Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg:
Urteil vom 13. Mai 1993
Aktenzeichen: 9 S 2812/92

(VGH Baden-Württemberg: Urteil v. 13.05.1993, Az.: 9 S 2812/92)

1. Hat das Verwaltungsgericht über die vorläufige Vollstreckbarkeit seines Urteils nicht entschieden und ist die Frist für einen Antrag auf Urteilsergänzung abgelaufen, ist die Entscheidung auf Antrag in der Berufungsinstanz nachzuholen (aA OVG Münster, OVGE 39, 198).

Tatbestand

Der Kläger sowie sieben weitere Personen haben das beklagte Land vor dem Verwaltungsgericht im Wege der Verpflichtungsklage auf Bewilligung eines Schulbaukostenzuschusses von DM 3.809.500,-- zur sofortigen Auszahlung in Anspruch genommen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage des Klägers durch Urteil vom 25. September 1992 teilweise stattgegeben; die Klagen der weiteren sieben Kläger hat es in vollem Umfang abgewiesen und von den Kosten des Verfahrens dem Kläger 31,9 v.H. der Gerichtskosten sowie seiner eigenen außergerichtlichen Kosten und derjenigen des Beklagten, dem Beklagten 63,9 v.H. der Gerichtskosten sowie seiner außergerichtlichen Kosten und derjenigen des Klägers und den weiteren Klägern je 0,6 v.H. der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten des Beklagten sowie ihre eigenen außergerichtlichen Kosten in voller Höhe auferlegt. Über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat es nicht entschieden. Gegen das Urteil haben das beklagte Land Berufung und der Kläger Anschlußberufung eingelegt, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgen. Die weiteren sieben Kläger haben das Urteil nicht angefochten.

Mit Schriftsatz vom 22. Dezember 1992 hat der Kläger die Vorabentscheidung des Berufungsgerichts über die vorläufige Vollstreckbarkeit beantragt. Er stützt das Begehren auf § 167 VwGO i.V.m. § 718 Abs. 1 ZPO und vertritt die Auffassung, daß es nicht gem. § 167 VwGO i.V.m. § 716 ZPO und § 120 Abs. 2 VwGO wegen Überschreitens der Zwei-Wochen-Frist ausgeschlossen sei. Er beantragt,

die Kostenentscheidung des Urteils des Verwaltungsgerichts für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er hält ihn wegen des Vorrangs des Verfahrens nach § 167 VwGO, § 716 ZPO und § 120 VwGO für unstatthaft.

Der am Berufungsverfahren weiter beteiligte Vertreter des öffentlichen Interesses bei den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden-Württemberg hat sich zu dem Antrag nicht geäußert.

Gründe

Die Entscheidung über den Antrag des Klägers nach § 167 VwGO i.V.m. § 718 Abs. 1 ZPO ergeht, da eine mündliche Verhandlung nicht zur Disposition des Gerichts steht, durch Urteil, und zwar durch Teilurteil (vgl. statt aller: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl., § 718 RdNrn. 4 und 7). Der Senat entscheidet über ihn mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung. Die Dispositionsbefugnis der Beteiligten hierüber nach § 101 Abs. 2 VwGO wird durch § 718 Abs. 1 ZPO nicht ausgeschlossen, auch wenn es darin heißt, daß in der Berufungsinstanz über die vorläufige Vollstreckbarkeit "vorab zu verhandeln und zu entscheiden" ist, denn der maßgebliche Regelungsgehalt liegt in der Weisung des Gesetzes an das Berufungsgericht, den Antrag "vorab" zu behandeln; auch wäre es nicht einsichtig, wenn über die Berufung als solche einverständlich im schriftlichen Verfahren entschieden werden könnte, nicht hingegen über die vorläufige Vollstreckbarkeit als bloßen Annex zur Sachentscheidung (vgl. OVG Münster, Urteil vom 12.3.1979, OVGE 34, 85; HessVGH, Urteil vom 18.5.1988, NVwZ 1990, 275; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, a.a.O., RdNr. 7; a.A. noch HessVGH, Urteil vom 5.11.1986, NVwZ 1987, 517).

