (L1), von der das Streitgebrauchsmuster in der Beschreibungseinleitung und im Oberbegriff des Schutzanspruchs 1 ausgeht, bildet den nächstkommenden Stand der Technik. Eine Anregung, die aus dieser Schrift bekannte Faltkiste entsprechend der Lehre des Streitgebrauchsmusters auszugestalten, enthält diese Schrift ersichtlich nicht. Gegenteiliges hat auch die Antragstellerin nicht vorgetragen.

b) Die EP 0 321 840 A1 (L9) zeigt und beschreibt eine Faltkiste, die aus einem Bodenteil (1), einem Deckelteil (3), einer Vorderwand (2), einer Rückwand (2'), zwei geteilt ausgebildeten Seitenwänden (2, 2') und zwei Stegen (5, 6) besteht, von denen der eine (6) sich über drei Seitenkanten des Deckels und der andere (5) sich über drei Seitenkanten des Bodens erstreckt und senkrecht von diesem absteht. Die Höhe der Stege entspricht der Summe der Materialstärken von Vorderwand oder Rückwand und einem Seitenwandteil. Beim Zusammenfalten werden die geteilt ausgebildeten Seitenwände so in das Kisteninnere geklappt, daß Vorderwand, Seitenwände und Rückwand dicht aneinanderliegen. Dann werden der am unteren Ende der Vorderwand angelenkte Boden (1) um die Rillung (9') auf die Rückwand (2') und der am oberen Ende der Rückwand angelenkte Deckel (3) um die Rillung (10') auf die Vorderwand (2) gefaltet. Danach sind die Vorderwand, die Seitenwände und die Rückwand zwischen dem Boden (1) und dem Deckel (3) mit ihren randseitigen Stegen aufgenommen.

Diese Schrift konnte den Fachmann bezüglich der mit dem Streitgebrauchsmuster beanspruchten Lehre allenfalls anregen, das Bodenteil entlang dreier Ränder mit einem senkrecht vom Boden abstehenden Steg zu versehen und die Vorderwand in einer Länge auszubilden, die etwa dem inneren Abstand der Seitenstege entspricht. Eine sich möglicherweise anbietende Übertragung dieser Maßnahmen aus der Schrift L9 auf die Faltkiste nach der Schrift L1 führt zu einer Faltkiste, bei der neben den Merkmalen des Oberbegriffs von Anspruch 1 des Streitgebrauchsmusters lediglich die Merkmalsgruppen J und teilweise I verwirklicht sind. Denn eine Anregung, den Steg umlaufend in einer Höhe auszubilden, die der Summe der Materialstärken der Vorderwand und zweier Seitenwandteile entspricht, enthält diese Schrift L9 ebensowenig wie eine Anregung, die Gelenkachsen für die Seitenwandteile im Innern der Vorderwand nach Maßgabe der Merkmalsgruppen K und L anzuordnen.

c) Der Antragsgegner hat bestritten, daß die von der Antragstellerin vorgelegten Prospekte der LINPAC FRIEDRICH GmbH (L10) und der Nefab GmbH (L11) vor dem Anmeldetag des Streitgebrauchsmusters der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob sie als Stand der Technik zu werten sind. Selbst dann, wenn man ihre Vorveröffentlichung unterstellen würde, wären sie nicht geeignet gewesen, dem Fachmann einen Hinweis auf die Lehre nach Schutzanspruch 1 des Streitgebrauchsmusters zu geben.

c1) Der LINPAC-Prospekt (L 10) beschreibt auf den Seiten 24 bis 26 eine als Boxer-Pac bezeichnete Verpackungseinheit. Sie wird aus drei Einzelteilen gebildet, nämlich zwei als Deckel oder Boden verwendbaren Spritzgußteilen mit umlaufenden Rand und einem Faltkarton. Letzterer weist eine Vorderwand, eine Rückwand und zwei geteilt ausgebildete Seitenwände auf, die nach innen klappbar sind. Der umlaufende Rand der Spritzgußteile ist ersichtlich derart hoch ausgebildet, daß mehrere zusammengeklappte Faltkartons in das Bodenteil gelegt werden können, das dann mittels des Deckels verschließ- und verriegelbar ist. Der Senat hat bereits erhebliche Bedenken, ob der Fachmann diese Verpackungseinheit bei seiner Suche nach Lösungen berücksichtigen würde, weil ihre Aufstellung erheblich umständlicher ist als die der Faltkiste nach der Schrift L1. Aber selbst wenn man dies unterstellt, dann könnte auch diese Verpackungseinheit den Fachmann allenfalls lehren, die Faltkiste nach der Schrift L1 mit baulichen Maßnahmen entsprechend den Merkmalsgruppen I und J der vorstehenden Anspruchsgliederung auszugestalten. Einen Hinweis auf die Maßnahmen nach den Merkmalsgruppen K, L und M kann er indes auch dieser Verpackungseinheit nicht entnehmen.

