Bundespatentgericht:
Beschluss vom 29. Januar 2009
Aktenzeichen: 15 W (pat) 361/04

(BPatG: Beschluss v. 29.01.2009, Az.: 15 W (pat) 361/04)

Tenor

Das Patent wird beschränkt aufrechterhalten auf Grundlage der Patentansprüche 1 bis 5 gemäß Hauptantrag, überreicht in der mündlichen Verhandlung, Beschreibung [0001] - [0025], überreicht in der mündlichen Verhandlung.

Gründe

I.

Auf die am 15. Februar 2001 beim Deutsche Patentund Markenamt eingereichte Patentanmeldung ist das Patent 101 06 913 mit der Bezeichnung

"Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren zum Erhalt von Nanound/oder Mikrofasern"

erteilt worden. Der Veröffentlichungstag der Patenterteilung in Form der DE 101 06 913 B4 ist der 6. Mai 2004.

Das Streitpatent umfasst sechs Patentansprüche, die folgenden Wortlaut haben:

"1. Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren zum Erhalt von Nanound/oder Mikrofasern, dadurch gekennzeichnet, dass einer zu verspinnenden Polymerschmelze oder Polymerlösung vor dem Verspinnen wenigstens ein teiloder perfluoriertes Tensid zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung zur Steuerung des Faserdurchmessers der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern und des Polymerdurchsatzes zugegeben wird.

2.

Verfahren gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das teiloder perfluorierte Tensid aus der Gruppe ausgewählt wird, die aus Trifluoressigsäure, Perfluorpropionsäure, Pentafluorbenzoesäure, Perfluoroctansäure, Trifluorethanol, Hexafluorpropanol, Heptafluorbutanol, Octafluorpentanol, Tetraethylammoniumperfluoroctylsulfonat, Perfluoralkylethanolpolyglykolether sowie Mischungen davon besteht, ausgewählt wird.

3.

Verfahren gemäß Anspruch 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, dass das teiloder perfluorierte Tensid zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung in einer Menge von 0,001 bis 30 Gew.-%, bezogen auf die Polymerschmelze oder Polymerlösung, zugegeben wird, insbesondere in einer Menge von 0,01 bis 20 Gew.-%.

4.

Verfahren gemäß einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass die Polymerschmelze oder Polymerlösung Polyacrylnitril, Polyvinylalkohol, Polyamid, Polystyrol, Polycarbonat, Polymethyl(meth)acrylat, Polyethersulfon, Polylactid, Cellulosetriacetat und/oder Polyvinylchlorid einzeln oder in Kombination von wenigstens zwei der genannten Polymere enthält.

5.

Verfahren gemäß einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass das Spinnen in einem elektrostatischen Feld mit einer Potentialdifferenz von 5 kV bis 1000 kV erfolgt, bevorzugt in einem Feld von 10 kV bis 100 kV und am stärksten bevorzugt in einem Feld von 10 bis 50 kV.

6.

Verfahren gemäß einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass der Durchsatz an Polymerlösung oder Polymerschmelze beim Verspinnen durch den Zusatz von wenigstens einem teiloder perfluorierten Tensid zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung um wenigstens 50 bis 100 % gesteigert wird.

Gegen das Patent hat die F... KG, in W..., mit Schriftsatz vom 5. August 2004, eingegangen per Telefax am 5. August 2004 beim Deutschen Patentund Markenamt, Einspruch erhoben und beantragt, das Patent in vollem Umfang zu widerrufen sowie hilfsweise eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

Sie stützt ihr Vorbringen auf folgende Entgegenhaltungen:

D1 US 4 043 331 A D2 EP 0 900 291 B1 D3 M. Bognitzki, T. Frese, J.H. Wendorff, A. Greiner, "Submicrometer shaped polylactide fibers by electrospinning", in: Proceedings of the American Chemical Society 2000, Division of Polymeric Materials: Science and Engineering, Volume 82, Spring Meeting March 26-30, 2000, San Francisco, California, Seiten 115 - 116.

