Landessozialgericht der Länder Berlin und Brandenburg:
Urteil vom 23. November 2011
Aktenzeichen: L 9 KR 359/08

(LSG der Länder Berlin und Brandenburg: Urteil v. 23.11.2011, Az.: L 9 KR 359/08)

In den Genuss der Übergangsvorschrift des § 229 Abs. 1a SGB 6 kommt der Vorstand einer Aktiengesellschaft nur, wenn er am Stichtag des 6. November 2003 bereits als solcher im Handelsregister eingetragen war (anders: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, . Senat, Urteil vom 21. Oktober 2011, L 1 KR 203/08; Revision zugelassen).

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juli 2008 und der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2004 werden geändert.

Es wird festgestellt, dass der Beigeladene zu 3) in seiner Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 2) ab dem 01. Januar 2004 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegt.

Die Beklagte und der Beigeladene zu 3) tragen die Kosten des

Verfahrens jeweils zur Hälfte, mit Ausnahme der außergerichtlichen

Kosten der übrigen Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beigeladene zu 3) aufgrund seiner Tätigkeit im Vorstand einer Aktiengesellschaft von der Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit ist.

Der Beigeladene zu 3) ist bei der Beigeladenen zu 2) als Fachhochschullehrer beschäftigt. Im Jahr 2003 erwarb er zusammen mit Dipl.-Ing. U B und Prof. Dr. L S die F Verwaltungs-Aktiengesellschaft, deren Stammkapital 50.000,00 Euro betrug, deren Unternehmensgegenstand die Verwaltung des eigenen Vermögens war und die seit 30. Juli 2002 in das Handelsregister eingetragen war. Auf der Sitzung des Aufsichtsrats der F Verwaltungs-AG am 28. Oktober 2003 wurde der Vorstand der Gesellschaft mit Wirkung zum 31. Oktober 2003, 24.00 Uhr, abberufen und der Beigeladene zu 3) wurde gemeinsam mit den beiden genannten Miterwerbern der Gesellschaft zum alleinvertretungsberechtigten Vorstand bestimmt. Die Vorstandsmitglieder unterschrieben noch am 28. Oktober 2003 Anstellungsverträge mit Wirkung zum 1. November 2003. Die Vergütung des Beigeladenen zu 3) umfasst nach § 3 des Anstellungsvertrages €eine Gewinnbeteiligung in Höhe von 95 Prozent der durch seine unternehmerische Tätigkeit erzielten Deckungsbeiträge€.

Mit notarieller Urkunde vom 24. November 2003 wurden die Firma der Gesellschaft in a AG und der Unternehmensgegenstand in Unternehmensberatung, Erbringung von Ist-Dienstleistungen und Vermögensverwaltung geändert und dies sowie die Vorstandsneubildung dem Registergericht (Amtsgericht B) zur Eintragung gemeldet. Die Eintragung ins Handelsregister erfolgte zum 2. Juni 2004.

Mit Schreiben vom 2. November 2003 teilte der Beigeladene zu 3) der Klägerin die Aufnahme der Vorstandstätigkeit in der a AG mit; darin vertrat er die Auffassung, nach § 1 Satz 4 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) nicht mehr der Rentenversicherungspflicht zu unterliegen und bat im Übrigen um Auskunft zu anderen versicherungsrechtlichen Fragen. Mit Schreiben vom 12. Dezember 2003 wies die Klägerin den Beigeladenen zu 3) darauf hin, dass der Deutsche Bundestag am 6. November 2003 die Änderung von § 1 Satz 4 SGB VI beschlossen habe; mit Wirkung vom 1. Januar 2004 erstrecke sich die Versicherungsfreiheit nur noch auf die Tätigkeit in dem Unternehmen, dessen Vorstand ein Betroffener angehöre. Zuständig für eine verbindliche Entscheidung über die Versicherungspflicht sei aber die Krankenkasse des Beigeladenen zu 3) als Einzugsstelle.

Mit Bescheid vom 20. Januar 2004 teilte die Beklagte dem Beigeladenen zu 3) mit, dass er gemäß § 1 Satz 4 SGB VI ab dem 1. November 2003 in allen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr der Rentenversicherungspflicht unterliege.

