Sozialgericht Berlin:
Urteil vom 21. November 2012
Aktenzeichen: S 208 KR 99/11

(SG Berlin: Urteil v. 21.11.2012, Az.: S 208 KR 99/11)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Das Sozialgericht Berlin hat in einem Urteil entschieden, dass das Arzneimittel "P€ 75 mg Filmtabletten" und "P€ 300 mg Filmtabletten" nicht der Generikaabschlagspflicht unterliegen, solange das ergänzende Schutzzertifikat DE € wirksam ist. Die Klägerin hatte geklagt, da sie der Meinung war, dass das Arzneimittel nicht patentfrei sei und somit nicht der Generikaabschlagspflicht unterliege. Der Beklagte dagegen war der Ansicht, dass das Arzneimittel sehr wohl der Generikaabschlagspflicht unterliege. Das Gericht legte den Patenbegriff weit aus und entschied, dass das bestehende Schutzzertifikat eine patentfreie Verwendung des Arzneimittels ausschließe. Die Auslegung des Begriffs "patentfrei" sei nicht eindeutig, daher könne die Generikaabschlagspflicht nicht aufgrund einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage begründet werden. Das Gericht folgte somit der Argumentation der Klägerin und entschied zugunsten der Klägerin. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

SG Berlin: Urteil v. 21.11.2012, Az: S 208 KR 99/11


Tenor

Es wird festgestellt, dass die Arzneimittel P€ 75 mg Filmtabletten und P€ 300 mg Filmtabletten in ihren jeweiligen Handelsformen nicht der Generikaabschlagspflicht nach § 130a Abs. 3b S. 1 SGB V unterfallen, solange das ergänzende Schutzzertifikat DE € wirksam ist.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Arzneimittel P€ (P€ 75 mg Filmtabletten und P€ 300 mg Filmtabletten, im Folgenden zusammenfassend: P€) der Generikaabschlagspflicht nach § 130a Abs. 3b Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) unterliegen.

Das streitbefangene Arzneimittel P€ enthält ausweislich der Fachinformation €Clopidogrel (als Hydrogensulfat)€ und ist am 15. Juli 1998 zur Prävention atherothrombotischer Ereignisse bei Patienten mit Herzinfarkt und bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom zugelassen. Inhaber der arzneimittelrechtlichen Zulassung ist jeweils die Firma S€ Pharma B€-M€ S€ in Frankreich. Inhaber der Vertriebsrechte für Deutschland ist allein die Klägerin. Sie bringt P€ eigenverantwortlich und auf eigene Rechnung in den Verkehr und führt auch den Herstellerabschlag nach § 130a Abs. 1 SGB V ab.

Für P€ bestand ein europäisches Patent EP €. Der deutsche Teil des Patents ist unter dem Aktenzeichen DE € veröffentlicht worden. Der durch diese Patente geschützte Patentanspruch lautet wie folgt: €Rechtsdrehendes Enantiomer von alpha- (4,5,6,7 € tetrahydrothieno 3,2-cpyrid-5-yl) (2-chlorphenyl)methylacetat, Verfahren zu seiner Herstellung und dieses enthaltende pharmazeutische Zubereitungen€. Die maximale Patentlaufzeit von 20 Jahren ist zum 16. Februar 2008 abgelaufen. Der Konzern, dem die Klägerin angehört, erhielt jedoch ein ergänzendes Schutzzertifikat nach § 16a Patentgesetz (PatG), durch welches der Patentschutz über den 16. Februar 2008 hinaus bis zum 16. Februar 2013 verlängert wurde. Wie dem Registerauszug vom 15. November 2012 zu entnehmen ist (Az. €), wurde das Schutzzertifikat in Folge weiter bis zum 16. August 2013 verlängert. Als Grundpatent ist in diesem Auszug der o.g. Patentspruch genannt; das Erzeugnis wird als €Clopidogrelhydrogensulfat€ bezeichnet.