Begründet wird der Einspruch damit, dass das Streitpatent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne (§ 21

(1) Nr. 2 PatG). Der im Patentanspruch 1 verwendete, allgemeine Term "verändern" impliziere, dass ein teiloder perfluoriertes Tensid die Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung sowohl erhöhen als auch erniedrigen könne. Dies stehe im Widerspruch zur Offenbarung der Ursprungsunterlagen, wonach die Oberflächenspannung durch Zugabe von teiloder perfluorierten Tensiden lediglich reduziert, also herabgesetzt, werde (vgl. Offenlegungsschrift DE 101 06 913 A1 als ursprüngliche Offenbarung, Spalte 1, Abs. [0008], Satz 2), weshalb das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne (vgl. Einspruchsschriftsatz Seite 5, Absatz 3 von unten bis Seite 6, letzter Absatz). Des Weiteren wird der Einspruch mit mangelnder Patentfähigkeit des Streitpatents gemäß § 4 PatG gegenüber den Entgegenhaltungen D1 bis D3 begründet. Die Einsprechende macht geltend, dass der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 aus der Zusammenschau von D1 und D2 nahegelegt sei und im Griffbereich des relevanten Durchschnittsfachmannes liege. Darüber hinaus gelange der Fachmann ausgehend von der D3 als gattungsbildendem Stand der Technik unter Heranziehen der D2 ebenfalls zum Gegenstand des Patentanspruchs 1, ohne erfinderisch tätig werden zu müssen.

Mit Schreiben vom 24. November 2008 hat die Einsprechende mitgeteilt, dass sie an der am 29. Januar 2009 anberaumten mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde und daher eine Entscheidung nach Aktenlage beantrage. Damit hat sie ihren Hilfsantrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nicht weiterverfolgt.

Die Patentinhaberin hat mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2004 dem Einspruchsvorbringen widersprochen und im Schriftsatz vom 26. April 2005 dazu ausgeführt, dass der beanspruchte Patentgegenstand im Hinblick auf D1 bis D3 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, denn der genannte Stand der Technik habe den Fachmann nicht in naheliegender Weise zum Gegenstand des Patentanspruchs 1 führen können. Zum Vorwurf der mangelnden Offenbarung und Ausführbarkeit des Streitpatents hat die Patentinhaberin schriftsätzlich ausgeführt, dass der Fachmann dem Streitpatent entnehmen könne, dass sich die Oberflächenspannung durch Zugabe wenigstens eines teiloder perfluorierten Tensids verändern (Streitpatent, Seite 2, rechte Spalte, Zeilen 4 bis 5) oder regeln und insbesondere herabsetzen lasse (Streitpatent, Seite 2, rechte Spalte, Zeilen 9 bis 10). Es sei nicht zu erkennen, warum der Fachmann die Lehre des Streitpatents nicht ausführen könne. Auch habe die Einsprechende nicht dargelegt, dass die erfindungsgemäßen Beispiele 1 und 2 nicht nacharbeitbar seien. Hilfsweise hat sie die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

In der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2009 verteidigt die Patentinhaberin ihr Patentbegehren im eingeschränkten Umfang auf der Grundlage der Patentansprüche 1 bis 5 gemäß Hauptantrag, überreicht in der mündlichen Verhandlung.

Die geltenden Ansprüche 1 bis 5 gemäß Hauptantrag lauten wie folgt:

"1. Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymerenzum Erhalt von Nanound/oder Mikrofasern, dadurch gekennzeichnet, dasseiner zu verspinnenden Polymerschmelze oder Polymerlösung vor dem Verspinnen ein teiloder perfluoriertes Tensid zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung zur Steuerung des Faserdurchmessers der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern und des Polymerdurchsatzes zugegeben wird, wobei das teiloder perfluorierte Tensid aus der Gruppe ausgewählt wird, die aus Trifluoressigsäure, Perfluorpropionsäure, Pentafluorbenzoesäure, Perfluoroctansäure, Trifluorethanol, Hexafluorpropanol, Heptafluorbutanol, Octafluorpentanol, Tetraethylammoniumperfluoroctylsulfonat sowie Mischungen davon besteht, ausgewählt wird.