Die hiergegen von der Klägerin erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin mit Gerichtsbescheid vom 18. Juli 2008 abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten sei rechtmäßig. Sowohl vom 1. November 2003 bis zum 31. Dezember 2003 als auch nach der Rechtsänderung zum 1. Januar 2004 bestehe für den Beigeladenen zu 3) Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung. Für das Jahr 2003 folge das aus dem Wortlaut des Gesetzes selbst, das aus der Zugehörigkeit zum Vorstand einer Aktiengesellschaft die Versicherungsfreiheit für sämtliche ausgeübten Beschäftigungen vorgesehen habe. Seit dem 1. Januar 2004 gelte die Versicherungsfreiheit zwar nur noch für Tätigkeiten in dem Unternehmen, dessen Vorstand ein Betroffener angehöre. Allerdings komme der Beigeladene zu 3) in den Genuss der Übergangsregelung in § 229 Abs. 1a SGB VI. Am Stichtag 6. November 2003 habe er bereits als Vorstand einer Aktiengesellschaft fungiert, so dass es bei seiner Versicherungsfreiheit in sämtlichen anderen Beschäftigungen bleibe. Für eine individuelle Missbrauchsprüfung, wie die Klägerin sie anstrebe, sei kein Raum (Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 9. August 2006, B 12 KR 3/06 R).

Gegen diesen ihr am 25. Juli 2008 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung der Klägerin vom 19. August 2008.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Klägerin erklärt, die Versicherungsfreiheit des Beigeladenen zu 3) in der Rentenversicherung nach der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Rechtslage für die Monate November und Dezember 2003 nicht zu bestreiten.

Zur Begründung ihrer Berufung hat die Klägerin im Wesentlichen vorgebracht: Der Beigeladene zu 3) sei aufgrund seiner Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 2) nach dem ab 1. Januar 2004 geltenden Recht rentenversicherungspflichtig. Maßgeblich sei darauf abzustellen, wann die Eintragung der Vorstandstätigkeit in das Handelsregister erfolgt sei, nämlich erst am 2. Juni 2004, und damit nach dem Stichtag des § 229 Abs.1 a SGB VI (6. November 2003). Zu vermuten sei zudem das Vorliegen von Rechtsmissbrauch, mit dem Versicherungsfreiheit in allen Beschäftigungen habe herbeigeführt werden sollen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juli 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2004 zu ändern und festzustellen, dass der Beigeladene zu 3) in seiner Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 2) ab dem 1. Januar 2004 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI unterliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Zwar habe die Missbrauchsgefahr den Gesetzgeber zu der Gesetzesänderung mit Wirkung vom 1. Januar 2004 bewogen; eine gesonderte Missbrauchsprüfung, wie die Klägerin sie vornehmen wolle, verbiete sich aber im vorliegenden Fall.

Auch der Beigeladene zu 3) beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, am maßgeblichen Stichtag des 6. November 2003 Mitglied des Vorstandes einer Akteingesellschaft gewesen zu sein. An der Rechtswirksamkeit der Bestellung vom 28. Oktober 2003 bestehe kein Zweifel. Von der Eintragung sei die Aufnahme der Vorstandstätigkeit ab dem 1. November 2003 nicht abhängig gewesen, nur vom Beschluss des Aufsichtsrates. Zweck der Aktiengesellschaft sei auch entgegen der Behauptung der Klägerin nicht die Verwaltung eigenen Vermögens; insoweit hat der Beigeladene zu 3) die Jahresabschlüsse der Jahre 2004 bis 2007 auszugsweise zu den Akten gereicht. Die Gesellschaft bewege sich aktiv am Markt, was auch der Internetseite www.a.de entnommen werden könne. Zudem habe die Klägerin in Zusammenhang mit einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV in einem Schreiben vom 25. Februar 2011 selbst erklärt, dass er nicht der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung unterliege. Daran müsse sie sich festhalten lassen.

Die übrigen Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Klägerin Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Für die Zeit ab 1. Januar 2004 € nur hierauf erstreckt sich der Rechtsstreit noch € hat der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2004 zu Unrecht die Versicherungsfreiheit des Beigeladenen zu 3) in der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt.