Trotz des Patentschutzes für P€ sind zwischenzeitlich weitere Clopidogrel-Präparate auf dem Markt. Im Juli 2009 wurde beispielsweise €Clopidogrel ratiopharm GmbH 75 mg Filmtabletten€ zugelassen. Dieses Arzneimittel enthält ausweislich der Fachinformation €Clopidogrel (als Besilat)€. Die Zulassung dieses und weiterer Arzneimittel (u.a. Clopidogrel-CT 75 mg Filmtabletten) erfolgte nach § 24b Abs. 2 Arzneimittelgesetz (AMG) durch Bezugnahme auf das Referenzarzneimittel P€. Bei Besilat handelt es sich, ebenso wie bei Hydrogensulfat, um ein Salz.

Nachdem die Regelung des Generikaabschlages nach § 130a Abs. 3b SGB V am 1. Mai 2006 in Kraft trat, überprüfte der Beklagte alle Angaben zur Abschlagsfreiheit und forderte alle Unternehmen, deren Auffassung zur Einstufung ihrer Präparate nicht geteilt wurde, zu einer Stellungnahme auf. Über das entsprechende Vorgehen wurden die Unternehmen in einem die Verbandsgespräche vom 8. Dezember 2008 zusammenfassenden Schreiben des Beklagten informiert. Wörtlich heißt es in Ziff. 2.4 des Schreibens: €Soweit der Anbieter an der Abschlagsbefreiung festhält, wird der GKV-Spitzenverband die Begründung an Hand der eingereichten Unterlagen prüfen. a) Ist die Begründung des Anbieters für die Abschlagsbefreiung nachvollziehbar und zutreffend, wird das betreffende Produkt, ggf. mit Befristungsvermerk, von der Prüfliste gestrichen. Der Anbieter erhält eine Erledigungsnachricht. b) Steht die Begründung des Anbieters nicht mit dem Leitfaden im Einklang, erhält der Anbieter eine entsprechende Nachricht. Der GKV-Spitzenverband ist auch in diesen Fällen gehalten, den Krankenkassen zur Anspruchswahrung eine Retaxierung der betroffenen Verordnungen gegenüber den Apotheken zu empfehlen.€ Im Rahmen dieses vom Beklagten durchzuführenden Prüfverfahrens wurde auch die Klägerin mit dem Arzneimittel P€ aufgerufen. Mit Schreiben vom 14. November 2008 und 19. März 2009 berief sich die Klägerin auf den bestehenden Patentschutz für P. Mit Schreiben vom 8. Februar 2010 bezog der Beklagte die Klägerin wegen des Arzneimittels P€ dennoch in das Fehlerkontrollverfahren ein. Begründet wurde dies unter Bezugnahme auf den Leitfaden wie folgt: €Die dem GKV-Spitzenverband vorliegende Patentschrift Nr. € vom 16.02.1988 betrifft nicht das Grundpatent €Clopidogrel€, sondern das Synthesepatent für €Clopidogrel-Hydrogensulfat€. In der Folge verfasste der Beklagte ein Rundschreiben vom 20. Mai 2010 an alle Krankenkassen. In diesem Rundschreiben war eine Liste derjenigen pharmazeutischen Unternehmer und Präparate beigefügt, die nach Auffassung des Beklagten nach wie vor zu Unrecht ein Schutzkennzeichnen in Anspruch nahmen. Auch P€ wurde in der Liste aufgeführt. Nach einem weiteren Schriftwechsel zwischen den Beteiligten teilte der Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 15. Juni 2010 mit, bei der vertretenen Rechtsauffassung bezüglich P€ zu bleiben.