2.

Verfahren gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das teiloder perfluorierte Tensid zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung in einer Menge von 0,001 bis 30 Gew.-%, bezogen auf die Polymerschmelze oder Polymerlösung, zugegeben wird, insbesondere in einer Menge von 0,01 bis 20 Gew.-%.

3.

Verfahren gemäß einem der Ansprüche 1 bis 2, dadurch gekennzeichnet, dass die Polymerschmelze oder Polymerlösung Polyacrylnitril, Polyvinylalkohol, Polyamid, Polystyrol, Polycarbonat, Polymethyl(meth)acrylat, Polyethersulfon, Polylactid, Cellulosetriacetat und/oder Polyvinylchlorid einzeln oder in Kombination von wenigstens zwei der genannten Polymere enthält.

4.

Verfahren gemäß einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass das Spinnen in einem elektrostatischen Feld mit einer Potentialdifferenz von 5 kV bis 1000 kV erfolgt, bevorzugt in einem Feld von 10 kV bis 100 kV und am stärksten bevorzugt in einem Feld von 10 bis 50 kV.

5.

Verfahren gemäß einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass der Durchsatz an Polymerlösung oder Polymerschmelze beim Verspinnen durch den Zusatz von wenigstens einem teiloder perfluorierten Tensid zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung um wenigstens 50 bis 100 % gesteigert wird.

Die Patentinhaberin beantragt, das Patent beschränkt aufrechtzuerhalten auf Grundlage der Patentansprüche 1 bis 5 gemäß Hauptantrag, Beschreibung [0001] bis [0025], jeweils überreicht in der mündlichen Verhandlung.

Die Einsprechende hat mit Schriftsatz vom 5. August 2004 beantragt, das Patent vollumfänglich zu widerrufen.

Aus dem Prüfungsverfahren sind folgende Dokumente bekannt:

D4 DE 32 29 312 A1 D5 DE 25 43 149 A1 D6 DE 25 34 935 A1 D7 US 1 975 504.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten verwiesen.

II.

Das Bundespatentgericht bleibt auch nach Wegfall des § 147 Abs. 3 PatG für die Entscheidung über die Einsprüche zuständig, die in der Zeit vom 1. Januar 2002 bis zum 30. Juni 2006 eingelegt worden sind (BGH GRUR 2007, 859 - Informationsübermittlungsverfahren I und BGH GRUR 2007, 862 - Informationsübermittlungsverfahren II sowie BGH GRUR 2009, 184 - Ventilsteuerung).

Der fristund formgerecht eingelegte Einspruch ist zulässig, weil im Einspruchsschriftsatz die Tatsachen, die den Einspruch rechtfertigen, im Einzelnen so angegeben sind, dass die Merkmale des Patentanspruchs 1 erteilter Fassung im konkreten Bezug zum genannten Stand der Technik gebracht wurden. Die Patentinhaberin und der Senat haben daraus abschließende Folgerungen für das Vorliegen oder Nichtvorliegen der geltend gemachten Widerrufsgründe ohne eigene Ermittlungen ziehen können (§ 59 Abs. 1 PatG).

Der Einspruch hat jedoch nur teilweise Erfolg. Das Patent war mit den in der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2009 überreichten Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten.

1.

Die geltenden Patentansprüche 1 bis 5 sind zulässig. Patentanspruch 1 geht inhaltlich auf die erteilten Patentansprüche 1 und 2 zurück und findet seine Grundlage in den am Anmeldetag eingereichten Unterlagen, dort in den Ansprüchen 1 und 3 i. V. m. Seite 5, Absatz 2 sowie Seite 3, Absatz 2, Zeile 5. Die geltenden Ansprüche 2 bis 5 entsprechen den erteilten Ansprüchen 3 bis 6 und lassen sich aus den ursprünglichen Ansprüchen 2 bis 6 herleiten.