1. Die Klage war fristgerecht erhoben. Der angefochtene Bescheid datiert vom 20. Januar 2004 und wurde der Beklagten nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zugestellt, so dass die Klagefrist ein Jahr beträgt (§ 66 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

2. Maßgeblich für die Beurteilung der Versicherungsfreiheit des Beigeladenen zu 3) in der gesetzlichen Rentenversicherung ist § 1 Satz 4 SGB VI in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung. Danach sind Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft (nur) in dem Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, nicht versicherungspflichtig beschäftigt, wobei Konzernunternehmen im Sinne des § 18 des Aktiengesetzes als ein Unternehmen gelten.

a) Die Herausnahme von Mitgliedern des Vorstands einer Aktiengesellschaft aus der Rentenversicherungspflicht geht zurück auf § 3 Abs. 1a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), der mit Wirkung vom 1. Januar 1968 als Reaktion auf die Aufhebung der für die Pflichtversicherung von Angestellten geltenden Jahresarbeitsverdienstgrenze eingefügt worden war. § 3 Abs. 1a AVG bestimmte für Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft, die bis 1968 im Hinblick auf die Höhe ihrer Vorstandsvergütungen regelmäßig nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterlegen hatten, dass sie nicht zu den versicherungspflichtigen Angestellten gehören. In Ergänzung hierzu legte § 2 Abs. 1a AVG fest, dass sie auch nicht in anderen Rentenversicherungen versicherungspflichtig sind. Diesen Vorschriften lag die Erwägung zu Grunde, dass bei Mitgliedern des Vorstands einer Aktiengesellschaft wegen ihrer herausragenden und starken wirtschaftlichen Stellung Schutz und Sicherheit durch die Rentenversicherung entbehrlich erscheinen (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 9. August 2006, B 12 KR 3/06 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 16). Diese Rechtslage galt bis zum 31. Dezember 1991. Als Nachfolgevorschrift des § 3 Abs. 1a AVG bestimmte § 1 Satz 3 (später Satz 4) SGB VI für die Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 31. Dezember 2003, dass Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft nicht versicherungspflichtig sind.

Mit Wirkung vom 1. Januar 2004 nahm § 1 Satz 4 SGB VI die jetzt maßgebliche Fassung an. Nunmehr bleiben Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft weiterhin von der Rentenversicherungspflicht ausgenommen, jedoch - in Anlehnung an § 27 Abs. 1 Nr. 5 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (Arbeitsförderung) - beschränkt auf die Beschäftigung als Vorstand und - bei weiteren Beschäftigungen - auf konzernzugehörige Beschäftigungen. Die Gesetzesänderung ist damit begründet worden, mit der Einschränkung solle Missbrauchsfällen begegnet werden, in denen Aktiengesellschaften nur zu dem Zweck gegründet würden, den Vorstandsmitgliedern dieser Aktiengesellschaften die Möglichkeit zu eröffnen, in weiteren - auch nicht konzernzugehörigen - Beschäftigungen bzw. selbstständigen Tätigkeiten nicht der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung zu unterliegen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss), BT-Drucks. 15/1893 S. 12; hierzu auch Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 17).

b) Gemessen an § 1 Satz 4 SGB VI in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2004 rechtwidrig, denn dieser stellte die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung in allen Beschäftigungsverhältnissen fest.

Dabei bleibt es auch, denn in den Genuss der maßgeblichen Übergangsbestimmung kommt der Kläger nicht. Zur Überzeugung des Senats war der Kläger am Stichtag 6. November 2003 nicht Mitglied des Vorstandes einer Aktiengesellschaft im Sinne der in Zusammenhang mit der Neufassung des § 1 Satz 4 SGB VI vom Gesetzgeber eingeführten Vertrauensschutzregelung in § 229 Abs. 1 a SGB VI. Danach blieben Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft, die am 6. November 2003 in einer weiteren Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit nicht versicherungspflichtig waren, in dieser Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit weiterhin nicht versicherungspflichtig.

aa) Zwar verfügte der Beigeladene zu 3) nach seiner Bestellung zum Vorstand durch den Aufsichtsratsbeschluss vom 28. Oktober 2003 und Abschluss eines schriftlichen Anstellungsvertrages mit Wirkung von 1. November 2003 zum Stichtag 6. November 2003 über die Rechtsmacht des Vorstandes einer Aktiengesellschaft, da die Eintragung der Vorstandsbestellung in das Handelsregister, die erst am 2. Juni 2004 erfolgte, nur deklaratorisch und nicht konstitutiv ist (Hüffer, Aktiengesetz, 9. Auflage 2010, Rdnr. 10 zu § 81). Jede Änderung des Vorstandes ist aus Publizitätsgründen (hierzu Hüffer, a.a.O., Rdnr. 1) zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 81 Abs. 1 Aktiengesetz (AktG)); wirksam wird eine Vorstandsbestellung gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG allerdings schon durch den Beschluss des Aufsichtsrats und die Einverständniserklärung des Betroffenen (vgl. Hüffer, a.a.O., Rdnr. 3 f. zu § 84), im vorliegenden Fall durch Unterzeichnung des Anstellungsvertrages vom 28. Oktober 2003.