c2) Gleiches gilt für die in dem Nefab-Prospekt (L11) gezeigten und beschriebenen "Mehrweg-Faltkontainer" vom Typ T und L. Sie bestehen aus einem Boden mit einem randseitig umlaufenden, senkrecht davon abstehenden Steg. Auf den Boden wird innerhalb des umlaufenden Steges für Transportzwecke ein als "Rahmen" bezeichnetes Bauteil gestellt, das aus einer Vorderwand, einer Rückwand und zwei geteilt ausgebildeten Seitenwänden besteht, die zum Zusammenfalten des Rahmens in das Innere klappbar sind. Der zusammengefaltete Rahmen kann, sofern seine Höhe geringer als die Länge der Seitenstege ist, auf den Boden innerhalb des umlaufenden Steges gelegt und mit einem Deckel abgedeckt werden. Weitere Gemeinsamkeiten mit dem Gegenstand des Streitgebrauchsmusters bestehen nicht. Der Fachmann hätte daher auch in dieser Schrift keine Anregungen gefunden, die Faltkiste nach der Schrift L1 mit baulichen Maßnahmen entsprechend den Merkmalsgruppen K, L und M des Streitgebrauchsmusters zu versehen.

c3) Auf den Seiten 27 und 28 des LINPAC-Prospekts (L10) wird ein Palettenrahmen gezeigt und beschrieben, der aus einer Vorderwand, einer Rückwand und zwei geteilt ausgebildeten, nach innen klappbaren Seitenwänden besteht. Die Gelenkachsen für die Seitenwandteile sind an der Vorder- und Rückwand in gleicher Weise angeordnet wie bei der Faltkiste nach dem Streitgebrauchsmuster (Merkmalsgruppen K und L). Ein zusammengefalteter Palettenrahmen kann also zwischen die Seitenwände eines aufgestellten Palettenrahmens gestellt werden (wie die Figur rechts unten auf Seite 28 von L10 zeigt). Der Senat verkennt nicht, daß eine Ausgestaltung der Boxer-Pac aus L10 in der Form eines Ersatzes des Faltkartons durch diesen Palettenrahmen unter Beibehaltung der äußeren Abmessungen des Faltkartons bei gleichzeitiger Anlenkung von Deckelteil und Bodenteil (wie in Anlage L1 gezeigt) an der Rückwand des Palettenrahmens der Faltkiste dem Streitgebrauchsmuster sehr nahe käme; diese mosaikartige Betrachtungsweise dreier Gegenstände wertet der Senat ab als eine die Kenntnis der Faltkiste nach dem Streitgebrauchsmuster voraussetzende rückblickende Sicht. Sie vermag den Schluß nicht zu begründen, daß der unter Schutz gestellte Lösungsvorschlag auf einer Leistung beruht, die fachmännische Routine nicht übersteigt.

D Die Schutzansprüche 2 bis 14 des Streitgebrauchsmusters betreffen vorteilhafte Ausgestaltungen der Faltkiste nach dem Hauptanspruch, sie haben daher ebenfalls Bestand.

III Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 18 Abs 2 GebrMG iVm § 84 Abs 2 PatG, § 97 ZPO. Die Billigkeit fordert keine andere Entscheidung.

Goebel Dr. Barton Ihsen Fa






BPatG:
Beschluss v. 31.07.2002
Az: 5 W (pat) 419/01


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/777646ea5859/BPatG_Beschluss_vom_31-Juli-2002_Az_5-W-pat-419-01




Diese Seite teilen (soziale Medien):

LinkedIn+ Social Share Twitter Social Share Facebook Social Share