Der Antrag des Klägers ist zulässig. Zwar ist in Fällen, in denen über die vorläufige Vollstreckbarkeit nicht entschieden ist, zunächst die Möglichkeit eröffnet, gem. § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 716 ZPO beim erstinstanzlichen Gericht ein Ergänzungsurteil zu beantragen. Hierfür steht nach § 321 Abs. 2 ZPO, an dessen Stelle im Verwaltungsprozeß § 120 Abs. 2 VwGO tritt (Kopp, VwGO, 9. Aufl., § 120 RdNr. 3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 716 RdNr. 2 m.w.N.), eine Frist von zwei Wochen zur Verfügung, die der Kläger versäumt hat. Nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum schließt der Fristablauf aber nicht aus, daß Berufung eingelegt und sodann auf Antrag nach § 718 Abs. 1 ZPO statt einer Ergänzung des Urteils durch das erstinstanzliche Gericht der Ausspruch, das Urteil sei vorläufig vollstreckbar, durch Entscheidung des Berufungsgerichts nachgeholt wird. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat an (OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.4.1969, NJW 1969, 1910 m.z.w.N.; HessVGH, Urteil vom 18.5.1988, a.a.O.; OLG Frankfurt, Beschluß vom 4.1.1990, FamRZ 1990, 539, 540; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 716 RdNr. 1 und § 718 RdNrn. 1 und 7; Thomas/Putzo, ZPO, 16. Aufl., Anm. zu § 716 a.E. und § 718 Anm. 1 a) cc); Zöller-Schneider/Herget, ZPO, 16. Aufl., § 716 RdNr. 2). Der weitgefaßte Wortlaut des § 718 Abs. 1 ZPO (OLG Düsseldorf, a.a.O.) wie der Zweck der Vorschrift, den Beteiligten die Korrektur einer fehlerhaften Handhabung der Bestimmungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit durch das erstinstanzliche Gericht vor der zweitinstanzlichen Sachentscheidung zu ermöglichen (Zöller-Schneider/Herget, § 718 RdNr. 1; AK-ZPO-Schmidt-von Rhein, § 718 RdNr. 1), legen es nahe, fehlerhafte Anwendung und Nichtanwendung gleich zu behandeln. Im übrigen steht während des Berufungsverfahrens das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts ohnehin zur Disposition (HessVGH, a.a.O.). Die entgegengesetzte Auffassung im Urteil des OVG Münster vom 12.10.1987, OVGE 39, 198, geht für die Fälle, daß das Gericht erster Instanz überhaupt nicht über die vorläufige Vollstreckbarkeit entschieden hat, von der Alternativität der Vorschriften des § 716 und des § 718 ZPO aus. Dies überzeugt nicht. Die Entscheidungsgründe selbst und die angeführten Rechtsprechungsbelege enthalten keine nähere Begründung. Es ist auch nicht ersichtlich, worin ein hinreichender Grund dafür liegen könnte, den Prozeßbeteiligten bei fehlerhafter erstinstanzlicher Anwendung der Vorschriften über die vorläufige Vollstreckbarkeit eine unbefristete Korrekturmöglichkeit zu geben, sie bei der immerhin vergleichbaren und in den möglichen Auswirkungen nicht minder bedeutsamen Nichtanwendung dagegen auf eine denkbar kurze Ausschlußfrist zu verweisen. Der Gesichtspunkt der Prozeßökonomie - Entlastung der Berufungsinstanz - oder der Schutz des unterlegenen Prozeßbeteiligten tragen eine solche Differenzierung nicht. Die Bedeutung der Befristung in den Fällen des § 716 ZPO erschöpft sich demgemäß darin, daß sie als speziellere Regelung die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts zur Selbstkorrektur von der aufgrund der generellen Regelung des § 718 ZPO eröffneten Zuständigkeit des Berufungsgerichts in zeitlicher Hinsicht abgrenzt.

Der Antrag ist auch begründet. Für die Vollstreckung gilt gem. § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Verwaltungsstreitverfahren das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ist gem. § 167 Abs. 2 VwGO bei einer Verpflichtungsklage auf die Kosten zu beschränken. Ob § 167 Abs. 2 VwGO dem Gericht ein Ermessen bezüglich der Anordnung oder Nichtanordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung eröffnet (verneinend: BVerwG, Beschluß vom 26.8.1963, BVerwGE 16, 254 = Buchholz 310 § 167 VwGO Nr. 2 unter Aufgabe der Rechtsprechung im Beschluß vom 31.10.1960, Buchholz a.a.O. Nr. 1), bedarf keiner Entscheidung, weil der Senat von einem ihm etwa eröffneten Ermessen zugunsten des Klägers Gebrauch macht. Bei einem vom Verwaltungsgericht festgesetzten und von den Beteiligten nicht angegriffenen Streitwert von DM 1.042.000,-- sind erstattungsfähige Kosten auf der Klägerseite von etwa DM 13.800,-- entstanden (zwei Gebühren von je DM 5.939,--, DM 40,-- gem. § 26 BRAGO, Umsatzsteuer, sonstige notwendige Aufwendungen, insbesondere Reisekosten), von denen der Beklagte 63,9 v.H. und damit mehr als DM 2.000,-- zu erstatten hat; gem. § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 709 ZPO ist daher insoweit eine der Höhe nach zu bestimmende Sicherheitsleistung festzusetzen. Die Höhe der Sicherheitsleistung richtet sich nach dem Umfang des zu vollstreckenden Kostenerstattungsanspruchs und einem Zuschlag, den der Senat auf 10 v.H. festlegt (63,9 v.H. aus DM 13.800,-- = ca. DM 8.818,--, zuzüglich ca. DM 882,-- = DM 9.700.--). Auf Beklagtenseite kann davon ausgegangen werden, daß erstattungsfähige Kosten nicht angefallen sind. Ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit zugunsten des Beklagten ginge daher ins Leere und kann entfallen.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit bezieht sich nicht auf die sieben weiteren Kläger, weil das erstinstanzliche Urteil insoweit bereits rechtskräftig ist.






VGH Baden-Württemberg:
Urteil v. 13.05.1993
Az: 9 S 2812/92


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