Bundespatentgericht:
Beschluss vom 27. Juni 2005
Aktenzeichen: 9 W (pat) 701/05

(BPatG: Beschluss v. 27.06.2005, Az.: 9 W (pat) 701/05)

Tenor

Das Patent wird mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechterhalten:

- Patentansprüche 1 bis 6, überreicht in der mündlichen Verhandlung am 27. Juni 2005,

- Beschreibung Spalten 1 bis 2 gemäß Patentschrift mit der Maßgabe, dass in Spalte 2 die Zeilen 5 bis 14 durch die am 27. Juni 2005 überreichte Einfügung ersetzt werden,

- Beschreibung Spalten 3 bis 5, Zeichnungen Figuren 1 bis 11, jeweils gemäß Patentschrift.

Gründe

I.

Gegen das am 13. Dezember 1997 angemeldete und am 19. Juli 2001 veröffentlichte Patent mit der Bezeichnung

"Kofferraumdeckelbetätigung"

ist von der S... GmbH Einspruch erhoben worden.

Die Patentinhaberin verteidigt ihr Patent in beschränktem Umfang. Sie ist der Meinung, das beschränkte Patentbegehren sei zulässig und auch gegenüber dem in Betracht gezogenen Stand der Technik patentfähig.

Der geltende Patentanspruch 1 lautet:

" Betätigung für Kofferraumdeckel, Motorhauben, Heckklappen (12) oder Türen von Fahrzeugen, insbesondere von Kraftfahrzeugen, mit wenigstens einem Gelenkantrieb (1, 2 ,3, 4), einem die Öffnungsbewegung unterstützenden Kraftfederspeicher, wie einer Gasdruckfeder (5), und mit einem Mechanismus zum Verstellen der Wirkrichtung des Kraftfederspeichers, gekennzeichnet durch einen Motor, der den Mechanismus unabhängig von der Öffnungsbewegung antreibt, wobei ein Anlenkpunkt (6) des Kraftfederspeichers auch im geschlossenen Zustand von einer Ausgangsstellung, in welcher keine Kraftkomponente in Öffnungsrichtung der geschlossenen Klappe wirkt, in eine Arbeitsstellung verschiebbar ist, bei welcher der Kraftfederspeicher den Totpunkt des Gelenkantriebes (1 ,2, 3, 4) überwunden hat, so dass eine Kraftkomponente zum Öffnen der Klappe anliegt."

Diesem Patentanspruch 1 schließen sich die Patentansprüche 2 bis 6 an.

Die Patentinhaberin stellt den Antrag, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:

- Patentansprüche 1 bis 6, überreicht in der mündlichen Verhandlung am 27. Juni 2005,

- Beschreibung Spalten 1 bis 2 gemäß Patentschrift mit der Maßgabe, dass in Spalte 2 die Zeilen 5 bis 14 durch die am 27. Juni 2005 in der mündlichen Verhandlung überreichte Einfügung ersetzt werden,

- Beschreibung Spalten 3 bis 5,

- Zeichnungen Figuren 1 bis 11, jeweils gemäß Patentschrift.

Die Einsprechende stellt den Antrag, das Patent zu widerrufen.

Sie ist der Meinung, das Patentbegehren nach dem geltenden Patentanspruch 1 sei unzulässig. Es liege eine unzulässige Erweiterung gegenüber der ursprünglichen Offenbarung sowie auch eine Erweiterung des Schutzbereichs vor.

Zum Stand der Technik verweist sie auf die DE 197 58 130 A1.

Im Prüfungsverfahren sind noch folgende weitere Druckschriften in Betracht gezogen worden:

- DE 297 05 372 U1

- DE 195 07 426 A1

- US 4 776 626 A

- DE 297 01 617 U1 II.

Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch PatG § 147 Abs. 3 Satz 1 begründet.

Der Einspruch ist zulässig. Er hat im Rahmen der Beschlussformel Erfolg.

1. Die Patentansprüche 1 bis 6 sind zulässig.

Das Patentbegehren ist der Patentschrift zu entnehmen und in den ursprünglichen Unterlagen offenbart.