Am 2. August 2010 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, aufgrund des bestehenden Patentschutzes für P€ diesbezüglich nicht der Generikaabschlagspflicht zu unterfallen. § 130a Abs. 3b SGB V spreche deutlich von €patenfreien, wirkstoffgleichen Arzneimitteln€. P€ sei jedoch nicht patentfrei. Aus dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes gehe hervor, dass mit dem Begriff €patenfrei€ nicht nur €wirkstoffpatenfrei€ gemeint sei. Der Vergleich mit § 35 Abs. 1 SGB V lasse nur den Schluss zu, dass der Patentbegriff in § 130a Abs. 3 SGB V weiter gefasst sein sollte als der in § 35 Abs. 1 SGB V. In § 35 Abs. 1 SGB V sei von €patentgeschützten Wirkstoffen€ die Rede. Für ein weites Verständnis des Erfordernisses €patentfrei€ sei weiter anzuführen, dass § 130a Abs. 3b SGB V von patentfreien €Arzneimitteln€ spreche, § 35 Abs. 1 SGB V hingegen von €Wirkstoffen€. Entsprechend sollten in § 130a Abs. 3b SGB V nicht nur die wirkstoffbezogen, sondern insgesamt die arzneimittelbezogenen Patente Berücksichtigung finden. Der Verweis des Beklagte auf die Gesetzesbegründung zu § 130a Abs. 3b SGB V überzeuge nicht. Daraus gehe lediglich hervor, dass Arzneimittel der Festbetragsgruppen nach § 35 SGB V €in der Regel€ der Abschlagspflicht unterfallen. Der Verweis in der Gesetzesbegründung beziehe sich sehr allgemein auf § 35 Abs. 1 SGB V. Dort seien aber unterschiedliche Gruppen gebildet (Arzneimitteln mit demselben Wirkstoff, aber auch mit vergleichbaren Wirkstoffen). Letztere sollten mit Sicherheit nicht der Abschlagspflicht unterfallen. Es bestünde deshalb keine direkte Abhängigkeit zwischen Festbetrag und Generikaabschlagspflicht. Die Generikaabschlagspflicht stelle einen Eingriff in die Berufsfreiheit der Klägerin dar. Es sei deshalb eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich, die vorliegend jedoch nicht gegeben sei. Weder der Rahmenvertrag nach § 129 SGB V noch der Leitfaden des Beklagten sei für die Klägerin verbindlich. Der Beklagte werde durch § 130a Abs. 3 S. 4 SGB V unter Verweis auf § 130a Abs. 3a S. 8 (heutige Fassung: S. 10) letztlich nur hinsichtlich des Abrechnungsverfahrens ermächtigt, das Nähere zu regeln. Ungeachtet der Verbindlichkeit für die Beklagte seien die im Rahmenvertrag und dem Leitfaden getroffene Regelung, dass es bei der Beurteilung, ob Patenfreiheit i.S.d. § 130a Abs. 3b SGB V auf die Wirkstoffpatenfreiheit ankomme, nicht von der gesetzlichen Ermächtigung erfasst. Bezüglich des in der Gesetzesbegründung erwähnten generikafähigen Marktes sei anzumerken, dass das Ende eines Wirkstoffpatentes vor dem Hintergrund beispielsweise des arzneimittelrechtlichen Unterlagenschutzes nicht zwingend der Beginn des generikafähigen Marktes bedeute. Doch auch wenn man davon ausgehe, dass von dem Begriff €patenfrei€ nur wirkstoffpatenfreie Arzneimittel umfasst seien, so ergebe sich daraus dennoch keine Abschlagspflicht bezüglich P€. Das bestehende Patent schütze nämlich den Wirkstoff Clopidogrelhydrogensulfat. Mit diesem Wirkstoff gebe es auch kein weiteres Präparat auf dem Markt.