Bundesgerichtshof:
Urteil vom 24. Juni 2002
Aktenzeichen: II ZR 296/01

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 2. Zivilsenats des Kammergerichts vom 13. September 2001 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Zivilkammer 19 des Landgerichts Berlin vom 15. August 2000 wird zurückgewiesen.

Der Beklagten werden die Kosten der beiden Rechtsmittelverfahren auferlegt.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Der Kläger, im Jahre 1988 zum Mitglied des Vorstandes der Beklagten berufen, wendet sich gegen den Widerruf seiner Organbestellung mit Beschluß des Aufsichtsrates vom 30. Januar 1995. Er bestreitet das Vorliegen eines wichtigen Grundes.

Das Landgericht hat der Klage durch Versäumnisurteil stattgegeben. Den dagegen eingelegten Einspruch der Beklagten hat es mit Urteil vom 15. August 2000 als unzulässig verworfen. Es hat eine wirksame Prozeßvertretung der Beklagten verneint. Der Beschluß des Aufsichtsrates vom 25. Mai 2000, mit dem die Prozeßführung des Rechtsanwaltes Dr. Me. genehmigt und Rechtsanwältin Dr. Mi. Prozeßvollmacht erteilt worden sei, sei nichtig, weil M. G., der mit Hauptversammlungsbeschluß vom 17. Dezember 1992 gemäß § 8 Nr. 3 der Satzung nur "bis zur Beendigung der Hauptversammlung, die über die Entlastung des Aufsichtsrates für das Geschäftsjahr 1993 beschließt", zum Aufsichtsratsmitglied gewählt worden sei, dem Aufsichtsrat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr angehört habe.

Das Berufungsgericht hat das Urteil vom 15. August 2000 aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Es vertritt die Ansicht, M. G. sei bei der Beschlußfassung am 25. Mai 2000 noch Mitglied des Aufsichtsrates gewesen, weil ein Beschluß der Hauptversammlung über seine Entlastung, der nach § 102 Abs. 1 AktG Voraussetzung für sein Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat sei, nicht vorgelegen habe.

Der Kläger erstrebt mit seiner Revision die Wiederherstellung des Landgerichtsurteils.

Gründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts, mit dem der Einspruch gegen das von diesem Gericht erlassene Versäumnisurteil als unzulässig verworfen worden ist.

Die Genehmigung der Prozeßführung des ohne wirksames Mandat für die Beklagte vor dem Landgericht im Termin vom 25. Januar 2000 aufgetretenen Rechtsanwaltes Dr. Me. war ebenso unwirksam, wie die Erteilung der Prozeßvollmacht, auf die sich Rechtsanwältin Dr. Mi. in den Verhandlungsterminen vom 15. August 2000 und 13. September 2001 berufen hat. Genehmigung und Mandatserteilung beruhen auf dem Beschluß des Aufsichtsrates der Beklagten vom 25. Mai 2000, an dem M. G., der mit Beschluß des Amtsgerichts C. vom 3. April 2000 nach § 104 Abs. 2 AktG rechtskräftig zum Aufsichtsratsmitglied bestellte Rechtsanwalt J. V. und der Arbeitnehmervertreter A. B. mitgewirkt haben. Dieser Beschluß ist nichtig, weil zumindest M. G. im Zeitpunkt der Beschlußfassung kein Aufsichtsratsmitglied mehr war. Das folgt aus einer die Regelung des § 120 Abs. 2 AktG berücksichtigenden Auslegung des § 102 Abs. 1 AktG.

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob M. G. bereits am 31. August 1994 aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden ist, also dem Zeitpunkt, bis zu dem die Hauptversammlung der Beklagten nach § 8 Nr. 3 der Satzung spätestens über seine Entlastung mit der Folge hätte beschließen müssen, daß er nach der Beschlußfassung aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden wäre. Die Formulierung der an den Wortlaut des § 102 Abs. 1 Satz 1 AktG angelehnten Satzungsregelung spricht allerdings eher dafür, daß Voraussetzung für ein Ausscheiden die Fassung eines die Entlastung bestätigenden oder versagenden Beschlusses sein sollte.

b) Auf jeden Fall ist M. G. jedoch in dem Zeitpunkt aus dem Aufsichtsrat der Beklagten ausgeschieden, in dem die Hauptversammlung nach § 102 Abs. 1 Satz 1 AktG über seine Entlastung hätte beschließen müssen. Das war der Beschluß über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr nach dem Beginn seiner Amtszeit. Da M. G. sein Amt im Dezember 1992 angetreten hatte, hätte der Beschluß bis zum 31. August 1997 gefaßt werden müssen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 AktG).