bb) Indessen kann es im hier zu beurteilenden sozialversicherungsrechtlichen Zusammenhang nicht bei diesem ausschließlich aktienrechtlichen Ansatz bleiben. Die an den praktischen Bedürfnissen des Aktienrechts orientierten Wertungen können nämlich in das Sozialversicherungsrecht nur eingeschränkt übernommen werden (vgl. hierzu in Zusammenhang mit der Vorgesellschaft im Aktienrecht Bundessozialgericht, Urteil vom 9. August 2006, B 12 KR 3/06 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 22). Im Ergebnis kann der Ausnahmetatbestand des § 1 Satz 4 SGB VI in Verbindung mit der Übergangsregelung in § 229 Abs. 1 a SGB VI nur so verstanden werden, dass die Eintragung des Vorstandes in das Handelsregister nach § 81 Abs. 1 AktG am Stichtag 6. November 2003 bereits vorgelegen haben muss, um fortlaufend ohne Einschränkungen über den 31. Dezember 2003 hinaus von der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden weiten Fassung des § 1 Satz 4 SGB VI profitieren zu können (anders: 1. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Oktober 2011, L 1 KR 203/08, zum Parallelfall eines Vorstandskollegen des Beigeladenen zu 3). Dies ergibt sich aus Folgendem:

In ständiger Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht (siehe Urteil vom 9. August 2006, B 12 KR 3/06 R, dort Rdnr. 22) die Grenzen der Auslegung des Ausnahmetatbestands in § 3 Abs. 1a AVG bzw. § 1 Satz 4 SGB VI danach bestimmt, ob der mit der typisierenden Regelung in erster Linie verfolgte Zweck, die Rechtsanwendung einfacher, sicherer und gleichmäßiger zu gestalten und der Sozialverwaltung und den Gerichten für die Beurteilung der Rentenversicherungspflicht einfach festzustellende, ohne weiteres überprüfbare Abgrenzungsmerkmale zu verschaffen, durch eine Ausdehnung der Vorschrift gefährdet würde. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die aktienrechtliche Sichtweise vor allem Fragen der Haftung und die Handlungsfähigkeit der Aktiengesellschaft im Rechtsverkehr betrifft. Die Beurteilung der hier streitgegenständlichen, an die Mitgliedschaft im Vorstand einer Aktiengesellschaft anknüpfenden rentenversicherungsrechtlichen Folgen hängt demgegenüber nicht von der Zurechnungsfähigkeit rechtsgeschäftlichen Verhaltens bzw. von Fragen des Verkehrsschutzes, sondern allein von der Erfüllung des formalen Tatbestands des § 1 Satz 4 SGB VI ab.

Mit dem in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hervorgehobenen und vom Gesetz sanktionierten Zweck der Typisierung, Beschäftigte von der Rentenversicherungspflicht auszunehmen, die wegen der bei ihnen vermuteten wirtschaftlichen Verhältnisse gruppenspezifisch nicht des Schutzes und der Sicherheit der Rentenversicherung bedürfen, und dem Rechtsanwender diese Feststellung mit vertretbarem Aufwand zu ermöglichen, wäre es nicht vereinbar, den schon wegen seines Ausnahmecharakters eng auszulegenden (vgl. Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 23) Tatbestand des § 1 Satz 4 SGB VI in Verbindung mit der Übergangsregelung in § 229 Abs. 1 a SGB VI auch auf noch nicht in das Handelsregister eingetragene Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft zu erstrecken. Weder vom Arbeitgeber, der Meldepflichten zu befolgen hat (§ 28a SGB IV), noch von der Einzugsstelle oder vom Rentenversicherungsträger kann verlangt werden nachzuprüfen, ob am Stichtag des 6. November 2003 eine wirksame Bestellung zum Vorstand einer Aktiengesellschaft vorlag. Hinreichende Sicherheit bietet insoweit nur die entsprechende Eintragung in das Handelsregister, das gerade im vorliegenden Zusammenhang den Zweck der Publizität erfüllt und den Akteuren des Sozialversicherungsrechts eine einfache, effektive und typisierende Betrachtungsweise erlaubt. Ihnen fehlt nämlich die beim Registergericht (vgl. § 81 AktG) vorhandene Sachkunde, so dass sie zur materiell-rechtlichen Einschätzung der Wirksamkeit der Bestellung zum Vorstand einer Aktiengesellschaft fremde Hilfe in Anspruch nehmen müssten. Eine Anwendung des § 1 Satz 4 SGB VI in Verbindung mit der Übergangsregelung in § 229 Abs. 1 a SGB VI auf Vorstandsmitglieder vor deren Eintragung ins Handelsregister bliebe damit nicht innerhalb des Normzwecks, den das Gesetz mit der Typisierung verfolgt. Eine Anwendung dieser Vorschriften kommt vielmehr erst dann in Betracht, wenn der Vorstand im Handelsregister eingetragen ist. Vor der Eintragung ist für den Arbeitgeber und den jeweiligen Versicherungsträger nicht sicher erkennbar, ob die Bestellung zum Vorstand wirksam ist.