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass die Arzneimittel P€ 75 mg Filmtabletten und P€ 300 mg Filmtabletten in ihren jeweiligen Handelsformen nicht der Generikaabschlagspflicht nach § 130a Abs. 3b S. 1 SGB V unterfallen, solange das ergänzende Schutzzertifikat DE € wirksam ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, die Klägerin unterfalle hinsichtlich des Arzneimittels P€ der Generikaaschlagspflicht. Die Gesetzesbegründung zu § 130a Abs. 3b SGB V verdeutliche, dass der Gesetzgeber entgegen der Annahme der Klägerin den Patentbegriff in § 130a Abs. 3b SGB V nicht weiter fassen wollte, als in § 35 Abs. 1 SGB V. Es sei zwar zutreffend, dass die Wortwahl in den Vorschriften unterschiedlich ist. Dass es dem Gesetzgeber aber trotz dieser unterschiedlichen Wortwahl auch im Anwendungsbereich des § 130a Abs. 3b SGB V hinsichtlich des Patentschutzes nur auf die Abgrenzung von Arzneimitteln mit patentgeschützten Wirkstoffen und solchen mit patentfreien Wirkstoffen ankomme, zeige sich aber dadurch, dass die dem Abschlag unterfallenden Arzneimittel in der Gesetzesbegründung unter anderem mit den Worten: €In der Regel sind dies die patentfreien Arzneimittel in den Festbetragsgruppen nach § 35€ bezeichnet würden. Im Zusammenhang mit den Festbetragsgruppen nach § 35 SGB V könnten mit der Bezeichnung patentfreien Arzneimittel auch unstreitig nur Arzneimittel mit patentfreien Wirkstoffen gemeint sein. Der Leitfaden entfalte auch für die Klägerin Verbindlichkeit. Die Verweise nach denen der Beklagte berechtigt sei, das Nähere zu regeln, bezögen sich nicht nur auf das Abrechnungsverfahren. Die Verbindlichkeit des Leitfadens ergebe sich zudem aus der Gesetzesbegründung, wonach die Spitzenverbände der Krankenkassen im Rahmen ihrer Befugnis, das Nähere zu regeln, auch weitere patentfreie wirkstoffgleiche Arzneimittel ohne Festbetrag benennen können, für welche der Abschlag gilt. Die Auslegung des Begriffs €patentfrei€ durch den Beklagten entspreche der Gesetzesbegründung auch insoweit, als dort mehrfach die Formulierung €Arzneimittel in generikafähigem Markt€ verwendet werde. Auch dies weise darauf hin, dass nur ein Wirkstoffspatent zu einer Abschlagsbefreiung führen könne. Denn unter dem Begriff Generika würden Arzneimittel verstanden, die patentfreie Wirkstoffe enthalten und zumindest unter der wissenschaftlichen Bezeichnung des Wirkstoffes in den Verkehr gebracht werden. Das Entstehen eines generikafähigen Marktes sei also nur zu verhindern, solange der Patentinhaber Generikaherstellern untersagen könne, aufgrund der Laufzeit des Patents oder des ergänzenden Schutzzertifikats den patentierten Wirkstoff zur Herstellung von Nachahmerprodukten zu benutzen. Im Fall von P€ habe das Patent gerade nicht die Entstehung eines generikafähigen Marktes verhindern können. Wirkstoff des Arzneimittels und der weiteren Clopidogrel-Arzneimittel sei Clopidogrel. Diesbezüglich bestehe kein Patentschutz. Mit Clopidogrel ratiopharm GmbH 75 mg Filmtabletten sei ein weiteres zu P€ wirkstoffgleiches Arzneimittel auf dem Markt.