2.

Die Neuheit des Verfahrens nach Patentanspruch 1 ist unbestritten. Da die Überprüfung durch den Senat zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt, erübrigen sich nähere Ausführungen dazu.

3.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

a) Als zuständiger Fachmann ist ein auf dem Gebiet der Faserherstellung tätiger Diplom-Chemiker anzusehen, der sich mit der Entwicklung und Anwendung von Textilfasern allgemein befasst und deshalb auch über besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der Polymerfasern sowie deren Herstellung - auch durch elektrostatisches Spinnen von Polymeren - verfügt. Ein solcher Fachmann besitzt auch einschlägige Kenntnisse über Nanound/oder Mikrofasern.

b) Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist von der Aufgabe auszugehen, zumindest ein weiteres Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren zum Erhalt von Nanound/oder Mikrofasern anzugeben (Streitpatentschrift Absatz [0006]). Wie aus Absatz [0005] ergänzend hervorgeht, wurde bisher allgemein davon ausgegangen, dass die zu verspinnende Polymerlösung oder Polymerschmelze grundsätzlich nur eine Viskosität aufweisen müsse, die einerseits ein Verspinnen ermögliche und andererseits für eine gleichmäßige Verteilung der Lösung oder der Schmelze in einer Vorrichtung sorge.

Gelöst wird diese Problemstellung durch das im Patentanspruch 1 dargestellte Verfahren mit den Gliederungspunkten M1 bis M9:

M1 Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren M2 zum Erhalt von Nanound/oder Mikrofasern, dadurch gekennzeichnet, dass M3 einer zu verspinnenden Polymerschmelze oder Polymerlösung M4 vor dem Verspinnen M5 ein teilund/oder perfluoriertes Tensid zugegeben wird M6 zur Veränderung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung M7 zur Steuerung des Faserdurchmessers der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern M8 und des Polymerdurchsatzes, M9 wobei das teiloder perfluorierte Tensid aus der Gruppe ausgewählt wird, die aus Trifluoressigsäure, Perfluorpropionsäure, Pentafluorbenzoesäure, Perfluoroctansäure, Trifluorethanol, Hexafluorpropanol, Heptafluorbutanol, Octafluorpentanol, Tetraethylammoniumperfluoroctylsulfonatsowie Mischungen davon besteht, ausgewählt wird.

Hierzu ist im Absatz [0007] der geltenden Beschreibung der Patentschrift ausgeführt, dass die Erfindung auf der Tatsache beruhe, dass die Viskosität der zu verspinnenden Polymerlösung bzw. Polymerschmelze und deren Oberflächenspannung der auf sie im elektrostatischen Feld wirkenden Kraft entgegenwirke. Nur wenn die elektrische Kraft die Oberflächenspannung überwinden könne, könnten Fäden aus der Lösung oder der Schmelze gezogen werden. Überraschenderweise habe sich nun gezeigt, dass sich die Oberflächenspannung von zu verspinnenden Polymerlösungen oder Polymerschmelzen gezielt durch die Zugabe eines teiloder perfluorierten Tensids, das aus der Gruppe ausgewählt werde, die aus Trifluoressigsäure, Perfluorpropionsäure, Pentafluorbenzoesäure, Perfluoroctansäure, Trifluorethanol, Hexafluorpropanol, Heptafluorbutanol, Octafluorpentanol, Tetraethylammoniumperfluoroctylsulfonat sowie Mischungen davon bestehe, verändern und hierdurch der Faserdurchmesser der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern und der Polymerdurchsatz des Verfahrens steuern lasse. Gemäß Absatz [0008] lasse sich hierbei die Oberflächenspannung regeln, insbesondere herabsetzen. Eine besonders starke Reduktion der Oberflächenspannung sei mit diesen teiloder perfluorierten Tensiden möglich.

c) Der geltend gemachte Widerrufsgrund der unzureichenden Offenbarung gemäß § 21 (1) Nr. 2 PatG liegt nicht vor.