Zwar können Aufsichtsratsmitglieder auch nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung nur bis zur Beendigung der Hauptversammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr nach dem Beginn der Amtszeit "beschließt". Aufgrund dieser Formulierung nimmt die überwiegende Meinung im Schrifttum an, trotz des zwingenden Charakters der Regelung (§ 23 Abs. 5 AktG) dauere die Stellung als Aufsichtsratsmitglied solange an, bis ein Beschluß über die Entlastung gefaßt worden sei (AG Essen, MDR 1970, 336; Baumbach/Hueck, AktG 13. Aufl., § 102 Rdn. 3; Geßler in Geßler/ Hefermehl/Eckert/Kropff, AktG § 102 Rdn. 8; v. Godin/Wilhelmi, AktG 4. Aufl. § 102 Anm. 3; Meyer-Landrut in Großkomm. z. AktG, 3. Aufl., § 102 Anm. 1; Hoffmann-Becking in: Müchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4 AktG 2. Aufl. § 30 Rdn. 37; Nirk/Reuter/Bächle, Handbuch des Aktiengesetzes Bd. 1 Rdn. 856; Henn, Handbuch des Aktienrechts 6. Aufl. Rdn. 643). Dem vermag der Senat jedoch nicht zu folgen.

Die heutige Regelung findet sich bereits in § 243 Abs. 3 des Handelsgesetzbuches vom 10. Mai 1897 (RGBl. 1897 S. 219). Sie hing eng mit der Wirkung der Entlastung der Organmitglieder (§ 263 Abs. 1 HGB a.F.) zusammen, die damals noch den Verzicht auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen umfaßte und der insoweit die Funktion einer Klarstellung zukam, die mit dem Ausscheiden des Organmitgliedes getroffen werden sollte. Da die Entlastung nach geltendem Aktienrecht keinen Verzicht auf Schadensersatzansprüche mehr enthält (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG) und rechtlich nur noch eine weitgehend folgenlose Billigung der Organtätigkeit darstellt, hat auch die Verknüpfung von Entlastungsbeschluß und Ausscheiden aus dem Organ ihren Sinn verloren (vgl. Mertens in Kölner Kommentar z. AktG, 2. Aufl. § 102 Rdn. 5). Es erscheint daher gerechtfertigt, die Vorschrift des § 102 Abs. 1 AktG unter Berücksichtigung der zur Entlastung vorgenommenen Änderung dahin auszulegen, daß die Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat spätestens in dem Zeitpunkt endet, in dem die Hauptversammlung über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr seit Amtsantritt hätte beschließen müssen (vgl. AG Augsburg, MDR 1957, 233 mit Anm. Soyka; Mertens in Kölner Kommentar z. AktG, 2. Aufl. § 102 Rdn. 5; im Ergebnis ebenso, wenn auch mit abweichenden Fristen, Hüffer, AktG 5. Aufl. § 102 Rdn. 3; Raiser, Mitbestimmungsgesetz § 6 Rdn. 30; Ulmer in Hanau/Ulmer, Mitbestimmungsgesetz 1981 § 6 Rdn. 67). Die Festlegung des in § 120 Abs. 1 AktG bestimmten Zeitpunktes als Termin für das Ausscheiden des Aufsichtsratsmitgliedes, soweit kein Beschluß über die Entlastung des Aufsichtsratsmitgliedes gefaßt wird, entspricht entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung dem Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.

Eine solche Auslegung ist auch geboten. Die Verknüpfung von Entlastungsbeschluß und Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat birgt die Gefahr in sich, daß Aufsichtsratsmitglieder entgegen dem Zweck der gesetzlichen Höchstdauer, die Hauptversammlung zu veranlassen, die Wahl des Mitgliedes zu überdenken, in dem Organ belassen werden. Das widerspricht dem Bestreben des heutigen Gesetzgebers, die Verwaltungsorgane und ihre Mitglieder, insbesondere die Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder, einer strengeren Kontrolle zu unterziehen. In Fällen einer noch ausstehenden Sonderprüfung der Verantwortlichkeit von Aufsichtsratsmitgliedern kann die übliche Vertagung der Entlastung die Organzugehörigkeit sogar erheblich verlängern.

c) Die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates wird durch § 104 AktG gewährleistet. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift sind Vorstand, ein Mitglied des Aufsichtsrats oder ein Aktionär berechtigt, bei Gericht einen Antrag auf Ergänzung des Aufsichtsrates zu stellen, wenn dem Aufsichtsrat die zur Beschlußfassung erforderliche Anzahl von Mitgliedern nicht angehört. Sie ist mit der für den Vorstandsbereich bestehenden Regelung des § 85 AktG vergleichbar, die der Senat als hinreichende Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Vorstandes angesehen hat (BGH, Urt. v. 12. November 2001 -II ZR 225/99, ZIP 2002, 172, 173).

d) Im vorliegenden Fall hat diese Auslegung des Gesetzes zur Folge, daß M. G. spätestens mit Ablauf des 31. August 1997 aus dem Aufsichtsrat der Beklagten ausgeschieden ist. Der Aufsichtsratsbeschluß vom 25. Mai 2000 war somit nichtig. Eine wirksame Genehmigung der Prozeßführung von Rechtsanwalt Dr. Me. und ein Rechtsanwältin Dr. Mi. erteiltes wirksames Mandat sind daher nicht gegeben. Das Landgericht hat somit den Einspruch gegen das Versäumnisurteil zu Recht verworfen.

Röhricht Hesselberger Henze Kraemer Röhricht






BGH:
Urteil v. 24.06.2002
Az: II ZR 296/01


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