Die Merkmalskombination nach dem geltenden Patentanspruch 1 ergibt sich aus den erteilten Patentansprüchen 1 und 4 unter Hinzunahme von Angaben aus der Beschreibung der Patentschrift (Spalte 2, Zeilen 11-17, 30-47; Spalte 3, Zeile 65, bis Spalte 4, Zeile 14; Spalte 4, Zeilen 53-59). Sie ist auch entnehmbar aus den ursprünglichen Patentansprüchen 1 und 4 iVm der ursprünglichen Beschreibung (Seite 2, Zeilen 1-5 und Zeile 19, bis Seite 3, Zeile 1; Seite 5, vorletzter Absatz bis Seite 6, 1. Absatz; Seite 7, Zeilen 13-19).

Die Patentansprüche 2 bis 6 stimmen bis auf angepasste Rückbeziehungen mit den erteilten Patentansprüchen 2 und 5 bis 8 überein.

Die Merkmale nach den Patentansprüchen 3 und 5 ergeben sich aus den ursprünglichen Ansprüchen 5 und 7. Die Ausgestaltung nach Patentanspruch 2 geht hervor aus dem ursprünglichen Patentanspruch 2 unter Hinzunahme von Angaben aus der ursprünglichen Beschreibung (Seite 3, 2. und 3.Absatz; Seite 7, 2. und 3. Absatz). Die Ausbildung gemäß Patentanspruch 4 folgt aus dem ursprünglichen Anspruch 6 iVm den Figuren 6 bis 9. Anspruch 6 ergibt sich aus dem ursprünglichen Anspruch 8 unter Zufügen von Angaben aus der ursprünglichen Beschreibung (Seite 7, Zeilen 10-13).

Die Einsprechende ist der Auffassung, das die im geschlossenen Zustand der Klappe mögliche Verschiebbarkeit des Anlenkpunktes des Kraftfederspeichers betreffende Merkmal in Patentanspruch 1 sei nur durch sinnenstellende Umformulierung von Angaben in der Patentschrift bzw. in den ursprünglichen Unterlagen zu erhalten und durch die Offenbarung deshalb nicht gedeckt.

Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. In der Patentschrift ist vielmehr ausgeführt, dass der Kraftfederspeicher bzw. der eine seiner Anlenkpunkte auch im geschlossenen Zustand der Klappe in seiner Lage verstellt werden kann (Beschreibung Spalte 2, Zeilen 14-17 und 35-38; Patentanspruch 2). Dabei soll selbst nach Durchlaufen eines Teils des Verschiebeweges des Anlenkpunktes die Kraft des Kraftfederspeichers noch so klein sein, dass ein Öffnen der entriegelten Klappe immer noch nicht stattfindet (Spalte 4, Zeilen 9-14). Diese Sachverhalte sind gleichermaßen auch in den ursprünglichen Unterlagen offenbart (Seite 2, Zeilen 3-5 und 23-27; Patentanspruch 2). Ein Offenbarungsmangel liegt somit in diesem Punkt nicht vor.

Die Einsprechende meint weiter, das im Patentanspruch 1 genannte Überwinden des Totpunkts des Gelenkantriebs ohne Hinweis auf die in der Schließstellung konkrete Ausgangsstellung des Kraftfederspeichers und auf die davon ausgehende Bewegungsbahn des Anlenkpunktes stelle eine unzulässige Verallgemeinerung des in der Patentschrift beschriebenen Sachzusammenhangs im Sinne einer Erweiterung des Schutzumfanges dar. Die Einsprechende beruft sich dabei auf Spalte 2, Zeilen 40-47, der Streitpatentschrift und meint, der Bewegungsablauf des Verstell-Mechanismus sei auf die dort angegebenen Einzelheiten festgelegt. Das Weglassen dieser Einzelheiten eröffne die Möglichkeit, einen anders gearteten Bewegungsablauf vorzusehen, der aber von der Offenbarung nicht gedeckt sei.