Zur Beurteilung der Frage, ob der Vorwurf der mangelnden Offenbarung des Gegenstandes des Patentanspruchs 1 zutrifft, ist der Sinngehalt der Patentansprüche in seiner Gesamtheit und der Beitrag, den die einzelnen Merkmale zum Leistungsergebnis der Erfindung liefern, unter Heranziehung der den Patentanspruch erläuternden Beschreibung durch Auslegung zu ermitteln. Dabei stellt die Patentschrift im Hinblick auf die dort gebrauchten Begriffe ihr eigenes Lexikon dar (BGH GRUR 2007, 410 [18] - Kettenradanordnung; GRUR 99, 909 - Spannschraube; Mitt. 00, 105, 106 - Extrusionskopf). Eine Auslegung unterhalb des technisch verstandenen Wortsinns ist unzulässig, und zwar auch dann, wenn sich die Beschreibung und die Ausführungsbeispiele ausschließlich auf bestimmte Ausführungsbeispiele beschränken, die lediglich einen Teil des weiter zu verstehenden Sinngehalts des Patentanspruchs abdecken (BGH GRUR 07, 309 - Schussfädentransport). Ausführungsbeispiele erläutern den Erfindungsgegenstand nämlich nur exemplarisch, aber nicht abschließend (BGH v. 12.2.2008 - X ZR 153/05 Mehrgangnabe = Mitt 08, 271 L). Insofern ist eine patentierte Erfindung nur dann unzureichend offenbart, wenn ein für das Gebiet der Erfindung zuständiger Fachmann anhand der Patentschrift unter Zuhilfenahme seines Fachwissens und des allgemeinen Fachwissens mit zumutbarem Aufwand nicht in der Lage ist, die unter Schutz gestellte Erfindung in ausreichendem Maße im gesamten beanspruchten Bereich praktisch zu verwirklichen (vgl. Schulte, PatG, 8. Auflage, § 21, Rdn. 28, 29).

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 betrifft ein Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren (M1) zum Erhalt von Nanound/oder Mikrofasern (M2). Hierzu wird einer zu verspinnenden Polymerschmelze oder Polymerlösung (M3) vor dem Verspinnen (M4) ein teilund/oder perfluoriertes Tensid (M5), um u. a. die Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung zu verändern (M6). Für die Auswahl der dafür geeigneten teilund/oder perfluorierten Tenside sind im Gliederungspunkt M9 neun spezielle Tenside sowie deren Mischungen davon genannt. Mithin sind im Patentanspruch 1 konkret Tenside offenbart, mit denen der Fachmann sofort und ohne jeglichen Fehlschlag in dem beanspruchten Verfahren zu den erstrebten Ergebnissen hinsichtlich der Regelung der Oberflächenspannung der Polymerschmelze oder Polymerlösung (M6), der Steuerung des Faserdurchmessers der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern (M7) und des Polymerdurchsatzes (M8) gelangen kann. Der Fachmann wird daher auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen, wenn er die im Streitpatent angegebenen Beispiele nacharbeiten oder weitere Ausführungsformen realisieren will. Im Übrigen genügt nach der Taxol-Entscheidung des Bundesgerichtshofes, dass nur ein gangbarer Weg zur Ausführung der Erfindung zu offenbaren ist (BGH GRUR 2001, 813 - Taxol). Für die Frage der Ausführbarkeit ist nunmehr wegen des neuen Merkmals M9 dabei ohne Belang, ob und unter welchen Bedingungen im Rahmen des beanspruchten Verfahrens es zu einer Veränderung (M6) durch Herabsetzung oder Erhöhung der Oberflächenspannung kommt.

d) Die Veröffentlichung D3, die dem Streitgegenstand am Nächsten kommt, konnte dem zuständigen Fachmann hinsichtlich der Lösung der der Erfindung zugrunde liegenden Aufgabe keine Anregung zu einer Lehre vermitteln, wie sie im Anspruch 1 mit dem Merkmal M5 i. V. m. dem Merkmal M9 angegeben ist.