Mit Verweisungsbeschluss vom 3. Januar 2011 hat sich das Sozialgericht Frankfurt für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin verwiesen.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.

Gründe

Die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist zulässig. Das Begehren der Klägerin ist unter § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG (Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses) zu fassen. Die Frage, ob P€ dem Generikaabschlag nach § 130a Abs. 3b SGB V unterliegt, ist als öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis zu qualifizieren. Zwar erfolgt die Abrechnung des Generikaabschlages nach § 130a Abs. 3b SGB V primär zwischen den Krankenkassen und den Apotheken und nachgelagert im Verhältnis zwischen Apotheken und den pharmazeutischen Unternehmen. Dem Beklagten kommt jedoch bei der Einstufung der Arzneimittel als der Generikapflicht unterfallend eine entscheidende Bedeutung zu. Die maßgeblichen Vorfragen der Generikaabschlagpflicht werden durch den Beklagten geregelt. Dies zeigt sich nicht zuletzt in dem im Schreiben vom 8. Dezember 2008 dargelegten Verfahren des Beklagten hinsichtlich der Fehlerkontrolle, in welches das Arzneimittel P€ mit einbezogen wurde. Die dem Beklagten nach § 130 Abs. 3b S. 4 i.V.m. § 130a Abs. 3 S. 8 (aktuelle Fassung: S. 10) SGB V eingeräumte Befugnis, das Nähere hinsichtlich der Abschlagpflicht zu regeln, spricht weiter für das Bestehen eines Rechtsverhältnisses zwischen den Beteiligten. Der Beklagte nimmt in seinem Leitfaden eine Regelung vor, die sich unmittelbar auf die Klägerin auswirkt. Die Klägerin muss vor dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 Grundgesetz (GG) die Möglichkeit haben, in den Fällen, in denen sie durch untergesetzliche Normen in ihren Belangen betroffen ist, dagegen vorgehen zu können (vgl. u.a. BSG, Urteil v. 31.05.2006, Az. B 6 KA 13/05 R, zit. nach juris).

Die Klage ist auch begründet. Die Arzneimittel P€ 75 mg Filmtabletten und P€ 300 mg Filmtabletten in ihren jeweiligen Handelsformen unterfallen nicht der Generikaabschlagspflicht nach § 130a Abs. 3b S. 1 SGB V, solange das ergänzende Schutzzertifikat DE € wirksam ist.

Nach § 130a Abs. 3b S. 1 SGB V erhalten die Krankenkassen ab dem 1. April 2006 für patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel einen Abschlag von 10 vom Hundert des Abgabenpreises des pharmazeutischen Unternehmens ohne Mehrwertsteuer (sog. Generikaabschlag).

Nach Auffassung der Kammer ist der Patenbegriff, der dem Begriff €patenfrei€ zugrunde liegt, weit auszulegen. Das bestehende Patent für P€ in Form des Schutzzertifikats führt dazu, dass P€ nicht als patenfrei i.S.d. § 130a Abs. 3b SGB V anzusehen ist. Für die Auffassung des Beklagten, dass sich der Patentbegriff in § 130a Abs. 3b SGB V nur auf sog. €Wirkstoffpatente€ bezieht und im vorliegenden Fall nur €Clopidogrel€ und nicht €Clopidogrelhydrogensulfat€ als Wirkstoff von P€ anzusehen, lassen sich zwar gewichtige Argumente anführen. Es spricht jedoch letztlich mehr dafür, eine eng am tatsächlichen Wortlaut orientierte Auslegung vorzunehmen.