So hat die Klägerin in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bestellung eines Vorstandes neben der Entscheidung durch den Aufsichtsrat nach § 84 Abs. 1 AktG gemäß § 108 AktG die Kundgabe der Entscheidung an das künftige Vorstandsmitglied sowie dessen Einverständniserklärung voraussetzt; § 108 Abs. 4 AktG lässt die Beschlussfassung des Aufsichtsrats jedoch nicht nur in schriftlicher, sondern auch in fernmündlicher oder anderer vergleichbarer Form zu. Sowohl der Arbeitgeber als auch die Einzugsstelle müssten entsprechendem Vortrag eines fernmündlich bestellten Vorstandsmitgliedes regelmäßig ohne eigene unaufwändige Überprüfungsmöglichkeit folgen. Bestünden Zweifel an der Bestellung zum Mitglied des Vorstandes, könnte (nur) die Einzugsstelle (nicht jedoch der Arbeitgeber) gegebenenfalls über die Bestellungsvoraussetzungen Beeis erheben. Die damit verbundenen Unsicherheiten der Rentenversicherungspflicht sind weder mit § 229 Abs. 1 a SGB VI noch mit § 28 o Abs. 1 SGB IV zu vereinbaren, der dem Beschäftigten die Pflicht auferlegt, dem Arbeitgeber die für die Durchführung des Meldeverfahrens und der Beitragszahlung erforderlichen Angaben zu machen und erforderliche Unterlagen vorzulegen, um diesem eigene aufwändige Ermittlungen zu ersparen.

Deshalb belegt erst der Handelsregisterauszug, den das Vorstandsmitglied dem Arbeitgeber seiner Beschäftigung im Rahmen seiner Vorlagepflicht nach § 28 o Abs. 1 SGB IV zu übermitteln hat, dass die Bestellung zum Vorstand tatsächlich erfolgt und rechtswirksam ist. Würden die rentenversicherungsrechtlichen Folgen, die an die Stellung als Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft außerhalb der Vorstandstätigkeit geknüpft sind, demgegenüber auf die bloße aktienrechtliche Bestellung zum Vorstand im Stadium vor der Eintragung ins Handelsregister erstreckt, so wäre es ohne weiteres möglich, dass einzelne Vorstandsmitglieder zeitlich unbeschränkt rentenversicherungsrechtliche Vorteile aus ihrer Vorstandstätigkeit ziehen, obwohl der Akt der Bestellung zum Vorstand rechtsfehlerhaft ist, etwa wegen Verstoßes gegen § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 sowie Satz 3 AktG.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1 sowie 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, den in der Sache unterlegenen Beigeladenen zu 3) an der Kostenlast zu beteiligen, denn er hat einen Sachantrag gestellt und ist damit ein Kostenrisiko eingegangen (vgl. § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 3 VwGO).

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil er mit seiner Rechtsauffassung im Hinblick auf § 229 Abs. 1 a SGB VI und den dort maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt von der Rechtsprechung des Parallelsenats abweicht (dort Urteil vom 21. Oktober 2011, L 1 KR 203/08) und der Sache daher grundsätzliche Bedeutung zukommt (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl. 2008, § 160 Rdnr. 11).






LSG der Länder Berlin und Brandenburg:
Urteil v. 23.11.2011
Az: L 9 KR 359/08


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