Die D3 befasst sich mit der Herstellung von Polylactidfasern im Submikrometer-Bereich durch ein elektrostatisches Spinnverfahren (D3, Titel i. V. m. Figur 1). Somit offenbart die D3 ein Verfahren mit den Gliederungspunkten M1 und M2. Wie beim Streitpatent werden solche Polymerspinnverfahren (ES: electrospinning) mit Polymerschmelzen oder Polymerlösungen (Merkmal M3) durchgeführt (D3, Seite 115, linke Spalte, Absatz "Introduction", Zeilen 6/7, 11/12, 14-16). Am Beispiel einer Polylactid-Lösung (PLA) als Polymerlösung (Merkmal M3) wird gezeigt, dass durch die Zugabe von Tensiden (Merkmal M5) zu der PLA-Lösung sich die Eigenschaften der PLA-Lösung steuern lassen (D3, Seite 115, linke Spalte, Absatz "Introduction", Zeilen 18 bis 23; rechte Spalte, mittlerer Absatz und letzter Absatz i. V. m. Tabelle 1 auf Seite 116). Als Tensid wird Tetraethylbenzylammoniumchlorid (TEBAC) verwendet, das der PLA-Lösung vor dem Verspinnen (Merkmal M4) zugesetzt wird (D3, Seite 115, linke Spalte, Abschnitt "Experimental"). So heißt es auf Seite 115, rechte Spalte, letzter Absatz, Zeilen 1-3: "The addition of TEBAC to PLA solutions causes significant variation of PLA/dichloromethane solution properties (Tab. 1). The surface tension increases significantly with increasing amount od TEBAC" (Merkmal M6) und im mittleren Absatz der rechten Spalte auf Seite 115 heißt es: "... the addition of TEBAC causes a significantly decrease of AFD (average fiber diameters) of PLA fibers by an order of magnitude down to about 0,2 µm (Fig. 3)" (Merkmal M7). Anhand dieser Textstellen wird dem Fachmann also die Lehre vermittelt, dass durch die Zugabe von TEBAC zur Polymerlösung zum einen ein signifikanter Anstieg der Oberflächenspannung mit zunehmender Menge an TEBAC (D3, Seite 115, rechte Spalte, letzter Absatz, Zeilen 2-3) bewirkt, zum anderen ein signifikanter Abfall des mittleren Durchmessers (AFD: average fiber diameters) der PLA-Fasern (D3, Seite 115, rechte Spalte, mittlerer Absatz sowie Seite 116, Absatz "Conclusions"), erzielt werden kann. Das bedeutet für den Fachmann aber nichts anderes, als dass durch die Zugabe eines Tensids zu einer Polymerlösung vor dem Verspinnen sowohl die Oberflächenspannung der Polymerlösung verändert (Merkmal M6), als auch der Faserdurchmesser der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern gesteuert (Merkmal M7) werden kann. Die Steuerung des Polymerdurchsatzes gemäß Merkmal M8 durch die Zugabe von TEBAC ist zwar in D3 nicht im Zusammenhang mit der Tensidwirkung genannt, jedoch finden sich im einleitenden Absatz "Introduction" eine Reihe von Parametern, die Einfluss auf die Faser haben können, darunter auch "liquid feed", was sinngemäß dem "Polymerdurchsatz" entspricht. Insofern liegt es im Griffbereich des Fachmanns, den Einfluss eines Tensids auch auf den Polymerdurchsatz zu untersuchen, weshalb Merkmal M8 ebenfalls implizit offenbart ist.