Dabei kann der zwischen den Beteiligten bestehende Streit, ob der €Leitfaden zur Definition des Generikaabschlages nach § 130a Abs. 3b SGB V€ (im Folgenden: Leitfaden) des Beklagten auch für die Klägerin verbindlich ist, hier dahinstehen. Denn auch ein für die Beteiligten verbindlicher Leitfaden kann nur im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung Regelungen vornehmen. Ungeachtet dessen, spricht vor dem Hintergrund der Gesetzesbegründung (BT-Druck. 16/194, S. 10) Vieles für eine Verbindlichkeit des Leitfadens. In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich: €Die Spitzenverbände der Krankenkassen können im Rahmen ihrer Befugnis, das Nähere zu regeln, auch weitere patentfreie wirkstoffgleiche Arzneimittel ohne Festbetrag benennen, für welche der Abschlag gilt€. Schon daraus lässt sich schon ableiten, dass sich die Regelungsbefugnis des Beklagten nicht ausschließlich auf das Abrechnungsverfahren beschränkt. In § 130a Abs. 3b S. 4 wird auf Abs. 3a S. 5 bis 8 (aktuelle Fassung: S. 7 bis 10) verwiesen. Dieser Verweis bezieht sich nicht nur auf das Abrechnungsverfahren. Die konkrete Abrechnung des Abschlags ist nur in Abs. 3a S. 6 (aktuelle Fassung: S. 8) geregelt. Die weiteren Verweisungen, insbesondere die über S. 7 (Aktuelle Fassung: S. 9) zu erfolgende Anwendung des Abs. 4, durch welchen das BMG ermächtigt wird, Abschläge unter bestimmten Voraussetzungen aufzuheben oder zu verringern, machen ebenfalls deutlich, dass dem Beklagten hier eine über Abrechnungsfragen hinausgehende Regelungsbefugnis eingeräumt wurde. Die Regelungsbefugnis besteht jedoch nur im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Der Beklagte ist nicht berechtigt, in seinem Leitfaden über die nach dem Gesetz der Generikaabschlagspflicht unterfallenden Arzneimittel hinaus weitere Arzneimittel der Abschlagspflicht zu unterwerfen. Auch die Gesetzesbegründung spricht insoweit nur davon, weitere patentfreie wirkstoffgleiche Arzneimittel €zu benennen€, also neben den Arzneimitteln der Festbetragsgruppen weitere Arzneimittel aufzuführen, die ebenfalls patentfrei und wirkstoffgleich sind. Der Leitfaden des Beklagten geht jedoch darüber hinaus, indem er unter B (Kriterien zur Abschlagspflicht) folgende Regelung trifft: €Für die Patente ist ausschließlich das Wirkstoffpatent relevant. Nur ein Wirkstoffpatent führt zur Abschlagsbefreiung. Formulierungs-, Verfahrens-, Verwendungs- und andere Patente sind in diesem Zusammenhang unbeachtlich. Grundpatente und ergänzende Schutzzertifikate erfassen im Regelfall alle Erzeugnisformen des Wirkstoffes und nicht nur ein spezifisches Derivat. Daher sind nach Ablauf des Wirkstoffpatents bzw. des ergänzenden Schutzzertifikats im Regelfall auch alle verschiedenen Erzeugnisformen wie Salze oder Esther eines bestimmten Wirkstoffs patentfrei€. Die Gleichsetzung des Begriffs €patenfrei€ mit €wirkstoffpatentfrei€ geht jedoch über den Gesetzeswortlaut hinaus. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Norm auch nicht dahingehend auszulegen.

§ 130a Abs. 3b SGB V definiert den Patentbegriff nicht. Dem SGB V lässt sich jedoch entnehmen, dass der Gesetzgeber zwischen €patentfreien Arzneimitteln€ (§ 130a Abs. 3b SGB V) und €patentgeschützten Wirkstoffen€ (§ 35 Abs. 1 SGB V) differenziert. Diese unterschiedliche Wortwahl innerhalb des SGB V lässt darauf schließen, dass der Patenbegriff in § 130a Abs. 3b SGB V weiter gefasst sein sollte, als der in § 35 Abs. 1 SGB V. Für ein weites Verständnis des Erfordernisses €patentfrei€ spricht nach zutreffender Auffassung der Klägerin auch, dass in § 130a Abs. 3b SGB V von patentfreien €Arzneimitteln€ die Rede ist, in § 35 Abs. 1 SGB V hingegen von €Wirkstoffen€. Diese differenzierende Wortwahl weist darauf hin, dass nicht nur die wirkstoffbezogen, sondern insgesamt die arzneimittelbezogenen Patente Berücksichtigung im Bezug auf § 130a Abs. 3b SGB V finden sollten.