Eine Erweiterung des Schutzumfangs sowie der ursprünglichen Offenbarung liegt hier deshalb nicht vor, weil die von der Einsprechenden in Bezug genommene Textpassage lediglich eine spezielle, vorteilhafte Realisierung des allgemeinen Prinzips der Verschiebung des Anlenkpunktes betrifft. Dieses wird ersichtlich aus der die betreffende Textpassage einleitenden Angabe "Als besonders vorteilhaft hat sich ...folgendes Arbeitsspiel gezeigt." (Spalte 2, Zeilen 39, 40). Zudem ist an anderer Stelle der Patentschrift die Überwindung des Totpunktes als allgemeines Funktionsprinzip angegeben, nämlich als Verschiebung des Anlenkpunktes von der Ausgangsstellung in die Arbeitsstellung (Spalte 2, Zeilen 30-35). Dieses ist im Patentanspruch 1 wiedergegeben und sogar eingeschränkt durch den Hinweis auf die in der Ausgangsstellung fehlende Kraftkomponente in Öffnungsrichtung (Spalte 3, Zeile 65, bis Spalte 4, Zeile 1; Spalte 4, Zeilen 53-59).

2. Das Patent betrifft eine Betätigung für Kofferraumdeckel, Motorhauben, Türen, Heckklappen oder dgl. von Fahrzeugen, insbesondere von Kraftfahrzeugen. In der Beschreibungseinleitung ist sinngemäß ausgeführt, dass bei bekannten Betätigungseinrichtungen ein gänzlich selbständiges Öffnen der Klappe nicht möglich sei oder nur langsam abliefe. Bei anderen bekannten Betätigungen könne durch aufeinander gleitende Teile Abrieb entstehen, dem nur durch Einfetten dieser Teile entgegenzuwirken sei. Dabei bildeten aber sowohl der Abrieb als auch das Fett die Gefahr einer Verschmutzung für im Kofferraum liegende Teile.

Das dem Patent zugrundeliegende und mit der Aufgabe formulierte technische Problem besteht daher darin, eine Kofferraumbetätigung anzugeben, die nach dem Entriegeln ein selbsttätiges Öffnen des Kofferraumdeckels oder der entsprechenden Klappe durchführt, wobei die Öffnungsbewegung schnell erfolgt und eine Verschmutzung durch Abrieb oder Fett vermieden wird.

Dieses Problem wird durch die Betätigung mit den im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmalen gelöst.

3. Die ohne Zweifel gewerblich anwendbare Betätigung nach dem Patentanspruch 1 ist neu.

Aus der nachveröffentlichten Druckschrift DE 197 58 130 A1 ist ein Hubaggregat, insbesondere für einen gegenüber einem ortsfesten Teil um eine Schwenkachse schwenkbaren Deckel, bekannt (Patentanspruch 2). Dieses Hubaggregat kann Anwendung finden z.B. als Betätigung für Heckklappen, Kofferraumdeckel oder Motorraumdeckel von Kraftfahrzeugen (Spalte 1, Zeilen 3-8). Diese Betätigung weist einen Gelenkantrieb 4, 12, 13, einen die Öffnungsbewegung unterstützenden Kraftfederspeicher in Form einer Gasdruckfeder 4 sowie einen Mechanismus 15 zum Verstellen der Wirkrichtung der Gasdruckfeder auf. Weiter ist auch ein Motor 14 vorgesehen, der den Mechanismus derart antreibt, dass ein Anlenkpunkt 7 des Kraftfederspeichers verschoben werden kann (Spalte 2, Zeilen 18-20). Der Anlenkpunkt des Kraftfederspeichers kann auch im geschlossenen Zustand der Klappe verschoben werden. Denn gemäß der DE 197 58 130 A1 wird zum Öffnen der Heckklappe das verschiebbare Lager 12 der Gasdruckfeder aus einer Endlage 16 in eine andere Endlage 17 verfahren (Spalte 2, Zeilen 53-55; 58-60). Dazu ist weiter angegeben, dass dadurch (also durch das Verfahren des Lagers in die andere Endlage) die Gasdruckfeder in die Stellung kommt, in der sie die Heckklappe öffnet (Spalte 2, Zeilen 64-66). Diese Aussage beinhaltet die Möglichkeit, dass die Öffnungsbewegung der Klappe erst bei Erreichen der anderen Endlage 17 durch das Lager 12 eingeleitet wird. Ein Hinweis auf eine derartige Möglichkeit folgt auch aus Spalte 3, Zeilen 37-39, wonach die Bewegung der Klappe bereits beim Verschieben des Lagers erfolgen kann. Demnach ist die gleichzeitige Verschiebung des Lagers und Öffnungs-/Schließbewegung der Klappe nur eine mögliche Arbeitsweise, deren einzige Alternative die nichtgleichzeitige oder aufeinanderfolgende Verschiebung des Lagers und Öffnungs-/Schließbewegung der Klappe ist. Aus dieser Alternative ergibt sich auch ein Totpunkt des Gelenkantriebes nach der DE 197 58 130 A1, wobei dieser als diejenige Stellung von Klappe und Gasdruckfeder anzusehen ist, in der sich das Drehmoment aus Federkraft und zugehörigem Hebelarm um die Schwenkachse 2 und das Drehmoment aus Klappengewichtskraft und dieser zugeordnetem Hebelarm um die Schwenkachse 2 die Waage halten. Allerdings ist bei der aus dieser Druckschrift entnehmbaren Anordnung der Antriebsbauteile in der Ausgangsstellung des Anlenkpunktes stets eine Kraftkomponente in Öffnungsrichtung der geschlossenen Klappe vorhanden.