Das in der D3 beschriebene Verfahren legt aber weder die Verwendung eines teiloder perfluorierten Tensids gemäß Gliederungspunkt M5, noch die Auswahl derkonkreten Tenside gemäß Merkmal M9 nahe. Vielmehr findet sich in der D3, Seite 116, Absatz "Conclusions", lediglich noch der Hinweis, dass sich neben TEBAC als Tensid auch hydrophile Polymere wie Polyethylenoxid (PEO) dafür eignen. Aus dieser Textstelle ist somit ersichtlich, dass die D3 keine Anregung dahingehend vermitteln kann, das gattungsgemäße Verfahren mit teiloder perfluorierten Tensiden durchzuführen.

Gegenüber D3 begründet daher gerade die Auswahl der Tenside gemäß Merkmal M5 i. V. m. Merkmal M9 die erfinderische Tätigkeit.

An dieser Beurteilung ändert sich auch nichts, wenn der weitere Stand der Technik berücksichtigt wird.

So kann die EP0 900 291B1 (D2) keinen Anstoß in Richtung des durch sämtliche im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmale und Maßnahmen festgelegten Verfahrensablaufes geben. Die D2 offenbart eine dauerhaft hydrophile, thermoplastische Polymerfaser unter Verwendung eines Gemisches aus fluorhaltigem, nichtionischen, grenzflächenaktiven Mittel und nichtfluorhaltigem, grenzflächenaktiven Mittel. Im Anspruch 10 der D2 wird ein Verfahren zur Herstellung einer solchen, dauerhaft hydrophilen Faser beschrieben, bei dem ein thermoplastisches Polymer mit einem solchen Tensidgemisch vermischt und die Polymerschmelze dann zu einer Faser verarbeitet wird. Die Faserherstellung erfolgt durch "melt extrusion", was auf dem Gebiet der Faserherstellung mit "Schmelzspinnen" zu übersetzen ist (D2, Seite 3, Zeile 11 oder Zeilen 29 bis 30; Seite 13, Zeilen 51 bis 54; Seite 14, Zeilen 3 bis 8; Beispiele 1 bis 31 i. V. m. Seite 15, Zeilen 36 bis 40). Als eines der hydrophilen Tenside wird ein grenzflächenaktives Mittel verwendet, das einen oder mehrere Polyoxyalkylenrest(e) besitzt und einen fluoraliphatischen Rest enthält (D2, Anspruch 3 i. V. m. den Ansprüchen 1 und 2).

Insofern werden in der D2 - wie in der D3, Seite 116, Absatz "Conclusions" vorgeschlagen - hydrophile Polymere als Tenside eingesetzt, die in ihren chemischen Strukturen Polyoxyalkylenreste enthalten. Beim Studium der D2 wird der Fachmann darüber hinaus angeregt, diese hydrophilen Tenside in Mischung mit solchen zu verwenden, die zusätzlich fluoraliphatische Reste enthalten. Anders als beim streitpatentgemäßen Verfahren wird aber in der D3 durch das Einarbeiten eines solchen Tensidgemisches aus fluorhaltigen und nichtfluorhaltigen Tensiden nur die Hydrophilie der herzustellenden Fasern dauerhaft verbessert.

Dagegen lehrt der Anspruch 1 in der verteidigten Fassung in den Gliederungspunkten M5 bis M9 ein davon abweichendes Konzept, nämlich die Verwendung bestimmter teilund/oder perfluorierter Tenside, um die Oberflächenspannung der zu verspinnenden Polymerschmelze oder Polymerlösung zu verändern sowie damit den Faserdurchmesser der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern sowie den Polymerdurchsatz zu steuern. Einen Hinweis auf die Auswahl der Tenside gemäß der Merkmale M5 und M9 ist in der D2 an keiner Stelle zu finden, so dass von D2 allenfalls die Anregung ausgehen kann, ein fluorhaltiges Tensid in Abmischung mit nichtfluorhaltigen Tensiden in Betracht zu ziehen, nicht jedoch die konkrete Auswahl der Tenside gemäß Gliederungspunkt M9.

Auch die US 4 043 331 (D1) kann den Fachmann nicht näher zur Lehre des angegriffenen Patentanspruchs 1 führen, weil das dort beschriebene Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren insbesondere nicht von den streitpatentgemäßen Merkmalen M5 und M9 Gebrauch macht.