Dieser Auslegung steht die Gesetzesbegründung nicht entgegen. Zwar weist der Beklagte zutreffend darauf hin, dass in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Druck. 16/194, S. 10) Folgendes ausführt ist: €In der Regel sind dies die patentfreien Arzneimittel in den Festbetragsgruppen nach § 35€. Dies kann man so interpretieren, dass es dem Gesetzgeber trotz der unterschiedlichen Wortwahl auch im Anwendungsbereich des § 130a Abs. 3b SGB V hinsichtlich des Patentschutzes nur auf die Abgrenzung von Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen und solchen mit patentfreien Wirkstoffen ankommt. Zwingend ist dies jedoch nicht. Gerade die Formulierung €in der Regel€ und der sehr pauschale Verweis auf § 35 SGB V machen deutlich, dass nach Auffassung des Gesetzgebers zwar die Festbetragsarzneimittel unter § 130a Abs. 3b SGB V fallen können, dies jedoch nur in der Regel und nicht ausschließlich der Fall ist. Unter § 35 Abs. 1 SGB V fallen zudem nicht nur Arzneimittel mit demselben Wirkstoff, sondern auch solche mit vergleichbaren Wirkstoffen. Diese sind jedoch unzweifelhaft nicht in § 130a Abs. 3b SGB V einzubeziehen. Eine direkte Abhängigkeit zwischen dem Festbetrag und der Generikabschlagspflicht besteht vor diesem Hintergrund nicht.

Der Verweis des Beklagten auf die in der Gesetzesbegründung mehrfach verwandte Formulierung €Arzneimittel im generikafähigen Markt€ führt ebenfalls nicht zu einem anderen Ergebnis. Zwar ist dem Beklagten dahingehend zuzustimmen, dass ein Generika nur dann auf den Markt kommen kann, wenn kein Wirkstoffpatent mehr wirksam ist. Unter dem Begriff Generika werden Arzneimittel verstanden, die patentfreie Wirkstoffe enthalten und zumindest unter der wissenschaftlichen Bezeichnung des Wirkstoffes in den Verkehr gebracht werden. Diese Definition orientiert sich an der arzneimittelrechtlichen Definition in § 24b Abs. 2 Arzneimittelgesetz (AMG), wonach die Zulassung als Generikum nach Absatz 1 erfordert, dass das betreffende Arzneimittel die gleiche Zusammensetzung der Wirkstoffe nach Art und Menge und die gleiche Darreichungsform wie das Referenzarzneimittel aufweist und die Bioäquivalenz durch Bioverfügbarkeitsstudien nachgewiesen wurde. Die daran anknüpfende Argumentation des Beklagten, dass die Bezugnahme auf den generikafähigen Markt gerade dafür spreche, dass alle Schutzrechte, die der Entstehung eines generikafähigen Marktes entgegenstehen, auch im Rahmen des § 130a Abs. 3b SGB V bedeutsam sein sollen, ist nachvollziehbar, kann aber im Fall von P€ nicht zur Generikaabschlagspflicht führen. Der generikafähige Markt ist durch die Wirkstoffgleichheit der Arzneimittel gekennzeichnet. Wirkstoffgleichheit kann nur dann gegeben sein, wenn kein Wirkstoffpatent vorliegt. Deshalb bilden schon die Tatbestandsvoraussetzungen €wirkstoffgleiche Arzneimittel€ das Vorliegen eines generikafähigen Marktes ab. Damit ist zugleich der €Normalfall€ dargestellt. In der Regel eröffnet das Ende des Wirkstoffpatents (sofern der Zulassung nicht ggf. arzneimittelrechtliche Unterlageschutzfristen oder € im Bereich der biologischen Arzneimittel € der Herstellung eines Generika Verfahrenspatente entgegenstehen) die Möglichkeit der Entstehung eines generikafähigen Marktes. Im Fall des Arzneimittels P€ zeigt sich jedoch, dass es auch Konstellationen gibt, in denen das bestehende Patent einen generikafähigen Markt oder zumindest das Vorhandensein weiterer Clopidogrel-Präparate auf dem Markt nicht verhindern konnte. Gerade in diesen Konstellationen wird die weitere Tatbestandsvoraussetzung des § 130a Abs. 3b SGB V (€patentfrei€) erst relevant. Nach Auffassung der Kammer wäre diese Tatbestandsvoraussetzung ohne zusätzliche Bedeutung, wenn es dabei ausschließlich um Wirkstoffpatentfreiheit ginge. Diesem Erfordernis wurde schon durch die Voraussetzung der Wirkstoffgleichheit Rechnung getragen.