Demnach unterscheidet sich die Betätigung nach dem geltenden Patentanspruch 1 von der nach der DE 197 58 130 A1 durch die Orientierung des Kraftfederspeichers derart, dass in der Ausgangsstellung eine in Öffnungsrichtung wirkende Kraftkomponente fehlt.

Bei der Vorrichtung zum Öffnen einer Haube eines Kraftfahrzeuges nach dem DE 297 05 372 U1 ist ebenfalls eine Gasdruckfeder 6 mit verschiebbarem Anlenkpunkt als Kraftfederspeicher vorgesehen. Dieser übt allerdings schon in der Schließstellung eine in Öffnungsrichtung wirkende Kraftkomponente auf einen Stellhebel 8 des Gelenkantriebs aus (Seite 3, Zeilen 6-12). Eine Verstellung des haubenseitigen Anlenkpunktes der Gasdruckfeder kann überdies nur bei gleichzeitiger Öffnungsbewegung der Haube erfolgen.

Die Betätigung nach dem geltenden Patentanspruch 1 unterscheidet sich somit von dieser Vorrichtung durch die Verschiebbarkeit des Anlenkpunktes im geschlossenen Zustand der Klappe und durch das Fehlen einer in Öffnungsrichtung wirkenden Kraftkomponente in der Ausgangsstellung des Anlenkpunktes.

Bei den Betätigungsvorrichtungen nach den übrigen Druckschriften DE 297 01 617 U1, DE 195 07 426 A1 und US 4 776 626 A sind Kraftfederspeicher mit verschiebbarem Anlenkpunkt nicht vorgesehen.

4. Die Betätigung nach dem geltenden Patentanspruch 1 beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Als Durchschnittsfachmann nimmt der Senat einen Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau an, der bei einem Kfz-Hersteller/-Zulieferer mit der Konstruktion von Tür-/Klappenbetätigungen befasst ist und auf diesem Gebiet über mehrjährige Berufserfahrung verfügt.

Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit hat die DE 197 58 130 A1 als nachveröffentlichte Druckschrift außer Betracht zu bleiben.

Wie aus den obenstehenden Ausführungen zur Neuheit hervorgeht, ist auch aus keiner der übrigen in Betracht gezogenen Druckschriften entnehmbar, eine Betätigungsvorrichtung mit einem Kraftfederspeicher mit einem verschiebbaren Anlenkpunkt zu versehen und dabei den Kraftfederspeicher derart anzuordnen, dass in der Ausgangsstellung keine Kraftkomponente in Öffnungsrichtung vorliegt.

Folglich kann auch eine wie auch immer geartete Zusammenschau eine Anregung zu der durch den geltenden Patentanspruch 1 gekennzeichneten konstruktiven Gestaltung nicht geben.

Der Senat hat auch kein Indiz dafür sehen können, dass die verteidigte Betätigung für den Durchschnittsfachmann auf der Hand gelegen hätte. Derartiges hat auch die Einsprechende nicht geltend gemacht.

5. Mit der Betätigung nach dem Patentanspruch 1 sind auch die Gegenstände der rückbezogenen Unteransprüche patentfähig, die vorteilhafte Weiterbildungen der Betätigung nach dem Patentanspruch 1 betreffen und zumindest keine Selbstverständlichkeiten darstellen.

Petzold Dr. Fuchs-Wissemann Bork Reinhardt Bb






BPatG:
Beschluss v. 27.06.2005
Az: 9 W (pat) 701/05


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