Soweit die Einsprechende die erfinderische Tätigkeit gegenüber der (D1) in Frage stellt, so ist aus dieser Druckschrift zwar ein gattungsgemäßes Verfahren zum elektrostatischen Spinnen von Polymeren zum Erhalt von Mikrofasern, insbesondere aus fluorierten Kohlenwasserstoff-Fasern PTFE (Polytetrafluorethylen), bekannt (D1, Spalte 1, Zeilen 9 bis 27; Spalte 2, Zeilen 30 bis 34; Spalte 3, Zeilen 44 bis 50 und Spalte 4, Zeilen 26 bis 44), wobei einer zu verspinnenden Polymerlösung (D1, Spalte 4, Zeilen 53 bis 60) vor dem Verspinnen ein Tensid ("surfactant") zugegeben wird (D1, Spalte 8, Zeilen 64 bis 68). Bei diesem Tensid handelt es sich jedoch nicht um ein teiloder perfluoriertes Tensid, sondern um "Triton ¨X100" (D1, Spalte 8, Zeile 68), d. h. um ein handelsübliches ethoxyliertes (9, 5)-Octylphenol, das ca. 67 Gew.-% Polyethylenoxid enthält (vgl. gutachtlich D2, Seite 11, Absatz [0075]).

Demzufolge kann auch die D1 dem Fachmann keinen Hinweis dahingehend vermitteln, beim Verspinnen einer Polymerschmelze oder Polymerlösung die Oberflächenspannung der zu verspinnenden Polymerschmelze oder Polymerlösung (Merkmal M6) durch Auswahl eines konkreten, teiloder perfluorierten Tensids gemäß Merkmal M5 i.V. m. M9 zu verändern und dadurch den Faserdurchmesser der herzustellenden Nanound/oder Mikrofasern (Merkmal M7) sowie den Polymerdurchsatz (Merkmal M8) zu steuern.

Es ist daher nicht ersichtlich, was dem Fachmann ohne rückschauende Betrachtung in Kenntnis des Streitpatents Anlass gegeben haben könnte, die aus D1 bis D3 bekannten Verfahren in Richtung auf die Lehre des Anspruchs 1 des Streitpatents zu verändern. Jedenfalls ergibt sich auch durch Zusammenschau der Entgegenhaltungen D3 mit D2 oder D1 das gemäß Streitpatent beanspruchte Verfahren nicht in naheliegender Weise. Es sind vielmehr weitere, nicht triviale Überlegungen erforderlich gewesen, um die speziellen Lösungsmerkmale M5 bis M9 aufzufinden.

e) Der Fachmann findet auch im sonstigen, aus dem Prüfungsverfahren bekannten Stand der Technik D4 bis D7, der im Einspruchsverfahren und in der mündlichen Verhandlung keine Rolle gespielt hat, zu der Lehre des angegriffenen Anspruchs 1 kein Vorbild. Denn diese Dokumente betreffen einen entfernter liegenden Stand der Technik, der weder für sich allein betrachtet noch in Verbindung mit der Druckschrift D1 bis D3 zum vorliegenden Patentgegenstand gemäß Anspruch 1 hinführen kann. Diese Entgegenhaltungen können daher die erfinderische Tätigkeit ebenfalls nicht in Frage stellen.

Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 beruht daher auf erfinderischer Tätigkeit, weshalb dieser Anspruch Bestand hat.

4. In Verbindung mit dem Patentanspruch 1 haben auch die auf diesen Anspruch rückbezogenen Ansprüche 2 bis 5 Bestand, da diese Ansprüche vorteilhafte und nicht selbstverständliche Ausführungsformen des im Anspruch 1 angegebenen Verfahrens beschreiben.

Feuerlein Schwarz-Angele Egerer Zettler Bb






BPatG:
Beschluss v. 29.01.2009
Az: 15 W (pat) 361/04


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