Letztlich zeigt sich deutlich, dass € anders als dies von den Beteiligten jeweils vertreten wird € die Auslegung des Begriffs €patentfrei€ gerade nicht klar und eindeutig ist. Vor diesem Hintergrund misst die Kammer der Tatsache, dass es sich bei der Generikaabschlagspflicht um einen Grundrechtseingriff handelt, entscheidende Bedeutung zu. Auch wenn die Argumentation des Beklagten in vieler Hinsicht nachvollziehbar ist, muss nach Überzeugung der Kammer die verfassungskonforme Sichtweise €das Zünglein an der Wage€ sein. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Beschluss v. 15.05.2007 (Az. B 1 BvR 866/07, zit. nach juris) die Abschlagspflicht als € grundsätzlich gerechtfertigten € Eingriff in die Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmen qualifiziert: €Die Festlegung eines zwangsweise zu gewährenden Preisabschlags zugunsten der gesetzlichen Krankenkassen greift zwar in die Berufsfreiheit der betroffenen pharmazeutischen Unternehmen ein, ist jedoch durch einen vernünftigen Grund des Gemeinwohls gerechtfertigt (vgl BVerfG, 13.09.2005, 2 BvF 2/03, BVerfGE 114, 196 <244 ff>)€. Ein Grundrechtseingriff erfordert jedoch eine eindeutige gesetzliche Grundlage, die vorliegend nicht gegeben ist. Der Wortlaut von § 130a Abs. 3b SGB V als Ermächtigungsgrundlage stützt den Eingriff nicht. Denn für P€ besteht Patentschutz, es liegt deshalb keine Patentfreiheit vor. Die Auslegung des Begriffs als €wirkstoffpatent€ unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien führt nach Auffassung der Kammer aufgrund der fehlenden Eindeutigkeit der Gesetzesbegründung ebenfalls nicht zu einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage für den Grundrechtseingriff. Ungeachtet dessen, dass es gesellschafts- und wirtschaftspolitisch wünschenswert ist, pharmazeutische Unternehmen in großem Umfang an den hohen Arzneimittelkosten im Gesundheitswesen zu beteiligen, sind an die Voraussetzungen eines € gerechtfertigten € Grundrechtseingriffes die gleichen (hohen) Anforderungen wie in allen anderen Fällen zu stellen. Diese sind vorliegend im Bezug auf die Generikabschlagspflicht für das Arzneimittel P€ nicht erfüllt. Hinsichtlich der Auslegung des Gesetzes unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung hat das BVerfG (u.a. Urteil vom 16.02.1983, Az. 2 BvE 1/83, 2 BvE 2/83, 2 BvE 3/83, 2 BvE 4/83, zit. nach juris) insoweit deutlich ausgeführt: €Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt ausgesprochen, dass die Gesetzesmaterialien mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden sollen, als sie auf einen "objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen" (vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 6, 55 (75); 6, 389 (431); 10, 234 (244); 36, 342 (367); 41, 291 (309)). Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (vgl. BVerfGE 11, 126 (130); 13, 261 (268); 54, 277 (298 f.)).€

Ob es sich bei dem Grundpatent Clopidogrelhydrogenyulfat um ein Wirkstoffpatent handelt und die anderen Clopidogrel-Präperate entsprechend nicht als wirkstoffgleich i.S.d. § 130a Abs. 3b SGB V anzusehen sind, kann vor dem Hintergrund dessen, dass P€ schon nicht als €patenfrei€ i.S.d. Vorschrift gilt, dahinstehen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 197a SGG.






SG Berlin:
Urteil v. 21.11.2012
Az: S 208 KR 99/11


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https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/5e6c21cbe7b1/SG-Berlin_Urteil_vom_21-November-2012_Az_S-208-KR-99-11




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